Ich habe genug. Genug von den anscheinend unlösbaren Problemen, dem Medienzirkus, den immer wieder neuen Feinden, den Dingen, die man zur Rettung des Planeten tun und die man lassen muss, den Ablenkungen auf Bildschirmen und Events – und überhaupt. Ich mag nicht mehr hinhören, selbst wenn meine eigene Meinung bestätigt wird.
Warum scheint es so schwierig geworden zu sein, ein friedliches und genügsames Leben zu führen? Hier eine elektronische Petition, dort ein Crowdfunding, Weltuntergangswarnungen, Heilsversprechen, Aufrufe – alles muss anders werden, damit es gut ist. Das stimmt vielleicht ein bisschen, aber es stimmt auch nicht, wie ich letzthin am eigenen Leib erfahren durfte. Deshalb möchte ich ausnahmsweise einmal nicht auf den Grossmäulern, Wahrheitsverdrehern und Kriegstreibern dieser Welt herumhacken, sondern von einem guten Tag erzählen.

Der Tag begann einfach: Ich beschloss, nichts zu unternehmen, obwohl noch genügend Aufgaben da waren, mit denen ich mich auch an einem Sonntag hätte beschäftigen dürfen. Nichts tun, wie die Juden am Sabbat; nur sein, den Kopf leer halten und frei bleiben, einer Inspiration zu folgen – oder auch nicht. Der Tag plätscherte dahin wie ein sorgloses Bächlein, vom Frühstück unterm Pflaumenbaum zur Lektüre unter der Buche. Dann die Rosen bewundern, Triebe hochbinden, verwelkte Blüten wegschneiden. Dann wieder Halbschatten, Kaffee und Kuchen mit Freunden auf Spontanbesuch und ein bisschen Jäten, weil es wegen des Regens in der Nacht vorher so leicht ging, dass es das reinste Vergnügen war. Gegen Abend dann doch noch ein bisschen Pflicht: die gestern angesetzte Limonade in Flaschen abfüllen und im Keller ins Gestell legen. Und schliesslich der unerwartete Lohn, die plötzliche unspektakuläre Erkenntnis: Das war ein Tag ganz bei mir, immer zuhause. Ich erinnere mich nicht, wann ich zum letzten Mal – einen allfälligen Krankheitstag ausgenommen – den Tag am selben Ort beendete, an dem ich aufgewacht bin, ohne mich dazwischen von Haus und Garten zu entfernen oder ins weltweite Netz abzuschweifen. Aber es werden gute, zeitlose Tage gewesen sein, ohne Verlangen und ohne Pflicht. Nur Hier und Jetzt.

Natürlich kann, wer einem Gelderwerb nachgehen muss, werktags nicht unter einem Baum sitzen, dem Summen der Insekten lauschen und dem endlosen Strom der Zeit zuschauen. Aber ein bisschen mehr Nähe sollte möglich sein. Klar: Der weit entfernte Job ist vielleicht bedeutender, interessanter und besser bezahlt. Aber er findet in einer anderen Welt mit anderen Freunden statt. Und irgendeinmal muss man sich entscheiden, ob man wirklich zwei Leben führen möchte: ein Leben A, wo man wohnt und auch wirklich leben möchte und ein Leben B, wo man arbeitet und bestenfalls zur Hälfte leben kann.  Weil die Entscheidung so schwierig ist, wird sie den meisten Menschen von der Sozialversicherung abgenommen: Ab 65 gibt es dann nur noch ein Leben, in dem man dann hoffentlich genügend Zeit hat, das Verpasste nachzuholen.

Die Distanz zwischen Wohn- und Arbeitsort ist also von entscheidender Bedeutung. Wie gross darf sie sein? «Pantoffeldistanz» heisst das Mass des guten Lebens, innerhalb der 80 Prozent des Lebenswichtigen erreichbar sein sollten: Beschäftigung, Versorgung, Gesellschaft, Unterhaltung und Rückzug. «Pantoffeldistanz» ist ein Begriff des Kultautors Hans Widmer, der unter dem Pseudonym P.M. das hohe Lied der lebendigen Nachbarschaften in die Welt hinausgetragen hat. Seine neuste Publikation dazu trägt den Titel «Das Buch NUR» und beginnt mit diesen wunderbaren Worten:
nur ein Planet
nur tausend Watt
nur miteinander
nur 35 m2
nur Füsse, Velo, Bus, Bahn und Schiff
nur 80 m
nur 18 kg
nur 4 Sterne
nur 20 Stunden
nur mit der Ruhe
nur keine Angst.

Es gibt bereits ein paar beispielhafte Siedlungen in der Schweiz, in der die Pantoffeldistanz verwirklicht ist. Die meisten werden den Radius einstweilen etwas weiter ziehen müssen: Muskelkraft. Das entspricht einem täglichen Weg mit dem Fahrrad von vielleicht drei bis fünf Kilometer; wenn man das e-Bike zulässt, das Doppelte. Wenn Sie Ihren Pendlerweg auf diese Länge reduzieren können, haben Sie statistisch gesehen gute Chancen, glücklicher zu werden. Denn Velofahrer sind am glücklichsten, sagt die Pendlerforschung, die – typisch für unsere Zeit – nicht einmal mehr nach den Fussgängern fragt.
Seit ich den eingangs erwähnten guten Tag bewusst erleben durfte, wähle ich für meinen Weg zur Arbeit einen kleinen Umweg durch die Natur. Und es kommt nicht selten vor – heute dreimal –, dass sich Fussgänger und Velofahrer grüssen. Guten Tag!

 

 

03. September 2017
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