Sanierungsfall Demokratie

Wahlen bedeuten noch längst nicht Demokratie. Deshalb ist der Ruf der Politiker auf einem historischen Tiefpunkt. Wissenschaftler schlagen nun eine Sanierung des politischen Systems vor.

In Deutschland wurde im September gewählt – und das Image von Politikern bleibt grottenschlecht: Von 100 möglichen Punkten bekommt diese Berufsgruppe in einer Umfrage des Instituts Forsa gerade einmal 24 Pünktchen. Damit ernten die Volksvertreter weniger als ein Drittel der Anerkennung, die Müllmänner einsammeln. Grosse Teile der Bevölkerung trauen den Parteien nicht mehr zu, die Probleme zu lösen. Immer weniger Leute gehen wählen. Damit sinkt die Autorität des Parlaments und der Regierung, und die Entfremdung zwischen Gewählten und Wählern nimmt zu.

Für die Demokratie ist dies ein grosses Pro­blem. Im Grundgesetz der Bundesrepublik heisst es zum Beispiel: «Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.» Wenn das Volk die Abgeordneten und Regierungen aber nicht mehr als seine Vertretung wahrnimmt, steht die Frage im Raum: Warum haben die dann die Macht? Im Gebälk des Staatswesens knirscht und rumpelt es. Dumpfbackige Populisten versuchen das auszunutzen.
Soll verhindert werden, dass immer mehr rechte Bewegungen an Einfluss gewinnen oder Autokraten wie Donald Trump und Recep Erdoğan ans Ruder kommen, müssen viele Demokratien grundsaniert werden und ein neues, stabiles Fundament bekommen. Es gilt, die Entfremdung zwischen Repräsentanten und Repräsentierten zu überwinden. Aber wie?

Glücklich die Schweiz mit ihren vielen Volksabstimmungen. Doch für diese Form der direkten Demokratie braucht man eine gewisse Tradition, meint der belgische Psychologieprofessor Paul Verhaeghe, Autor des vor kurzem erschienenen Buches «Autorität und Verantwortung». «In Belgien und Deutschland funktioniert das nicht», sagt er. Deshalb plädiert er dafür, neu über das Verhältnis von Macht und Autorität nachzudenken. Wenn ein Vater heute sagt, dass er als Mann das natürliche Oberhaupt der Familie ist und deshalb bestimmen darf, macht er sich lächerlich. Genauso ist die Vorstellung nicht mehr zeitgemäss, dass Politiker von Amts wegen wissen, wo es langgeht. Selbst wenn sie ihre Macht nutzen und sich durchsetzen, fehlt ihnen doch die Anerkennung und damit die Basis von Autorität. In einer Demokratie kann das auf Dauer nicht gut gehen. Paul Verhaeghe schlägt deshalb vor, das politische System grundlegend umzubauen.

Längst ist klar: Gute Lösungen entstehen dann, wenn Leute mit ganz unterschiedlichen Fähigkeiten und Erfahrungen gemeinsam nachdenken und sich dabei gegenseitig beeinflussen. So könnte auch Demokratie in Deutschland, Belgien und anderswo künftig funktionieren. Bei wichtigen und kontroversen Fragen werden Menschen zusammengebracht, die ein möglichst gutes Spiegelbild der Gesellschaft darstellen: Junge, Mittelalte und Senioren, Frauen und Männer, Ureinwohner und Zugezogene, Menschen mit Doktortitel, mittlerer Reife und Schulabbrecher und was es an Kriterien sonst noch geben mag. Wenn solch repräsentative Gruppen ihre Argumente, Überzeugungen und Sichtweisen gleichberechtigt austauschen und gemeinsam Vorschläge entwickeln, hat das in der Bevölkerung eine hohe Autorität. Und anders als bei Volksabstimmungen können Lobbyisten hier kaum Einfluss nehmen.

Solche Gremien gibt es längst. An der Stanford Universität in den USA hat der Politikprofessor James Fishkin ein Institut aufgebaut, das gesellschaftliche Beratungsforen organisiert – sogenannte «Deliberative Polls». Partizipationsexperten wissen, dass es mühsam ist, eine repräsentative Gruppe zusammenzutrommeln. Um Lehrer und akademisch gebildete Senioren muss man nicht lange werben; Jugendliche, Menschen mit geringerer Bildung oder neu Zugewanderte sind dagegen schwerer einzubinden. Doch mit etwas gutem Willen gelingt es über kurz oder lang.
Ist die bunte Truppe beisammen, geht sie in Klausur. Dort bekommt sie alle nötigen Unterlagen, Fachleute stehen Red und Antwort. «Die positivste Erkenntnis unserer Deliberative Polls ist es, dass solche zufällig ausgewählten Gruppen sehr intelligent agieren», bilanziert Fishkin in einem Interview. Am Schluss listen sie nicht einfach alle Einzelinteressen oder die Ideen der Vorlautesten auf, sondern es entstehen gemeinwohlorientierte Vorschläge. Das klappt vor allem deswegen, weil die Beteiligten sich ihrer Verantwortung für künftige Entwicklungen bewusst sind, ist Fishkin überzeugt. Schliesslich sind die Gruppenvorschläge die Basis, auf der die Politiker anschliessend weiterarbeiten.

Welch erstaunliche Entwicklungen Deliberative Polls auslösen können, lässt sich in Texas beobachten, wo der weltgrösste Erdölkonzern ExxonMobil seine Zentrale hat. Dort organisierte Fishkin und sein Team 1996 bunte Bürgerteams, die die Energiepolitik von Stadtwerken weiterentwickeln sollten. Damals gab es in Texas so wenige Windräder wie nirgendwo sonst in den USA – heute nimmt der Staat die Spitzenposition ein, und die Mehrheit der Texaner ist bereit, für saubereren Strom mehr zu bezahlen.

Was es bedarf, um viele Demokratien wieder auf ein sicheres Fundament zu stellen, erscheint also klar: Die Entfremdung zwischen Wählern und Gewählten muss überwunden, die Aufgabenverteilung neu geregelt werden. Politiker sollten künftig die Intelligenz der Vielfalt organisieren und deren Vorschläge umsetzen. Nehmen sie diese neue Rolle an, haben sie sicher auch in Deutschland gute Aussichten, bald so viele Imagepunkte zu bekommen wie die Müllmänner.     

 

26. Oktober 2017
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