Sehnsucht nach Gottes Liebe

Sufismus zwischen Mystik und Politik

«Dieses ständige ‹Ich bin› muss verschwinden»: Sufi-Scheich Peter H. Cunz in der Reformierten Kirche St. Jakob in Zürich.

Sie kommen wie aus einer anderen Welt, diese Gestalten mit ihren hohen Filzmützen und den bis zum Boden reichenden schwarzen Umhängen, darunter ein weisses, ärmelloses Kleid mit einer ebenfalls weissen, kurzen Jacke. Im Takt der Trommel umrunden sie schleppenden Schritts dreimal den Saal und begrüssen sich gegenseitig. Dann legen sie das schwarze Gewand ab, küssen die Hand des Oberhaupts und verbeugen sich mit gekreuzten Armen, bevor sie mit ihren vier «Selams» beginnen und also damit, was die «wirbelnden Derwische» so weltberühmt macht: das minutenlange Kreisen um die eigene Achse, den rechten Arm mit geöffneter Hand zum Himmel erhoben, den linken Arm in Richtung Erde, den Kopf leicht nach rechts geneigt, die Augen geschlossen.

«Weniger essen, weniger schlafen, weniger sprechen», lauten die Grundregeln der Sufis.

Hier hat alles Bedeutung, nichts ist Willkür. Der Hut der Derwische symbolisiert den Grabstein des Egos, der schwarze Überhang steht für die vergängliche Welt, der Dreivierteltakt der Trommel gibt die kosmische Ordnung zwischen Welt, Mensch und Schöpfer wider, der dunkle Klang der Flöte versinnbildlicht die Sehnsucht der Tanzenden nach der Vereinigung mit Gott. Und wenn die Sufis am Ende der Zeremonie demütig ihre Arme kreuzen, so repräsentieren sie die Zahl «Eins» und geben so Zeugnis ab von der Existenz des Einen Gottes, Allah.
Es ist Sommer, ich bin zum ersten Mal bei einem Sema-Ritual dabei, so wird der kosmische Reigen der Derwische genannt. Nicht etwa in Konya, der zentralanatolischen Stadt, die als Zentrum des Mevlevi-Ordens gilt – jener Sufi-Bruderschaft, die auf den muslimischen Mystiker Dschalaladdin Rumi (1207–1273) zurückgeht und die für die «drehenden Derwische» bekannt sind. Auch steht vor mir kein Scheich aus der Türkei, aus Ägypten oder Libyen. Nein, ich bin in der reformierten Kirche St. Jakob in Zürich und unterhalte mich Hüseyin, der eigentlich Peter H. Cunz heisst und im Gürbetal irgendwo zwischen Bern und Thun lebt.

Der Sufi aus dem Gürbetal
Schon als ETH-Student suchte der gebürtige St. Galler Peter Cunz nach Antworten auf die grossen Fragen. Er begab sich auf eine Weltreise, kam mit dem Hinduismus und Buddhismus in Berührung, las in den Heiligen Büchern und praktizierte Yoga. Und er lernte die Tochter eines indischen Imams kennen. Als sie heirateten, trat Cunz zum Islam über. Unter dem Einfluss von Reshad Feild, dem Autor des Beststellers «Ich ging den Weg des Derwisch», wandte sich Cunz der spirituellen Seite des Islams zu. Später trat er auf Anfrage des türkischen Scheichs Hüseyin Top Efendi in den Mevlevi-Orden ein. Inzwischen ist der 67-jährige Cunz zum zweiten Mal verheiratet, das «H» in seinem Namen steht nicht mehr für «Hans», sondern eben für «Hüseyin», und er ist zum Scheich geworden.

Der Sufi könnte ein gewöhnlicher Handwerker, Intellektueller oder Bankier sein.

Was man ihm im Übrigen gar nicht ansieht, dem grossgewachsenen, hageren, braungebrannten Mann. Tatsächlich erkennt man einen Sufi nicht am Gewand wie einen Kapuzinermönch, einen Buddhisten oder orthodoxen Juden. Er könnte vielmehr ein gewöhnlicher Handwerker, ein Intellektueller oder ein Bankier sein. So war es auch lange Zeit Brauch unter den Sufis. Sie gingen ihrer Arbeit nach und widmeten sich darüber hinaus der Askese, Läuterung und Sehnsucht nach der Nähe Gottes. Kein Wunder arbeitete Peter Cunz bereits viele Jahre als Sektionschef im Bundesamt für Energie, als seine Kollegen endlich bemerkten, was er daneben auch noch ist: einer der wenigen Sufi-Scheichs des Mevlevi-Ordens im Westen.

Auf dem Weg zur Liebe
Was ist das eigentlich, der Sufismus? Die deutsche Islamwissenschaftlerin Annemarie Schimmel meinte einmal, es sei fast unmöglich, über die sufische Lehre zu schreiben. Das beginnt schon damit, dass die Bedeutung des Wortes Sufi umstritten ist. Für manche Gelehrte leitet es sich vom arabischen suf (Wolle) ab und bezeichnet das Wollgewand, das Sufis zum Zeichen der Demut trugen. Gesichert ist, dass die sufische Tradition bereits auf den Propheten Mohammed (570–632) zurückgeht und seither für alle nach innen gerichteten, spirituellen Strömungen des Islam steht. «Weniger essen, weniger schlafen, weniger sprechen», dies waren schon früh die Grundregeln der Sufis.

Die Bektaschi bilden den grössten Derwisch-Orden auf dem Balkan; ihr Weltzentrum, der Sitz des Dedebaba, liegt in Tirana.
 

Was diese Mystiker von anderen Moslems unterscheidet, ist aber weniger das Handeln als ihre innere Ausrichtung auf die Liebe zu Gott, die letztlich in der Auflösung, der Entwerdung des eigenen Selbsts besteht. Das sagt auch Scheich Cunz: «Dieses ständige ‹Ich bin› oder ‹Etwas sein wollen› muss verschwinden, damit Platz geschaffen werden kann für die Ausrichtung auf Gott.» Oder um ein berühmtes Bild von Rumi zu benutzen: Der Gläubige soll sein Herz wie einen Metallspiegel polieren, damit es nur noch den Glanz Gottes widerspiegelt.
Eine Methode dieses «Polierens» ist das Ritual des dhikr, die ständige Wiederholung eines der 99 Namen Allahs oder des Glaubensbekenntnisses allâ ilâha illa l-Lâh, um Gott zu gedenken. Manche Sufis wie die Mystiker der in Zentralasien entstandenen Naqsbandiyya-Bruderschaft praktizieren die stille Wiederholung des Namen Gottes, den «Dhikr des Herzens». Für diese eher nüchternen Mystiker lenken Tanz und Musik die Aufmerksamkeit auf den sinnlichen Genuss und damit weg von Gott. Für Scheich Cunz ist diese Ablehnung unverständlich. Als Vertreter des Mevlevi-Ordens praktizieren Sufis wie er eine laute Anrufung Gottes, den «Dhikr der Zunge», und benutzen dazu eben auch das Tanzritual der drehenden Derwische – eine Praxis, die übrigens 1925 in der Türkei auf Befehl des Republikgründers Kemal Atatürk verboten, 2007 aber von der UNESCO ins Weltkulturerbe aufgenommen wurde.

«Es gibt selbst unter den Sufis Vertreter eines sehr orthodoxen Islams.»

Wer sich entscheidet, ein Murid zu werden – ein sufischer Gottessuchender –, begibt sich unter Anweisung eines Sufi-Meisters auf einen spirituellen Pfad, der aus verschiedenen Tugenden besteht wie Reue, Armut, Entsagung, Gottvertrauen, Dankbarkeit, Geduld, Angst und Zufriedenheit. Am Ende dieses Wegs steht der Mittelpunkt der sufischen Lehre, nämlich die Gottesliebe, die immer im Sinne von «Hinwendung zu Allah» zu verstehen ist. Dann folgt die ersehnte Vereinigung (tawhid) mit Gott und das Entwerden in ihm (fana). Damit wird die Einheit des Seins (wihdat al wujud) erreicht und der Gläubige erkennt, dass nichts und niemand von Gott getrennt ist.

Das liberale Gesicht des Islams?
Zwar gibt es seit dem 12. Jahrhundert rund siebzig unterschiedliche Orden, zu denen sich die heute weltweit insgesamt 15 Millionen Sufis zugehörig fühlen. Übermässig missioniert haben die Mystiker aber nie. Dafür war der Sufismus immer schon zu eigenwillig, autonom und kritisch gegenüber allen, auch politischen Autoritäten. In manchen Kreisen wurde dies als liberale Haltung wertgeschätzt, in anderen dagegen als viel zu liberale Position gebrandmarkt. So haben islamische Herrscher die Sufis immer wieder als Bedrohung aufgefasst. Ein Beispiel dafür ist der anhaltende Konflikt zwischen Sufis und vielen Wahhabiten, die abweichende Glaubensrichtungen als unislamisch brandmarken und bekämpfen. In Saudi-Arabien etwa gilt die Sufi-Lehre als schirk, als Götzendienst und Ketzerei. Schon vor Jahrzehnten zerstörten die Wahhabiten dort sämtliche Sufi-Schreine.
Dass die liberale Haltung gewisser Formen des Sufismus durchaus politische Kraft entwickelt kann, zeigt das Beispiel der Bektaschi in Albanien. Im 13. Jahrhundert begründet, zeichnet sich die Bruderschaft durch eine ausgesprochen tolerante Haltung aus. So integrierte der Orden schon früh neben islamischen auch christliche Elemente in seine Lehre und Riten. Dadurch wurde er für Moslems wie Christen gleichermassen attraktiv. Tatsächlich spielten die Bektaschi Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine derart zentrale Rolle in der albanischen Nationalbewegung, dass sich 15 Prozent der albanischen Bevölkerung zum Sufi-Orden bekannten. Während den Weltkriegen wurden die Bektaschi allerdings systematisch verfolgt und 1967 wie alle anderen religiösen Gruppierungen in Albanien gänzlich verboten. Erst 1991 gründete sich ein Komitee zur Wiederbelebung des Sufi-Ordens und eröffnete am Rande von Tirana den Weltsitz der Bektaschi.

Kein esoterisches Wohlfühlprogramm
Auch Scheich Cunz bezeichnet sich als liberal – und entspricht damit gerade nicht dem häufig gezeichneten Bild des Konvertiten, der eine ausdrücklich strenge Auslegung der von ihm neu gewählten Religion propagiert. «Würde ich in Abu Dhabi so predigen wie hier, wäre ich schon längst hinter Gittern.» Tatsächlich sind Cunz’ Auffassungen auch aus Sicht hiesiger Islam-Verbände zu wenig orthodox. Beispiel Burkha: Für Cunz haben solche Kleidervorschriften nichts mit Religion zu tun. Vielmehr seien sie Bestandteil einer religiös gedeuteten und kulturell verankerten Tradition. Und Traditionen müsse man je nach Gesellschaft, in der man lebt, anpassen oder gar aufgeben können. «Alles andere ist eine unnötige Provokation.»
Davon abzuleiten, dass Sufis – wie das oft gesagt wird – grundsätzlich offener seien als andere Muslime, hält Cunz aber für verfehlt. «Es gibt selbst unter den Sufis Vertreter eines sehr orthodoxen Islams.» Entsprechend verkürzt wäre es, den Sufismus zum Gegenpol eines gewalttätigen Fundamentalismus zu stilisieren – und damit zum Botschafter einer stillen, verinnerlichten und toleranten Religiosität, die so gar nicht zum westlichen Feindbild vom Islam passt. So unorthodox Scheich Cunz selber in Bezug auf Traditionen ist, so skeptisch ist er gegenüber der westlichen Verwässerung der Sufi-Lehre. Gerade in den 1970er- und 1980er-Jahren wurde der Sufismus durch die Hippie- und New-Age-Bewegung vereinnahmt und zu einer religionsübergreifenden Spiritualität romantisiert. Auch heute noch herrscht vielerorts die Idee vor, der Sufismus brauche sich keiner Religion anzupassen und habe gerade deswegen das Potenzial, Menschen unterschiedlicher Konfessionen zu vereinen.
Für Scheich Cunz ist das nur schwer nachzuvollziehen. Mag der Sufismus weit über die reine Gesetzesreligion hinausgehen, so ist er doch stark im Islam verwurzelt. «Der bewusste Entscheid, sich auf den Pfad der Sufi zu begeben», sagt Cunz, «hat nichts mit esoterischem Wohlfühlprogramm zu tun».

www.mevlana.ch