Mal hier, mal dort – wo ist es besser?

«Uf u dervo», schon Golä hatte davon gesungen. Und SRF strahlt jährlich die gleichnamige DOK-Serie aus. Wieso haben Menschen den Wunsch, das Weite zu suchen?

Camilla Landbø in La Paz, Bolivien (Foto: zvg)

Ich bin vor mehr als einem Jahr ausgewandert. Mit meinem kleinen Sohn. Nach Südamerika. Aus Überzeugung. Ja. Nun erwarten Sie bestimmt eine Abhandlung, was ich im helvetischen Land alles verpöne. Nun – nein, ein solcher Text soll es nicht werden. Drum herum komme ich dennoch nicht, Ihnen auch gute Gründe zu nennen, wieso man die Schweiz verlassen sollte. Aber dazu später.

Wo es besser ist, hier oder dort? Das ist am Ende eine sehr persönliche Sache, schätze ich. Ich glaube daran, dass jeder Fisch sein Biotop hat. Ein Gewässer, eine Welt, wo er oder sie besonders gut wirken und gedeihen kann. Wieso also sollte dies genau der Ort sein, wo man vom Storch im Päckchen abgeworfen wurde? Mal ehrlich: Dafür sind Lebenspläne, Wünsche, Bedürfnisse, Ansichten und Lebensformen jedes einzelnen Menschen viel zu unterschiedlich. Nicht wahr?

Ich bin viel gereist, habe mich immer wieder mehrere Wochen, Monate, ja sogar Jahre, im Ausland aufgehalten. Nicht nur Klima, Landschaften, Länder, deren Städtebau, deren politischen Strukturen und Gesetze sind verschieden, sondern auch deren Menschen. Wie sie zum Beispiel auf das Leben zugehen, wie sie Probleme lösen, was sie überhaupt als ein Problem betrachten, welche Haltung sie gegenüber anderen Menschen haben, was und ob sie verurteilen. Kurzum: Jedes Land, jedes Volk ist in der Tat ein eigenes Universum. Und dies beeinflusst den Alltag. Und was ist wichtiger als der Alltag?

Der Alltag ist der Ist-Zustand. Das Jetzt. Das, was wir effektiv leben und erleben. Das Morgen und das Übermorgen, das, was kommen wird, passieren könnte oder in zehn Jahren sein mag, das ist für ein vitales Leben im Grunde genommen irrelevant und meist sehr hypothetisch.

Jedes Land hat seine Vorzüge. Und seine Nachteile. Würde die Lebenszeit ausreichen, könnte ich mir vorstellen, in jedem Land mal eine Weile zu leben. Ich habe Freunde, die alle zwei Jahre das Land wechseln. Es sind keine verlorenen Seelen. Nein! Es sind Menschen, die gerne entdecken, betrachten, begreifen. Die es mögen, sich mit Unterschieden und Gemeinsamkeiten auseinanderzusetzen. Von jedem Land lernen sie etwas, das sie dann auf ihren weiteren Weg mitnehmen.

Auch ich begreife das Leben im Dort, im Ausland, als eine Bereicherung. Eine Bereicherung, die einem – so würde ich wagen zu behaupten – nicht widerfährt, wenn man immer im Hier, in der Heimat, bleibt.

Ich erinnere mich noch gut, als ich als junge Erwachsene für einige Tage nach Marokko, dann für ein paar Wochen nach Griechenland, später für ein paar Monate nach Mexiko reiste. Diese ersten Reisen in Länder, die um einiges anders sind als die Schweiz, waren eine Überforderung. Obgleich sie genauso ein fantastisches Abenteuer waren.

Die Überforderung waren die Neuheiten. Oft widerfuhren mir Dinge, stiess ich auf Tatsachen oder Menschen, wo ich dachte: Geht’s noch? Was soll das? Spinnen die Römer? Nicht im Ernst kann man so leben! Besonders in Lateinamerika dachte ich das oft. Wo man zu acht in einem Taxi eingepfercht fährt. Wo zu Weihnachten Böller in die Luft geschossen werden. Wo man vier Zentimeter vom Abgrund entfernt durch die Anden kurvt. Wo man sich als Schutz vor schlechtem Zauber rote Unterhosen anzieht oder die linke Brust anfasst.

Je länger ich mich jedoch in Lateinamerika aufhielt, umso mehr stellte ich fest, doch, man kann sehr wohl so leben. Mehr noch: Es fühlt sich gut an. Besser als in der Schweiz.
Zusehends stellte ich mir die Frage: Wieso? Was macht es aus, dass sich der Alltag in Lateinamerika besser anfühlt als in der Schweiz? Ist das eine subjektive Wahrnehmung? Ergo meine. Oder ist der lateinamerikanische Alltag generell menschenkompatibler? Trotz Armut, trotz Korruption, trotz hoher Mordraten und Kindersterblichkeit? Trotz politischer Unsicherheiten? Trotz vulnerabler Situationen, in die Menschen geraten können?

Da wurde mir klar, was in der Schweiz wirklich toll ist: das Gesundheitssystem. Als ich mal einen guten Freund in Buenos Aires in ein privates 5-Sterne-Spital begleitete, er über dessen Qualität schwärmte, dachte ich lediglich: Das sieht hier aus wie in jedem Schweizer Krankenhaus. Dieselben Dienstleistungen geniesst jeder Versicherte; ergo jeder Schweizer – ob reich oder arm. Und mir kam in den Sinn, was José «Pepe» Mujica – der frühere Präsident von Uruguay – einmal gesagt hatte: «Der Schwarze, der wirklich am Arsch ist, ist der Schwarze, der in Armut lebt. Die Frau, die so richtig diskriminiert wird, ist die Frau, die in Armut lebt.» Damit wollte er sagen, dass der Kampf gegen Rassismus, der Kampf für Gleichstellung und für Gesetze wie die Homo-Ehe oder die Abtreibung zwar sinnvoll seien, aber am Ende geht es um Macht und um Armut.

Nun, um zurück zum Thema zu kommen: Wenn man gesund ist, dann ist Südamerika ganz klar ein lebensbejahender Fleck Erde. Wenn man aber ein soziales oder juristisches Problem hat oder krank ist und obendrauf arm, dann wird es ungemütlich. Die Schweiz sichert jedem den Zugang zum Gesundheitssystem, ein Dach über den Kopf, Essen und Kleidung zu. Kurzum: Das institutionelle Sozialsystem und andere soziale Angebote garantieren das Überleben. Zumindest jetzt noch. Mal sehen, was die Zukunft bringt. Aber der Alltag? In der Schweiz? Was garantiert der?

Ich habe den lateinamerikanischen Kontinent vor zwanzig Jahren zu bereisen begonnen. Entschuldigen Sie diese Offenheit: Der Alltag ist substantieller, lebensfreundlicher, zudem entspannter als in der Schweiz. Jetzt leg ich los, ich hatte Sie vorgewarnt: Er ist auch spannender, wilder, freier, sympathischer, kreativer, spontaner, offener für Neues, für schöne Momente, für Pausen, für Abenteuerlicheres, für Absurdes.

Als ich noch in Buenos Aires lebte, meinte mal jemand, dass Argentinien von Pubertierenden regiert wird. Ich musste lachen, denn ich wusste sofort, dass diese Beschreibung gut passt. Die Argentinier leben von der «locura» – vom Irrsinn, vom Feiern- und Lachenwollen, vom Zusammensitzen und Sich-Dinge-Erdenken, vom Diskutieren, Teilen, Kommunizieren, von der Attraktion. Und von der Nacht. Ja, sie haben etwas Jugendliches.
Ich antwortete: Nun gut – die Schweiz dagegen, die wird von meinen Grosseltern regiert. Ein bisschen Lärm – und es gibt eine Anzeige, das Treppenhaus nicht geputzt – und es gibt einen Rüffel, Steuern nicht ausgefüllt – und es gibt eine Geldbusse, Kind um Punkt 9 Uhr nicht in der Kita abgegeben – und es gibt einen Mahnbrief nach Hause, Abfall am Vortag vor 17 Uhr vor die Tür gestellt – und es gibt ein Post-it an die Wohnungstür «Das nächste Mal schreibe ich der Hausverwaltung». Das ist der Alltag in der Schweiz: strenge Haltung gegenüber anderen.
Nun, was ist besser? Dass alles geregelt, korrekt läuft, alles abgesichert ist? Oder dass man leben und entdecken darf, dies aber mit gewissen Risiken? Die Antwort darauf wäre wohl: Man nehme das Beste aus jedem Land, mixt es und spuckt es aus.

Wieso habe ich die Schweiz verlassen? Weil ich gerne selbstbestimmt lebe. Weil ich ausprobieren will. Weil ich aus Fehlern lernen möchte und keine Lust habe, dass man mir – bevor ich überhaupt etwas angehe – schon sagt: «Das geht nicht!» Weil ich teilen mag. Weil ich Gesellschaft und Zeit haben mag. Weil ich gerne Orte habe, wo die Schere, die sagt, was normal ist und was nicht, weiter offen ist. Weil ich gerne Fragen habe wie: «Wofür setzt du dich ein?» oder «Was sind deine Leidenschaften?» Dagegen schnüren mir Fragen wie «Was bist du von Beruf?» oder «Hast du eine Dritte Säule?» die Luft ab.
Nun, da und dort. Was wollte ich eigentlich sagen? Ah ja, dass jeder Fisch sein Biotop hat. Aber eine Tatsache gibt es dennoch, egal in welches Biotop man passt: Je mehr man die Freiheit eines Menschen einschränkt, umso mehr verwelkt die Blume. Und: Auch wenn Risiken und Unsicherheit den Alltag bestimmen, am Ende ist dies – aufs Leben gesehen – weniger schlimm, als Leidenschaften nicht ausgelebt zu haben. Finden Sie nicht auch?
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Camilla Landbø ist in Zürich geboren, hauptsächlich in Bern aufgewachsen. Von 2006 bis 2013 war ihr Wohnort Buenos Aires, seit 2017 lebt sie in Bolivien. Sie ist freie Korrespondentin und Musikerin. Ihr fünfjähriger Sohn lernt im Kindergarten in La Paz basteln, tanzen, rechnen und zeichnen. Vor allem aber lernt er eines: dass die Welt nicht klein ist.

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