Die Biologin Agnes Mortensen ist überzeugt: Algen werden uns retten. Und die besten Algen wachsen bei ihr zuhause, auf den Färöer Inseln.

Dr. Agnes Mortensen, Meeresbiologin, spezialisiert auf Algen. (Bild: Andrea Jeska)

Algen können alles

Am Tag, als Agnes Mol Mortensen in Tjørnuvík mal wieder Himanthalia elongata, grüne Algenspaghetti, ernten will, scheint die Sonne zum ersten Mal im Jahr so warm, dass man auf den Färöer Inseln, Mortensens Heimat, begeistert den Beginn des Sommers preist. Die Temperaturen klettern im Laufe des Tages auf 10 Grad und das ist mitten im Nordatlantik eine Art Hitzewelle.
Agnes Mortensen ist drahtig und mit kantigen Gesichtszügen, rötlichen Haaren und blauen Augen. Dazu ist sie unerschrocken und ein wenig stur, beides muss sie wohl sein. Nicht nur als Bewohnerin eines atlantischen Archipels; auch als jemand, der sich einer Leidenschaft verschreibt, die aussergewöhnlich ist: den Algen. Wo der Laie nur grünes, rotes oder braunes Wasserunkraut sieht, sieht Mortensen Schönheit und Vollendung. Und wo der Laie nur Fischiges schmeckt, schmeckt Mortensen die Zukunft.  

Schon immer umschwammen Algen die Färöer Inseln, mehr als 300 Arten gibt es dort, doch niemand interessierte es. Bis Agnes Mol Mortensen 2011 mit einem Doktortitel in Mikroalgentechnologie, Fachgebiet Alaria esculenta, Flügeltang, aus den USA zurück auf die Färöer kam und beschloss, diesen fast unerschöpflichen Rohstoff zu ernten, zu züchten, immer weiter zu erforschen und zu Produkten zu verarbeiten.

Es war die richtige Zeit für diesen Plan. Die Welt begriff, dass Nahrung, Energie und saubere Luft begrenzte Ressourcen sind und man Alternativen zu fast ausgebeuteten Rohstoffen braucht. Algen besitzen kraftvolle Eigenschaften: Sie erzeugen Sauerstoff, können die Luft reinigen, dem Klimawandel vorbeugen, Biogas und Bioethanol erzeugen, Krankheiten verhindern, Falten mindern.

Die Leidenschaft des Teenagers

Mortensen und ihre Familie leben in Syðrugøta, ein Ort mit ein paar hundert Einwohnern, die in hölzernen Häusern rund um eine der vielen hundert Buchten des Achipels leben. Im Mortensenschen Haus herrscht eine wunderbare Unordnung aus Büchern, Sammelsurium, Vintage Möbeln – und etlichen Dosen mit Algenproben, die die Räume nach Meer und Fisch riechen lassen. Aber so riecht es eigentlich überall auf den Färöern, dieser zu Dänemark gehörenden, weitgehend autonomen Inselgruppe mitten im Atlantik, irgendwo zwischen den Shetland Inseln und Island. 18 mit Moos und Gras bewachsene Felsen, 240 Schären, 50 000 Bewohner, keine Bäume, Fernsehanschluss seit den 1990ern. 62 000 Schafe, die auf den Strassen der Insel das Tempo vorgeben.
Mortensens Leidenschaft für Algen begann im Teenageralter. Vielleicht, weil sie auf Suðuroy aufwuchs, der südlichen aller Färöer-Inseln, erreichbar nur mit Boot oder Helikopter, noch ferner der Welt als der Rest der Färöer. Dort, in dem Ort Sandvik, 55 Bewohner, verbrachte sie eine freundliche Kindheit mit zwei Brüdern. Sandvik wird zwar bereits im ältesten Geschichtsbuch der Färöer erwähnt, weil am Strand der Wikingerhäuptling Sigmundur Brestisson von einem Bauern erschlagen wurde und im Mittelalter die Pest alle Bewohner dahinraffte, doch in Mortensens Kindertagen geschah dort nur wenig. Während Agnes’ zwei Jahre älterer Bruder Morten auf dem Meeresboden herumschwamm und nach Wasserpflanzen und Seeigeln tauchte, sass sie auf Felsen und sah zu, wie das Licht durch die Algen schien und die Wellen sie ent- und wieder zusammen falteten. Schon da wusste sie, dass sie die Leidenschaft ihres Lebens entdeckt hatte.
Mortensens Zeitfenster für die Ernte der Algenspaghetti beträgt eine gute Stunde. Nur solange zieht sich das Wasser in der Bucht von Tjørnuvík zurück und gibt die glitschigen Felsen frei. Mit ihrem Messer, Marke Kartoffelschälmesser, trennt sie die Algen so ab, dass sie die Wurzel nicht beschädigt. Drei Wochen, und sie werden wieder nachgewachsen sein. Dabei ist sie bemüht, festen Halt auf den Felsen zu finden. Dutzende Male ist ihr das schon misslungen, ist sie mit einem Platsch im Atlantik gelandet.

Meeresspaghetti und Algenbier

Als Mortensen zurückkam auf die Inseln, hatte sie erst wenig Hoffnung, weiter forschen zu können, plante, als Grundschullehrerin zu arbeiten. Doch dann fand sie einen Job als Wissenschaftlerin in einem Institut für Fischzucht, wo man ihre Kenntnisse brauchte. Dort erforscht sie seither, wie sich Algen für die Fischzüchtung einsetzen lassen. Als Dünger und gegen Krankheiten etwa. Nebenbei fuhr sie die Buchten ab und suchte nach Algenarten, aus denen sich etwas machen liess. Was genau, das wusste sie damals noch nicht. «Da sind wir noch nicht», ist der am häufigsten benutzte Satz, wenn Mortensen über ihre Zukunftspläne spricht.
2016 gründete sie gemeinsam mit Morten eine eigene Firma. Tari, das ist das färöische Wort für Alge. Sie nutzte die Erkenntnisse ihrer Forschung, um mit fünf Algenarten zu experimentieren. Aus den Meeresspaghetti liessen sich, getrocknet, Snacks herstellen, und aus dem Extrakt anderer Algen Zusätze für Bier. Gerade hat Mortensen einen Vertrag mit einer Brauerei in Arizona abgeschlossen und mit dem Souvenirshop am Flughafen, die die Meeresspaghetti-Snacks anbieten werden. Doch das ist nicht das Ziel. Mortensen will Algen züchten, ganze Plantagen sollen im Meer entstehen. Und sie will die wichtigen Stoffe herausfiltern, dazu muss es ihr gelingen, die Moleküle zu extrahieren. Dann ist vieles möglich. «Nahrungszusatzstoffe, Tabletten, mit denen man Mangelernährung bekämpft, Biosprit, Öl, Dünger, Futter für eine gesunde Fischindustrie. Aber dafür muss das Rohmaterial beste Qualität sein.»
«Da sind wir noch nicht», heisst daher, erst kommt die Forschung, dann der Umsatz. «Hersteller von minderwertigen Algenprodukten gibt es genug», sagt Mortensen und ihre kantigen Gesichtszüge werden noch einen Deut kantiger. Sie will sich nicht drängen lassen, will auch keine Investoren, keine Grosshändler. Denn immerhin, sagt sie, werden ihre Produkte eines Tages nicht nur ihr Aushängeschild sein, sondern auch das der Inseln.

Am Anfang, als sich herumsprach, dass Agnes Mortensen mit Algen Geld machen will und darin auch die Zukunft der Färöer sieht, haben die Leute geschmunzelt. Die Männer, sagt Mortensen, fanden es niedlich, diese schmale Frau, die auf den Felsen herumturnte und behauptete, man könne Algen essen. Hauptsache, sie ertrinkt nicht mal bei diesem Unsinn. Die Frauen runzelten die Stirn, vor allem, als Mortensen Kinder bekam und dennoch nicht zuhause blieb. «Bei uns ist man da noch sehr konservativ», sagt sie.
Inzwischen hat Mortensen sich Anerkennung erworben: als Spezialistin, aber auch als Repräsentantin ihrer Inseln. Diese würden gern von Dänemark unabhängig sein, zumindest will das die Hälfte der Färöer so, und dafür braucht es eine gute wirtschaftliche Basis. Doch der Fischfang, die Haupteinnahmequelle der Färöer, ist im Niedergang, der weltweit kritisierte Walfang hoffentlich eine aussterbende Tradition – und Industrie gibt es so gut wie keine. Die Algen und alles, was man mit ihnen produzieren kann, sind da geradezu ein Lichtblick.

Ernten im Meer

Am anderen Tag ist es Zeit, mal wieder nach den Mortensen’schen Zuchtalgen zu schauen und Wasserproben zu nehmen. Im Kaldbaksfjord, nicht weit von der Hauptstadt Tórshavn, haben die Geschwister ihre erste Algenzuchtanlage. Saccharina latissima, Zuckertang, und Alaria esaculenta, Flügeltang, wachsen dort, aber auch Vertebrata lanosa, aus der sich die teuren Algentrüffel herstellen lassen. Zwei Jahre lang haben sie experimentiert, an welchen Seilen welche Sporen am besten gedeihen. Dann haben sie die Leinen ins Wasser gehängt und an Bojen befestigt. Die erste Ernte im letzten Sommer war gut; wenn auch diese gut wird, wollen sie künftig noch Palmaria palmata, den rostroten Lappentang, anbauen.  
Mortensen lenkt das quietschrote Gummischnellboot mit wehendem Zopf durch die Gischt und sieht nun wirklich aus wie eine Wikinger-Nachfahrin. Dabei redet sie so begeistert über Algen wie andere Leute über ihre Kinder oder Hunde. Welche Bedingungen sie brauchen, um perfekt zu sein. Sie könnte schneller vorankommen, klagt sie, wenn sie nicht noch ihren Brotjob hätte. «Ich bräuchte Zeit, so viel mehr Zeit.»
In letzter Zeit hat Mortensen oft den Wunsch, zurück nach Suðuroy zu ziehen. Aus Heimweh, zum einen. Weil ihre Mutter älter wird, zum anderen. Und weil sie für das Wachsen von Tari Platz braucht: um die Algen zu lagern, zu trocknen, zu verpacken, an ihnen zu forschen und ihre Sporen an Seilen ins Meer zu hängen. Platz kostet auf der Hauptinsel viel Geld, auf Suðuroy nicht. Auch Morten käme wohl mit, und für die Kinder wäre es ohnehin das Paradies, sagt sie. Nur Solárn, ihr Ehemann, weiss von diesen Plänen nichts, und bevor sie ihm die beichtet, muss sie Tari soweit gebracht haben, dass auch er davon leben kann. «Da sind wir noch nicht. Aber ich weiss, in spätestens drei Jahren werden wir da sein.»