Wie wird unser Leben aussehen, wenn eine kleine Elite gottgleicher Übermenschen die Geschicke der Welt lenkt? Yuval Noah Harari, ein vielbeachteter israelischer Wissenschaftler hat ein verstörendes Szenario entwickelt.

Yiúval Harari (Bild: zvg)

Eines steht fest: Die Prognosen von Yuval Noah Harari werden unseren Blick auf die Zukunft nachhaltig verändern. Was im ersten Moment wie eine Mischung aus Nietzsche und Science-Fiction-Kino klingt, erläutert der Historiker und Zukunftsforscher in seinem neuen Buch nachvollziehbar und faszinierend. Darin sinniert er über die vergangene sowie die zukünftige Evolution des Menschen und sagt unter anderem einen neuen Übermenschen voraus, der die nicht optimierte Masse beherrschen wird. Zugleich werden komplexe Systeme mithilfe von Algorithmen unser Leben steuern und uns immer mehr Aufgaben abnehmen. Doch das ist noch lange nicht alles. Seine zentrale Frage lautet: Wonach wird die Menschheit als nächstes streben?

«Wir leben in einem Zeitalter, in dem die Menschen gehackt werden.» Der 1976 geborene Harari ist Professor an der Universität Jerusalem und beschäftigt sich mit den Forschungsgebieten Weltgeschichte, Mediavistik und Militärgeschichte. In seinem Bestseller aus dem Jahr 2015, «Eine kurze Geschichte der Menschheit», erklärte Harari, wie unsere Spezies die Erde erobern konnte. Im neuen Buch «Homo Deus» öffnet er das Tor in die Zukunft und führt den Leser nicht in irgendeine Fiktion, sondern in eine völlig realistische Vision. Dabei formuliert er die entscheidenden Fragen, die sich eines Tages stellen werden und mit denen wir uns zwangsläufig befassen müssen: Was wird mit uns und unserem Planeten passieren, wenn die neuen Technologien dem Menschen gottgleiche Fähigkeiten verleihen, die das Leben auf eine völlig neue Stufe der Evolution heben? Wie wird es dem Homo sapiens ergehen, wenn er einen technikverstärkten Homo deus erschafft? Was bleibt von uns und der modernen Religion des Humanismus, wenn wir Maschinen konstruieren, die alles deutlich besser können als ihre Vorfahren?

Brillant zeichnet Harari die rasante Evolution des Menschen nach und greift dabei prägnante Ereignisse exemplarisch heraus. Sein Buch gliedert sich in drei chronologisch aufeinander aufbauende Teile, die im Groben den Aufbau unserer aussergewöhnlichen Zivilisation, ihre rasante Entwicklung und die daraus entstehenden grossen Veränderungen beschreiben. Anhand von Beispielen aus Forschung, Wirtschaft und Gesellschaft erläutert er die Zusammenhänge und untermauert seine Thesen. Dabei stützt er sich auf zahlreiche wissenschaftliche Erkenntnisse und veranschaulicht seine Theoreme durch reale Fakten wie den Sieg des Schachcomputers Deep Blue über den damaligen Weltmeister Garri Kasparow oder den Siegeszug von Selbstoptimierungs-Apps in unseren Tagen.

«Dank Computern und Biotechnologie wird sich der Unterschied zwischen Fiktion und Wirklichkeit auflösen.» Im Zentrum des letzten und interessantesten Teils «Homo sapiens verliert die Kontrolle» stehen drei bahnbrechende Thesen:
1.    Die Menschen werden ihren wirtschaftlichen und militärischen Nutzen verlieren, weshalb das ökonomische und das politische System ihnen nicht mehr viel Wert beimessen werden.
2.    Das System wird die Menschen weiterhin als Kollektiv wertschätzen, nicht aber als einzigartige Individuen.
3.    Das System wird nach wie vor einige einzigartige Individuen wertschätzen, aber dabei wird es sich um eine neue Elite optimierter Übermenschen und nicht mehr um die Masse der Bevölkerung handeln.
Das heisst, anders gesagt, Menschen können sich in Zukunft nicht mehr durch ihren Wert als Arbeitskraft auszeichnen. Durch Individualität und Genialität werden nur noch ganz wenige «optimierte Versionen» bestechen. Der Rest droht zu einer gesichts- und nutzlosen ­Masse Untermenschen zu verkommen, die nicht gebraucht wird. Eine sehr wahrscheinliche Auswirkung wird die Entfremdung der beiden unterschiedlichen Menschentypen sein. Wenn keine gemeinsame Wahrnehmung und Auslegung von Vorgängen mehr gegeben ist, entfernen sich die Erfahrungen beider Seiten voneinander – bis zum völligen Unverständnis.

Und was, wenn sich Übermenschen irgendwann bei Romanen über die Erfahrungen ganz gewöhnlicher Homo sapiens zu Tode langweilen, während ganz gewöhnliche Menschen Seifenopern über die Liebesaffären der Übermenschen vollkommen unverständlich finden? Harari beschreibt ganz konkret die Gefahr, dass die kleine Oberschicht die riesige Unterschicht mithilfe von Technik und biologischer Überlegenheit unterdrückt: «Die neuen Projekte des 21. Jahrhunderts – das Streben nach Unsterblichkeit, Glück und Göttlichkeit – hoffen ebenfalls darauf, der gesamten Menschheit zu dienen. Doch weil diese Projekte darauf ausgerichtet sind, die Norm zu überwinden, statt sie zu sichern, könnten sie durchaus zur Entstehung einer neuen Kaste von Übermenschen führen, die ihre liberalen Wurzeln kappen und normale Menschen nicht viel besser behandeln wird als die Europäer des 19. Jahrhunderts die Afrikaner.»

«Die Geschichte begann, als die Menschen Götter erfanden, und wird enden, wenn die Menschen zu Göttern werden.» Ebenso nüchtern stellt Harari die Voraussagen des Visionärs Ray Kurzweil auf eine wissenschaftliche Grundlage. Der Softwareentwickler aus dem Silicon Valley hatte eine von Algorithmen und komplexen Systemen beherrschte Welt vorhergesagt und tritt seit jeher radikal für einen freien Fluss der Informationen ein. Die dahinterstehende Bewegung, den Dataismus, bezeichnet Harari als Religion und beschreibt, wie eine Welt nach ihrem Ideal aussehen könnte: eine Sehnsucht nach unbegrenztem Austausch von Informationen zwischen Menschen, Tieren, Pflanzen, allen Arten von Maschinen, Messgeräten, Sonden, die in einem einzigen riesigen Netzwerk gipfelt. Das geht bis zum Verschwinden des Homo sapiens, von dem zu guter Letzt nur dessen Beitrag zum sogenannten Internet der Dinge bleibt, das sich über das gesamte Universum ausbreiten und intelligente Biomasse ebenso wie Maschinen miteinander verbinden wird. Eine zumindest nicht ganz abwegige These, die die rasante technische Entwicklung und die Jünger des freien Informationsflusses am Horizont entstehen lassen.
Diese und weitere Prognosen stellt Harari kühl und fast ohne Wertung zur Schau. Aus diesen Visionen verschiedener Gesellschaftsbereiche hat er einen berauschenden Text gewebt, der im besten Sinne unterhaltend, aber gleichzeitig sehr schockierend ist. Wie Harari seiner Zeit voraus ist und all diese bahnbrechenden sozialen Veränderungen mit wissenschaftlichen Erkenntnissen begründet, lässt einen staunend und grübelnd zurück.

Eine Vision, die Anfang und Ende der Evolution beschreiben möchte, kommt naturgemäss an die Grenzen unserer Vorstellung und geht früher oder später ins Metaphysische über. Vor dieser Grenze beendet Harari den Ausflug in die Zukunft und überlässt es Predigern, Mystikern, Wissenschaftlern oder Politikern, die Dinge im Rahmen ihrer jeweiligen Möglichkeiten zu lenken. Seine mahnenden Denkanstösse zum Schluss scheinen angesichts des auf über 500 Seiten beschriebenen Zukunftsszenarios nur allzu berechtigt.        

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Yuval Noah Harari: Homo Deus – eine Geschichte von Morgen. C.H.Beck, 2017, 576 S., CHF 36,90/EUR 24,95