Architektur ist eine Männerdomäne, ausser in Havanna. Architektinnen und Ingenieurinnen verleihen der Metropole ein neues Gesicht. Ein Forschungsprojekt gibt Einblick in das Wirken kubanischer Frauen.

Seit 1982 gehört Havanna zum UNESCO Weltkulturerbe. Mittlerweile drücken viele Frauen der Stadt ihren Stempel auf. (Foto: Christine Heidrich)

Dieses Jahr ist Kuba in Jubiläumsstimmung: 500 Jahre Havanna und 60 Jahre Revolution werden gefeiert. Für die Schweiz ist dies nicht unbedeutend, blickt sie doch auf eine langjährige Vermittlerrolle zwischen Kuba und den USA zurück. Heute ist die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) mit Entwicklungshilfeprogrammen engagiert, gefördert wird auch die Sanierung der Altstadt von Havanna, die seit 1982 zum UNESCO Weltkulturerbe gehört.

Havanna ist eine faszinierende Metropole. Sie gilt als eines der bedeutendsten lebenden Architekturmuseen der Welt. Am 16. November 1519 wurde sie als Hauptstadt der von Christoph Kolumbus entdeckten Karibikinsel gegründet. Die Kolonie entwickelte sich zum bedeutenden Kaffee- und Zuckerlieferanten, geprägt von Grossgrundbesitz und Sklaventum. Prachtvolle Gebäude im spanisch-maurischen Kolonialstil erzählen vom ehemaligen Reichtum.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts setzte dann ein neuer Bauboom in Havanna ein. Farbenfroh und unbekümmert experimentierfreudig wurde im Stil des Historismus und des Jugendstils mit karibischer Note gebaut. Im folgenden Jahrhundert gelangten finanzkräftige Investoren und Bohemiens in die Stadt, die sich zu einer der mondänsten Grossstädte der Welt entwickelte, wo die neuesten Trends aus Europa und Nordamerika umgesetzt wurden.

Während in Europa zwei Weltkriege tobten, flossen in Havanna Geld und Geschäfte im «Tanz der Millionen»: So führten millionenschwere, vor allem amerikanische, Investitionen im kubanischen Zuckermarkt dazu, dass Ende des Zweiten Weltkriegs die gesamte kubanische Raffinerieindustrie unter Kontrolle der USA war.  Neben Stars und Berühmtheiten gab sich auch die Mafia ein Stelldichein. Dies trug dazu bei, dass bis Ende der 1950er Jahre beachtenswerte Bauwerke entstanden.

Der Mangel an Baumaterialen und die Abhängigkeit von Importgütern sind noch heute ein Problem. Wer hier baut, braucht Flexibilität, hohe Einsatzbereitschaft und ein gutes Team.

Die Revolution setzte den überbordenden Entwicklungen 1959 ein jähes Ende. Besitztümer wurden verstaatlicht, das Lebens- und Regierungszentrum von Havanna in den Stadtteil El Vedado verlagert. Die Altstadt geriet in Vergessenheit. Gebäude wurden zwar nicht abgerissen, doch die salzige Seeluft nagte an der Bausubstanz. Vereinzelt stürzen auch heute noch Bauteile ein. Dann brach 1991 der Ostblock auseinander und in Kuba begann eine Zeit der Krise, die sogenannte «Spezialperiode». Der Mangel an Baumaterialen und die Abhängigkeit von Importgütern sind noch heute ein Problem. Wer hier baut, braucht Flexibilität, hohe Einsatzbereitschaft und ein gutes Team.

Mit Beginn der allmählichen Öffnung des Landes in den 1990er Jahren rückte der touristische Wert der Altstadt in den Fokus: Es wurde ein Stadterneuerungsprogramm entwickelt, dem die erfolgreiche Wiederbelebung der Altstadt heute zu verdanken ist – unter massgeblicher Mitwirkung und Führung von Architektinnen und Ingenieurinnen. Denn Frauen bilden heute die Mehrheit des nur knapp 11,5 Millionen Einwohner zählenden Inselstaats – unter anderem aufgrund kubanischer Einsätze in den Angolakriegen und einer hohen Auswanderungsrate. So wurden sie zum wichtigen Wirtschaftsfaktor und sind oft hoch qualifiziert.

Dies hat sich positiv auf den Architekturbetrieb in Havanna ausgewirkt. Mit dem Büro des Stadthistorikers «Oficina del Historiador de la Ciudad de La Habana» (OHCH) wurde Anfang der 1990er Jahre eine Institution zum Erhalt wertvoller Bausubstanz und Kultur gegründet. Sie umfasst heute mehr als 13 000 Beschäftigte in Verwaltung, Planung und Bauausführung. Dazu gehört auch das staatliche Architekturbüro Restaura, das für sämtliche Sanierungs-, Erweiterungs- und Neubauprojekte in der Altstadt von Havanna zuständig ist.

Perla Rosales
Hat in Osteuropa studiert: Perla Rosales Aguirreurreta, Vizedirektorin der «Oficina del Historiador de la Ciudad de La Habana» (OHCH) in ihrem Büro. (Foto: Christine Heidrich)

Es ist ein grosser Betrieb, der etwa 220 Mitarbeitende beschäftigt. Mehr als 60 Prozent von ihnen sind Frauen, die leitenden Positionen sind gar zu fast 80 Prozent in Frauenhand – eine bemerkenswerte Ausnahme im internationalen Vergleich. Angesichts dieser starken Position der Frauen erscheint der auf einen Mann verweisende Name «Büro des Stadthistorikers» für die übergeordnete Institution OHCH natürlich etwas anachronistisch.
Aus einem Faltblatt zur Ausstellung «Ellas restauran» in Havanna 2011 entstand der entscheidende Impuls zu meinem Forschungsprojekt. Die Ausstellung zeigte ausschliesslich Architekturprojekte von Frauen. Daraus entstand die Idee, nicht nur die Ausstellung, sondern auch einige der Protagonistinnen und ihre Werke exemplarisch darzustellen. Für eine Buchpublikation konnte ich dreizehn kubanische Architektinnen und Ingenieurinnen aus drei Generationen interviewen. Fotos und Architekturpläne charakterisieren die Frauen und ihre Arbeit, Textbeiträge liefern Informationen zur Rolle der Frau in der kubanischen Architektur.

Die Geschichten dieser selbstbewussten Frauen faszinieren: Perla Rosales Aguirreurreta ist Vizedirektorin der OHCH. Als eine der wenigen durfte sie bereits als junge Frau ins Ausland reisen. Zusammen mit Tatiana Fernández de los Santos, der Leiterin des Architekturbüros Restaura, studierte sie in der damaligen UdSSR Architektur. Die Erfahrungen als Studentinnen im Ostblock prägten beide nachhaltig. Trotz Gründung einer eigenen Familie steht für sie die Karriere an oberster Stelle. Dass familiäre Unterstützung und soziale Arbeitsstrukturen dabei von grosser Hilfe sind, versteht sich von selbst.

Auch die Architektin Zoila Cuadras Zola durfte im Ausland studieren. Sie erlangte an der Universität Barcelona einen Abschluss in Denkmalpflege, der in den 1970er Jahren in Kuba nicht angeboten wurde. Für sie ist ihr Beruf Lebensinhalt: Obwohl sie seit 15 Jahren pensioniert ist, arbeitet sie weiterhin als denkmalpflegerische Beraterin. Mitten im Berufsleben steht hingegen die Architektin Irén Blanco Inceosman. Sie lebt und arbeitet zurzeit in Europa und verfügt so über einen erweiterten Blickwinkel auf die Architektur ihres Heimatlands.

Eine starke Verbindung zur Architektur hat auch Dolores Valdes Xiqués, die schon als kleines Kind Häuser zeichnete. Für die aus einfachen Verhältnissen stammende dunkelhäutige Frau war der Weg zum Architekturdiplom trotz sozialistischer Förderung besonders mühevoll. Sie ist stolz auf ihren Beruf und ihre Leistung. Es ist dieser Stolz, an der Erneuerung der Hauptstadt Havanna mitzuarbeiten, der alle Frauen verbindet.

Frauen bringen ausgeprägte soziale Fähigkeiten in die Architektur ein. Zumindest glaubt das der leitende Stadthistoriker Eusebio Leal Spengler. Das manifestiere sich beispielsweise in einem harmonischen Arbeitsklima auf den von ihnen geleiteten Baustellen. Daraus folge eine hohe Identifikation der Bautrupps mit ihrer Aufgabe, die zur Lösung selbst schwierigster Situationen beitrage. Doch eine besondere Herangehensweise oder qualitative Unterschiede im Vergleich zur Leistung ihrer männlichen Kollegen streiten die befragten Frauen ab. Vielleicht ist es Bescheidenheit, sicher spiegelt es aber auch die sozialistische Auffassung der gleichwertigen Arbeit von Frauen und Männern wider.

Das Thema Frauen in der Architektur findet zunehmend Interesse, wie die wachsende Anzahl der Veröffentlichungen, Universitätsseminare und Ausstellungen beweist. Immerhin studieren derzeit an den meisten westlichen Universitäten etwa gleich viele Frauen wie Männer Architektur.
Trotzdem ist der Frauenanteil in Führungspositionen, als Inhaberinnen eines eigenen Architekturbüros oder als Universitätsprofessorinnen vergleichsweise gering. Die Leitung von Grossbauprojekten wird in der Öffentlichkeit nach wie vor eher mit einem männlichen Architekten assoziiert. Mein Projekt ist damit auch ein Beitrag, Frauen in der Architektur – am Beispiel von Havanna – zu mehr Öffentlichkeit zu verhelfen und ihre Position zu stärken.

Der Wunsch nach eigenen Projekten als Architektin oder Architekt ist in Kuba durchaus ein Thema, doch öffentlich darf sich dazu niemand äussern.

Natürlich sind in Kuba nicht alle zufrieden. Zwei der interviewten Architektinnen haben inzwischen das Land verlassen. Vielleicht, um den Traum der Selbständigkeit zu verwirklichen. Denn «Autorenarchitektur» – Bauwerke, die auf einzelne Architektinnen und nicht auf Institutionen, Ämter oder Kollektive zurückgehen – ist in Kuba nicht möglich. Das ist eine weitere Kehrseite des sozialstaatlichen Systems. Der Wunsch nach eigenen Projekten als Architektin oder Architekt ist in Kuba durchaus ein Thema, doch öffentlich darf sich dazu niemand äussern. Es zeichnen sich jedoch am Rande der Legalität Umwege ab.

So ist es seit  2012 in Kuba möglich, sich in bestimmten Bereichen selbständig zu machen. Unter dem Deckmantel der «Innengestaltung» sind auch Architekten tätig – vor allem junge Frauen. Ihre Projekte beschränken sich nicht immer auf die Innenräume, sondern nehmen als «Anbauten» mitunter grösseren Umfang an. Die Aufträge stammen – auch mithilfe ausländischer Geldgeber und Exilkubanern – aus der Mittelschicht, die sich in Kuba gerade herauszubilden beginnt und auf den Tourismus zurückgeht. So gibt es taxifahrende Biologen oder Historiker, Rechtsanwältinnen, die private Zimmer vermieten und ihren Beruf an den Nagel hängen, um zu Wohlstand zu kommen.

Das Forschungsprojekt findet somit in einer Zeit des Wandels statt und ist die Momentaufnahme einer einzigartigen Situation. Reisen und Interviews müssen jedoch wohlgeplant sein und sind ausnahmslos auf Spanisch zu bewältigen. Hinzu kommt das staatliche Kontrollsystem in Kuba, das für sämtliche Vorhaben eine offizielle Genehmigung erfordert. Solche Hürden lassen sich dank meiner kubanischen Projektpartnerin Inés María López Hernández von der OHCH und ihrer Begeisterung meistern. So kann auch in der Schweiz zum 500-jährigen Jahrestag auf das Wirken der Architektinnen und Ingenieurinnen in Havanna aufmerksam gemacht werden.        

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Christine Heidrich ist Architektin und Architekturtheoretikerin. Das Buchprojekt «500 Jahre Havanna – Frauen in der Stadterneuerung eines architektonischen Weltkulturerbes» ist die erste Publikation, die kubanische Architektinnen und ihre Bauwerke würdigt. Es erscheint im Herbst 2019. Fotos und Stadtansichten geben einen Eindruck der zum Weltkulturerbe gehörenden Altstadt. Parallel zur Buchveröffentlichung sind verschiedene Projekte geplant: eine von der Solothurner Kuratorin Miryam Abebe organisierte Fotoausstellung sowie eine eigenständige Forschungsarbeit mit Fotoessays der in Zürich lebenden Architekturfotografin Ewa Maria Wolanska.

www.raumresonanz.ch
www.sichtbar.art
www.wolanska-studio.com