Die Hauptstadt des Informellen

Rund ein Viertel der Bewohner Manilas wohnt in «illegalen» Hütten und arbeitet in ­unregulierten Jobs. Die globale wirtschaft könnte ohne solche Menschen gar nicht mehr ­funktionieren.

Hütten und Jobs jenseits des Rechts: Die Weltwirtschaft ist abhängig von Städten wie Manila. Bild: CEphoto, Uwe Arana

Tokio, London, New York, Paris, Manila: Wenige würden denken, dass Manila einen Platz auf der Liste der führenden Städte des 21. Jahrhunderts innehat oder dass die Hauptstadt der Philippinen einen entscheidenden Knotenpunkt der globalen Wirtschaft darstellt. Dennoch steht Manila unbestritten im Zen­trum eines der wichtigsten städtischen Trends der letzten 50 Jahre: Sie ist die am dichtesten besiedelte Stadt der Welt und wächst weiterhin in aussergewöhnlichem Tempo. Sie ist Kommandozentrale einer der am schnellsten wachsenden Wirtschaften der Welt (nach Angaben der Weltbank 2017 an zehnter Stelle). Filipinos, vor allem die Bewohner von Manila, reisen als Krankenschwestern und Kindermädchen, Bauarbeiter und Matrosen um die ganze Welt. Sie stellen die Massenarbeitskraft, die die globale Dienstleistungswirtschaft am Laufen hält.

In unserer verstädterten Welt sind Manila und einige andere schnell wachsende Grossstädte absolut unerlässlich für das Verständnis, wie globale Städte funktionieren. Manila hat lange als Drehscheibe regionale, koloniale und globale Wirtschaftsformen miteinander verbunden. Die Stadt an der der Manilabucht sitzt an der Mündung des Flusses Pasig; sie liegt tief, ist topografisch ziemlich flach und von Meeresarmen durchzogen. Wegen der Monsune und der tropischen Zyklone müssen Manilesen oft mit verheerenden Überschwemmungen zurechtkommen. Der erstaunlichste Aspekt des Lebens in der Stadt liegt allerdings nicht in ihren physikalischen Eigenschaften, sondern vielmehr im rechtlichen Status der Gemeinschaften, die entlang dieser Wasserwege leben. Für ihre fast zwei Millionen Einwohner ist «Informalität» ein alles umfassender und prägender Faktor des Alltags in der Hauptstadt geworden.

Der Begriff «Informalität» wird manchmal auf eine Peripherie oder einen ausgegrenzten Bereich bezogen, aber es ist genauer, ihn einfach als die Abwesenheit von Kontrolle, Verwaltung oder Kenntnis durch die Regierung zu definieren. Eine Stadt kann überwiegend informell sein, wenn sie blühende Schwarzmärkte sowie unregulierte Arbeit und Wohnsituationen aufweist. Informalität muss nicht unbedingt in den Randbezirken des täglichen Lebens in Erscheinung treten. In Manila ist sie allgegenwärtig; statistische Daten werden sehr unregelmässig erfasst und variieren stark. Die Regierung schätzte im Jahre 2010, dass rund einer von fünf Bewohnern der Metropole in Unterkünften lebt, über die der Regierung nur wenig bekannt ist und auf die sie wenig Einfluss hat. Diese Zahl ist höchstwahrscheinlich gestiegen.

Informalität ermöglicht den Arbeitern, von geringen Einkünften zu leben. Sie stellt Wohnraum zur Verfügung, wo der formale Markt scheitert.

Das aktuelle «Informal City Project» der Rockefeller-Stiftung bietet ebenfalls einige Schätzungen an. Nach einem unlängst erschienenen Bericht arbeiten 40 bis 80 Prozent der Filipino-Bevölkerung in der informellen Wirtschaft. Informelle Siedlungen tauchen überall auf, selbstgebaute Gebäude säumen die Wasserwege und füllen fast jeden verfügbaren Platz in der Stadt, informelle Ansiedler arbeiten in scheinbar jedem Bereich der städtischen Wirtschaft.

Selbst ein flüchtiger Blick auf Manila und andere aufschiessende globale Städte zeigt, dass das Funktionieren der städtischen Wirtschaft von der Informalität abhängt. Sie ermöglicht den Arbeitern, von geringen Einkünften zu leben. Sie stellt Wohnraum zur Verfügung, wo der formale Markt scheitert. Trotz oder vielleicht wegen ihres mageren Verdienstes ist die Rolle dieser Arbeiter im Dienstleistungssektor alles andere als geringfügig. Ein Schuster baut einen Stand am Strassenrand auf, wo er die Schuhe von Menschen flickt, die wiederum Investoren auf Besuch und örtliche Geschäftsleute in Restaurants bedienen. Arbeiter schlafen in informellen Siedlungen, bevor sie aufstehen, um die Jeepneys (dienen als öffentlicher Nahverkehr) zu fahren, die junge Männer und Frauen günstig in die Callcenter nach Makati befördern. Hier beantworten sie Fragen und Beschwerden der Kunden von globalen Firmen mit Hauptsitz in New York, London oder sonstwo. Alles für kleines Geld. Informalität schafft das Fundament für lokale und globale Profite.

Manila hilft uns zu verstehen, wie sich Informalität zum vorherrschenden Lebensstil in etlichen Grossstädten und zu einer wesentlichen Komponente der globalen Wirtschaft auswuchs. Nach dem Zweiten Weltkrieg strömten arme Migranten vom Land nach Manila, wo sie Arbeit und Essen suchten. Für diese verzweifelten Neuankömmlinge waren die Rechte der Bodennutzung viel wichtiger als Grundbücher. Sie bauten ihre Unterkünfte auf ungenutztem Land in der Stadt, entweder entlang der Eisenbahnschienen, auf Pfählen im Wasser oder unter Brücken, und entwickelten so ein Bewusstsein für Besitz, der das Recht, ihre Behausungen zu vermieten oder unterzuvermieten, mit einschloss.

Entwicklungstechnokraten versichern, dass die Förderung einer Klasse von Grundbesitzern auch eine Klasse von Bürgern bedeutet, die an politischer Stabilität interessiert ist.

Viele haben letztendlich ihre Häuser nahe oder direkt in der Manilabucht im nördlichen Viertel Tondo gebaut – anfangs der 1970er eine Gemeinschaft von etwa 180 000 Einwohnern. Diese Ansässigen haben nie geleugnet, dass ihre Landrechte von der Regierung nicht anerkannt waren. Aber sie hatten dennoch ein Gefühl von Eigentum, das in einer Erklärung der «Zone One Tondo Organisation» 1973 über die Gründe der Bewohner, in Heimen ohne Wasser und Strom zu bleiben, ausgedrückt wird: «Die Leute leben lieber in einer winzigen Hütte, die ihnen gehört, als dass sie eine Wohnung mieten.»

Der frühere Präsident Ferdinand Marcos begriff Informalität. Er verstand die Ansprüche der Zugezogenen auf Besitzrechte; tatsächlich hat er aber versucht, die politische Macht der Bewohner Tondos zu neutralisieren, indem er Informalität als Gegenpart zu offiziellen, staatlich regulierten Bauplätzen definierte. 1975 erliess er ein Dekret, in dem «illegale Siedler» und «Landbesetzungen» als «schändliche» Taten, auf die Freiheitsstrafe und/oder Bussgeld stand, kriminalisiert wurden. Auf diese Weise vollzog die philippinische Regierung eine eindeutige rechtliche Zweiteilung: formell gegen informell, legitim gegen besetzt. Sie tat es im Bestreben, die Macht des Staates zu stärken, während sie gleichzeitig die politische Macht der armen Leute untergrub, die sich der herrschenden Klasse entgegenstellen könnte. So hat der Staat die Informalität geschaffen.

Die philippinische Regierung steht nicht allein da, wenn es darum geht, eine Kluft zwischen formell und informell zu reissen. Regierungen überall auf der Welt machen das ebenso – aus geschichtlichen und politischen Gründen. Internationale Berater raten sogenannten «Entwicklungsländern», es so zu machen. Diese wohlmeinenden Technokraten, Planer, Siedlungsexperten und Entwicklungsfachleute empfinden die Art und das Tempo der Urbanisierung in diesen Städten als wild und konfus. Also drängen sie die Regierungen, Ordnung durch die Einsetzung von massiven Vermessungs- und Landvergabeprogrammen herzustellen. Reglementierte Aufzeichnungen würden globale Investitionen ermöglichen. Westlichen Entwicklungsexperten erscheint dies als Ordnung, Fortschritt, Modernität.

Entwicklungstechnokraten versichern den Regierungen, dass die Förderung einer Klasse von Grundbesitzern auch eine Klasse von Bürgern bedeutet, die an politischer Stabilität interessiert ist. Ihre Botschaft von Stabilität spricht Regierungen an, die um ihre eigene Sicherheit besorgt sind. Manilas Stadträte beispielsweise haben wiederholt Rat von William Levitt erbeten, einem US-amerikanischen Bauträger, der 1948 scherzte: «Kein Mann, der sein eigenes Haus und Grundstück besitzt, kann ein Kommunist sein. Er hat zu viel zu tun.»
Menschen, die in diesen Gebieten leben und arbeiten, müssen sich seit Jahrzehnten gegen Versuche behaupten, ihre ökonomische Leistung in die Illegalität zu drängen und sie politisch zu schwächen. Informelle Bewohner haben keine Illusionen, was ihre soziale Ausgrenzung in der globalen Grossstadt anbelangt. «Die denken, wir sind Müll», bemerkte ein Taxifahrer und Tondo-Bewohner bitter. Und fügte dann lachend hinzu: «Ausser, es steht gerade eine Wahl an.»  

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Nancy Kwak ist Privatdozentin für Geschichte an der Universität von San Diego. Sie ist Autorin von «A World of Homeowners: American Power and the Politics of Housing Aid» (2015). Der Text erschien erstmals auf der Website www.aeon.co

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