Amezaiku – japanische Perfektion aus Zucker

Zum Verspeisen fast zu schade: galoppierende Pferde, farbenprächtige Karpfen und feuerspeiende Drachen – zarte Kunstwerke aus Zuckermasse, gezogen vom jungen Künstler Shinri Tezuka.

«Ich möchte einen Schleckstängel, der so aussieht wie mein Hund Jazz.» Shinri Tezuka nimmt das Handy des kleinen Mädchens und schaut sich das Foto des Hundes genau an. «Das ist eine schwierige Aufgabe. Ich muss aus einem Frontbild eine dreidimensionale Figur schaffen», meint Tezuka und runtelt die Stirne. «Ich muss wissen, wie der Hund von der Seite und von hinten aussieht».

Der Schleckstängelmacher nimmt nun sein Handy und sucht nach Bildern der Hunderasse. Sein Blick richtet sich starr auf den kleinen Bildschirm, als ob er die vielen Bilder einscannen und zu einer dreidimensionalen Ansicht zusammenfügen würde. Immer wieder vergleicht er die Eindrücke mit dem Foto von Jazz. Dann legt er plötzlich sein Handy weg und nickt mit einem kräftigen «Ho».

Er öffnet eine Holzkiste und schneidet einen kleinen Klumpen einer fast durchsichtigen Masse ab. «Das ist die Zuckermasse, die ich einige Stunden vorher auf eine Temperatur von 90°C aufheize». Auf die Frage, was alles in der Zuckermasse drin ist, winkt Tezuka ab: «Das ist ein Geheimnis und weiss nur ich». Etwas leiser ergänzt er, dass der Zucker traditionell aus Reis hergestellt wird. «Ich koche das Reismalz mit geheimen Zutaten ein und schaue stets, dass keine Blasen entstehen.»

Shinri Tezuka
Volle Konzentration: der Zuckerkünstler an der Arbeit. (Bild: zvg)

«Ich muss mich nun konzentrieren», sagt er bestimmt und richtet seinen Blick nur noch auf seine Hände. Es scheint, als versinke er in sein Handwerk und nehme die Umgebung nicht mehr wahr. Mit konzentrierter Miene formt er aus dem Zuckerklumpen eine ca. 3 cm grosse Kugel. Diese steckt er auf einen Stängel und beginnt mit seinen Fingern an der Kugel zu ziehen und formen. Die 90°C heisse Zuckermasse scheint ihn nicht zu brennen. «Ich muss mit der Hitze umgehen können und denke nicht an die Schmerzen. Wenn die Süssigkeit abkühlt wird sie hart und glasig.»

Verbrannte Finger gehören zum Beruf und werden als Preis für die Schönheit akzeptiert. Die Geschwindigkeit ist ein notwendiger Teil des Handwerks. «Ich habe etwa fünf Minuten Zeit, aus der heissen Kugel eine Figur zu schaffen.» Sagt's und schon hält er eine grobe Form eines Vierbeiners in seiner Hand. Dann nimmt er eine Schere, zupft und schneidet. «Ich kenne nur einen Schmied, der mir genau diese Qualität von Scheren herstellen kann. Sie muss exakt auf meine Hände angepasst werden. Es ist eine perfekt abgestimmt Verlängerung meiner Finger.»
Das Mädchen, das sehnsüchtig auf seinen Jazz wartet, kann seinen Augen kaum glauben: «Die Finger sind so flink und schnell, dass ich sie kaum sehe». Shinri Tezuka dreht und formt, hält die Figur kurz über einen Gasbrenner, zupft und drückt, schneidet und kratzt. Bis er mit einem «Ho» den fertigen Hund dem Mädchen vor das Gesicht hält und nickt. Sie lacht überglücklich: «Das ist Jazz!». Ganz exklusive Figuren werden anschliessend mit essbaren Farben angemalt.

In Japan gibt es nur noch eine Handvoll Amezaiku-Künstler, die diese Tradition aus dem 8. Jahrhundert noch einigermassen beherrschen. Die meisten sind jedoch alt oder sind nur noch ab und zu mit dem traditionellen Handwerk beschäftigt. «Wenn du nicht jeden Tag übst, verlierst du die Schnelligkeit und die Zuckermasse wird hart. Je schneller und exakter ein Amezaiku-Künstler arbeitet, desto schöner die Figur.»

Die Hochblüte der «Candy Sculptures» war in der Edo Zeit im 17. Jahrhundert. Damals demonstrierten die Amezaiku-Künstler ihr Können als Strassenunterhaltung und verkauften die leckeren Zuckerfiguren an Jung und Alt. Wie bei Shinri Tezuka durfte der Kunde sein Lieblingsmotiv bestellen und zuschauen, wie das gewünschte Kunstwerk im Wettlauf mit der Zeit und unter dem Risiko des Schmerzes entstand. Leider galt das Handwerk als eine Art traditionelle Subkultur, es gibt deshalb auch keine Literatur darüber. Zudem verbot die Regierung in den 1970er-Jahren aus hygienischen Gründen die Herstellung auf der Strasse und zwang viele Amezaiku-Künstler zum Aufhören.

«Ich bin nun seit neun Jahren Tag und Nacht am Üben. Es ist meine Passion, und ein Leben ohne Amezaiku kann ich mir nicht vorstellen.» Dem 29-jährigen Shinri Tezuka ist es auch sehr wichtig, dass dieses Handwerk weiterlebt. «Ich habe eine Aufgabe erhalten und stehe für dieses Handwerk ein.» Sechs Lehrlinge bildet er dazu aus und gibt sein Wissen weiter. «Es ist keine Frage, ob ich kopiert werde oder jemand es einmal besser kann. Wichtiger ist, dass die Tradition des jahrhundertealten Amezaiku-Handwerks weitergeht.» Ein Lehrling muss dazu eine fünfjährige, strenge Ausbildung über sich ergehen lassen.
Shinri Tezuka lernte vor seiner Berufung das Handwerk des Feuerwerkbauers. «Das ist noch komplexer als Amezaiku. Ich musste mir bei der Herstellung immer überlegen, wie es nach der Explosion am Himmel oben aussieht.»

Shinri Tezuka ist in Japan auf dem Weg, ein Star zu werden. Er organisiert Workshops und Veranstaltungen und wird von Konzernen für Werbespots gebucht. «Ich habe drei Geschäfte. Dort verkaufe ich meine Süssigkeiten und demonstriere mein Handwerk.»
Tezuka schaut plötzlich auf sein Handy und wird nervös. «Ich habe eine Nachricht aus Tokyo erhalten. Ein Kunde will einen Karpfen, den nur ich machen kann.» Die Anspannung ist ihm anzusehen. «Ich bleibe noch zwei Tag in der Schweiz und möchte in die Berge. Das ist seit vielen Jahren mein erster Urlaub.»
Diesen Wunsch erfülle ich ihm und begleite ihn auf eine Wanderung in die raue Felslandschaft des Sustengebiets. «Genau das wollte ich sehen. Hier ist es wunderschön.» Das eindrucksvolle Panorama verändert ihn. Es scheint, als liesse ihn das Erlebnis einen kurzen Moment den Karpfen und sein Streben nach handwerklicher Perfektion vergessen.

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Philipp Kuntze, Zeitpunkt-Autor für handwerkliche Themen, ist zum Leiter des Ausbildungszentrums des Freilichtmuseums Ballenberg gewählt worden. In dieser Funktion ist er für rund 300 handwerkliche Kurse verantwortlich.

Zur Weiterführung seines Projektes «World Crafts» wurde am 10. Januar ein Förderverein gegründet (Mitgliedschaftsbeitrag CHF 35.–, Handwerksbetriebe: CHF 75.–.
Die nächsten «World Craft Talks» unter der Leitung von Philipp Kuntze:
26. April 2019: Handwerk Stahlgraveur, mit Knut Schultheiss
17. Mai 2019: Handwerk Filigrantechnik, mit Marion Geissbühler
Jeweils um 18.30 Uhr im House of World Crafts, Galgenfeldweg 9, 3006 Bern
www.world-crafts.org

 

04. April 2019
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