Weiterfahren, ohne je anzukommen. Natürliche, künstliche und eigene Grenzen überwinden. Aus dem Leben eines Fahrradreisenden. (Marc Michel,Text & Bilder)

In der tibetischen Wildnis konnte Marc Michel absolute Ruhe und Frieden geniessen – keine Menschenseele weit und breit.

Meine erste längere Veloreise unternahm ich im Sommer 2014. Ich wollte ganz einfach mit dem Fahrrad unterwegs sein und die damals für mich unvorstellbare Distanz von der Schweiz zum Nordkap und zurück aus eigener Kraft zurücklegen. Nach dem Ende meines Mathematikstudiums im Sommer 2015 nahm ich mir vor, die Welt weiter mit dem Fahrrad zu erkunden. Fast zwei Jahre lang war ich in Eurasien unterwegs. Und auch jetzt bin ich wieder auf Achse.

Unterwegs ist mein Zelt mein Zuhause. Egal, wo ich bin, es ist gleich organisiert – fast wie eine Wohnung. Nur die Landschaft ändert sich ständig. Mein Leben richtet sich nach der Sonne: Geht sie auf, stehe ich auf. Wenn ich eingeladen bin und die Gastgeber abends noch plaudern möchten, bin ich deshalb oft schon längst todmüde.

Innerliche und äusserliche Grenzen sind unterwegs alltäglich. Manchmal ist es die Bürokratie, manchmal sind es geografische oder politische Grenzen und ab und zu ist es mein Körper. So erlebte ich in Georgien, was es heisst, wenn man viel trinkt und dabei das Salz vergisst. Aufgrund der Hitze trank ich viel Wasser, was zu einer Erschöpfung durch salt depletion führte. Ich legte ein paar Tage Pause ein und merkte, dass ich die Strecke bis zur iranischen Grenze mit dem Fahrrad nicht schnell genug zurücklegen konnte, um mit meinem Visum dort noch einreisen zu dürfen. Also musste ich den Zug nehmen.

Grenzübergänge und Bürokratie sind oft Hindernisse. So sagte man mir auf der ukrainischen Botschaft in Bern, ich könne ohne spezielle Genehmigung von der Ukraine via Krim nach Russland reisen. Einige Wochen später musste ich am ukrainischen Grenzposten aber feststellen, dass diese Auskunft falsch war. In solchen Situationen stösst man auch mental an Grenzen.

Immer mit dabei ist auch sein Zelt: ein zuverlässiges Zuhause, auch wenn wilde Tiere herumstreifen.

Trotzdem scheue ich keine Herausforderungen. Ich geniesse es, in schwierigem Gelände mit dem Velo unterwegs zu sein und bei jedem Wetter neben der Strasse im Zelt zu schlafen. Für meine jetzige Reise durch Eurasien suchte ich drei verschiedene Projekte, die für mich eine besondere Schwierigkeit darstellten. So fuhr ich im März 2018 in Richtung Afghanistan. Dort wollte ich mich vier Wochen lang im äussersten Nordosten aufhalten: Unwegsame Strassen, Berge, Täler, und Flüsse warteten auf mich. Der Plan: mit meiner Partnerin bis zum Dorf Sarhad fahren und von dort zu Fuss die Berge des Pamirs erkunden. Doch dreissig Kilometer vor dem Ziel machte uns ein Fluss einen Strich durch die Rechnung. Beim Versuch, ihn zu durchqueren, mussten wir einsehen, dass dies mit dem Velo nicht möglich war. Und weil bis zum Dorf noch drei weitere Flüsse auf uns warteten, entschieden wir uns, die Fahrräder abzustellen und zu Fuss weiterzugehen.

Wie so oft führte die eine unüberwindbare Grenze zur nächsten Schwierigkeit: Die ungewohnten körperlichen Belastungen durch das Wandern mit schwerem Gepäck zogen meine Knie und Fersen in arge Mitleidenschaft.
Anschliessend wollte ich – diesmal wieder alleine – die Wildnis auf dem tibetischen Plateau durchqueren. Ich wusste, dass ich dafür mein Fahrrad mehrheitlich schieben musste – und das mit Ausrüstung und Verpflegung für fünfzig Tage. Bereits nach zwölf Tagen zwang mich ein defektes Solarpanel zur Umkehr: ohne Strom keine überlebenswichtige Navigation! So verbrachte ich 23 Tage in der Wildnis. Keine Menschenseele, dafür wilde Tiere und immer wieder eiskalte und halb zugefrorene Flüsse, die ich überqueren musste.

Als nächstes steht Sibirien auf dem Programm. Bereits auf dem Weg nach Norden musste ich in Kasachstan Temperaturen von minus 30 Grad aushalten. Ein erster Vorgeschmack. Doch bevor ich richtig loslegen konnte, stellte mich die Bürokratie erneut auf die Probe. Weil mein russisches Visum nicht rechtzeitig ausgestellt wurde, hielt ich mich einige Zeit illegal in Kasachstan auf. Dafür wurde ich vor Gericht zu einer Geldstrafe verurteilt.

Auch das gilt es auszuhalten: Minustemperaturen und Schnee.

Trotz dieser Schwierigkeiten liebe ich das simple Leben auf meiner Reise. Wenn ich genug Essen und Trinken in meinen Taschen habe, muss ich mich oft um nichts mehr kümmern und mir keine Sorgen machen. Während meiner langen Wartezeit konnte ich es kaum erwarten, wieder draussen unterwegs zu sein, am Abend in der Natur mein Zelt aufzustellen und darin zu übernachten. Zuhause ist es eben doch am schönsten.     

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Marc Michel hat seit 2014 über 60 000 Kilometer mit dem Fahrrad zurückgelegt. Momentan ist er im sibirischen Winter unterwegs. Verfolge seine Abenteuer auf www.marcmichel.ch

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