Ist Zensur das probate Mittel zur Trennung von Richtig und Falsch? Wie weit sollen oder können prohibitive Massnahmen helfen, uns «auf dem richtigen Pfad» zu halten? Oder ist Zensur grundsätzlich ein Schritt in die falsche Richtung?

Illustration: Aditi Desai

Toxische Substanzen sind seit jeher ein Thema. Gifte bringen Prozesse aus dem Gleichgewicht, sind in geringen Mengen aber auch Impulsgeber. Die Destabilisierung kann gewollt sein – viele Arzneimittel arbeiten so, regen eine Reaktion an und erzeugen so eine Selbstheilung. Diese Form der Anregung oder Störung gibt es auch im geistigen Bereich.

Der Umgang mit toxischen Informationen hat viel mit unseren Abwehrkräften zu tun. Muss man davon ausgehen, dass wir uns nur schlecht wehren oder erholen können, ist eine Vermeidung des Kontaktes angezeigt. Aber auch diese Einschätzung kann sich wandeln. Mit Darstellungen von Nacktheit zum Beispiel – vor Kurzem noch gebannt – haben wir heute einen recht entspannten Umgang. Das Abbilden eines erigierten Penis im nichtmedizinischen Kontext aber ist weiterhin heikel. Der gleiche Phallus findet jedoch in einem fernöstlichen Altar problemlos seinen Platz und gilt als Symbol männlicher Kraft.

Angriffe wirken in zwei Schritten: Eine erste Botschaft destabilisiert, indem sie Angst schürt. Eine zweite bietet Lösungen an. Die Kombination ist toxisch.

Falschmeldungen sind in den sozialen Medien derzeit eine boomende Spielart toxischer Substanzen. Gezielt werden labile Menschen beeinflusst. Das geschieht zwar auch in der Werbung für Kosmetik oder Autoreifen, doch scheinen uns dort die Folgen weniger gravierend. Wenn es aber um politische oder gar seelische Beeinflussung geht, ist der Fall heikler. Dabei wirken diese Angriffe oft in zwei Schritten: Eine erste Botschaft destabilisiert, indem sie Angst schürt. Eine zweite bietet Lösungen gegen diese Angst an. Die Kombination ist toxisch: Menschen verlieren ihre innere Sicherheit und werden empfänglich für Rezepte gegen diese Angst. Der Angriff zielt auf ihre Mitte. Der Mensch wird manipuliert, instrumentalisiert, radikalisiert.

Es wäre zu einfach, die Schuld alleine toxischen Inhalten zu geben, die immer in einer Gesellschaft kursieren. Die Frage ist vielmehr: Warum ist die Gesellschaft diesen Botschaften ausgeliefert bzw. kann ihnen keine ausreichend kritische Haltung entgegensetzen? Diese Fragestellung zielt auf die moralische Grundnahrung einer Gesellschaft. Wenn junge Männer keine echten Vorbilder mehr finden, bedienen sie sich bei den Fussballhelden, Popstars oder Hasspredigern. In allen Fällen scheint eine Disposition zu wachsen, sich mit dem Künstlichen zufriedenzugeben, nachdem das Echte nicht mehr verfügbar ist. Eine starke innere Mitte aber braucht echte Nahrung.
Der Umgang mit toxischen Inhalten berührt zwei Fragetypen:
a) Wie weit bietet die Gesellschaft eine Grundlage, sich gegenüber einseitigen Inhalten abzugrenzen oder sie als solche zu erkennen?
b) Wie weit sollen wir den Umgang mit solchen Inhalten reglementieren, damit der Kontakt reduziert oder begleitet wird?
Bei beiden Fragen ist klar, dass wir nicht von einer «kompletten Hygiene» ausgehen können. Gerade das Internet macht die Gesellschaft transparent, aber auch verletzlich. Das «Infektionsrisiko» mit unterschiedlichsten Inhalten von Hass bis Porno ist enorm angestiegen. Gefordert sind daher Abwehrkräfte, die uns zurück in die Mitte bringen. Diese Diskussion ist nicht neu. In den 1970er-Jahren ging es um den Umgang mit den Massenmedien Fernsehen und Film, die Kinderzimmer und Stuben eroberten. Damals hiess der Weckruf von Neil Postman «Wir amüsieren uns zu Tode». Heute müsste es vielleicht heissen: «Wir informieren uns zu Tode».

Doch auch die Dramatisierung von Fake News ist heikel. Sie dient oft verborgenen Interessen. Das offene Internet ist vielen Kreisen ein Dorn im Auge. Das anarchistische Grundkonzept dieses Mediums juckt nicht nur totalitären Staaten wie China oder der Türkei in der Nase. Auch andere Kreise favorisieren einen geregelten Umgang mit Inhalten, weil man «weiss», was gut für das Volk ist. Diese Form von Zensur entzieht den Menschen die Möglichkeit der Orientierung und öffnet damit das Feld für Desinformation. Die Zensur ist also ebenso Basis für Schutz wie für Missbrauch. Man kann Menschen unter dem Vorwand der allgemeinen Moral von der eigenen abzubringen versuchen. Dahinter steht das Kalkül des unmündigen Volkes – ein altes Motiv.

Ein moderner Zensurbegriff muss von einer Befähigung der Menschen ausgehen. Er schont nur in dem Masse, wie eine Auseinandersetzung mit Inhalten zur Überforderung führen würde. Klassischerweise wird dieses Modell bei Kindern und Jugendlichen eingesetzt. Aber auch dort ist die Grundhaltung jene der Ertüchtigung. Es geht nicht um das dauerhafte Fernhalten von Inhalten, sondern um das Befähigen zum Kontakt und zur Auseinandersetzung. Dabei steht ein Lernbegriff im Zentrum, der auf eine Begleitung durch moralische Kräfte angewiesen ist.
Man muss Kindern wie Erwachsenen aber Zeit zum Wachsen geben. Einen liberalen Islam einzufordern, dürfte die heutigen Gläubigen überfordern. Es brauchte Jahrhunderte, um das Christentum an den heutigen, etwas offeneren Ort zu bringen. Zensur ist also eine Art Verzögerungs- oder Portioniermechanismus. Man lässt gewisse Inhalte, ob richtig oder falsch, in kontrollierter Weise auf die heutige Gedankenwelt prallen. Man begleitet sie, kommentiert sie, stellt sie zur Debatte. Geht das nicht, sperrt man sie weg in den Giftschrank der Gesellschaft.
Was aber unter Luftabschluss weggesperrt wird, gärt vor sich hin. Das Verbotene ist ein magischer Ort und kann eine ganz eigene, schwer zu kontrollierende oder gar kontraproduktive Dynamik erzeugen. Wer weiss, ob Hakenkreuze unter Luftabschluss nicht viel besser gedeihen als im offenen Umgang? Irgendwann muss alles wieder an die Luft. Wehe, die paar toxischen Keulen im Schrank geraten in die falschen Hände. Tabus sind ein Brandbeschleuniger erster Güte. Es braucht also den begleiteten Kontakt mit diesen Inhalten. Es braucht die Auseinandersetzung. Braucht es auch Zensur?

Zensur ohne Diskussionskultur ist Gedankenkontrolle. Und Diskussionskultur ohne Zensur überfordert die Selbstheilungskräfte. Warum? Bei einseitigen Machtverhältnissen wie im Internet oder den Massenmedien braucht es einen Schutz des Einzelnen und seiner persönlichen Sphäre. Es reicht nicht, persönliche Verleumdungen lediglich zur Diskussion zu stellen. Der Schaden ist zu schnell angerichtet und der Betroffene oft nicht in der Lage, der Dynamik der Massenmedien etwas entgegen zu setzen.

Während man ein Buch noch relativ leicht verbieten kann, ist dies beim Internet kaum mehr möglich (und beim Darknet ausgeschlossen). Wir sehen uns also einer weit virulenteren Attacke mit Informationen gegenüber. Eine generelle Zensur ist aber kaum durchsetzbar und würde einen Kontrollkraken gigantischen Ausmasses bedingen. Also ist es gesellschaftliche Pflicht, toxische Inhalte vermehrt zur Sprache zu bringen und Stellung zu beziehen. Die Diskussionsebene ist aber nur der halbe Weg. Die eigentliche Destabilisierung findet auf der Gefühlsebene statt. Menschen radikalisieren sich nicht aus rationalen Gründen, sondern aufgrund diffuser Ängste und Verletzungen. Nur wer weiss, wie er sich selber wieder einmitten und heilen kann, ist fähig, mit solchen Mustern umzugehen. Haben wir dazu die nötige Kultur?
Der Aufschwung radikaler und populistischer Tendenzen in Europa verleiht dieser Frage eine gewisse Aktualität. Sind wir in der Lage, unser gesellschaftliches Kapital ausreichend vor den Infektionen durch Egoismus und Hass zu schützen? Was unternehmen wir gegen die schleichende Tendenz zur Ausgrenzung und Simplifizierung? Was macht aus uns entspannte Bürger, die sich auch schwierigen Fragen mit einer gewissen Gelassenheit stellen können?

Die Angriffe auf unsere Integrität geben uns zu verstehen, dass wir wach bleiben müssen, so wie unser Körper wach bleiben muss im Umgang mit Erregern, denen er ständig ausgesetzt ist. Die Glasglocke gibt es nicht – wir können uns nicht gegen Manipulation und Schwachsinn schützen. Sie sind überall. Aber wir können lebendig genug bleiben, um mit diesen Störungen umzugehen, sie mit guten Fragen und echten Gefühlen abzufangen. Diese innere Fitness ist das beste Mittel gegen Infektionen und Erkältungen des Herzens.        

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