Sie haben alle wichtigen Entscheidungen gemeinsam gefällt, seit über sechzig Jahren: Marc und Susanne Bonanomi. (Bild: Klaus Petrus)

Als im Parlament wieder einmal über ein Waffenembargo debattiert wird, stellt sie sich kurzerhand mit einem Transparent auf den Bundesplatz. Darauf steht: «Wer Waffen exportiert, importiert Flüchtlinge!» Sollen die Politiker das ruhig sehen, wenn sie aus dem Bundeshaus eilen, sagt sie sich. Es wirkt. Als wenig später die Polizei anrückt, wissen die Beamten nicht recht, was sie mit dieser freundlichen, warmherzigen, aber resoluten Frau anstellen sollen. Eine Bewilligung für ihre Protestaktion hat sie ja nicht. Aber einsperren? Das wollten die Polizisten dann doch nicht.

«Ich kann nicht anders»
Das war vor vielen Jahren. Susanne Bonanomi, gerade 86 Jahre geworden, erzählt mir diese Geschichte bei ihr Zuhause in Zollikofen bei Bern, sie serviert Kaffee und Gebäck, und schon wieder hat sie diesen Schalk in ihren blauen Augen. Erstmals aufgefallen ist mir die Frau an einer Mahnwache, dann immer wieder bei Demos, an Infoständen oder beim Verteilen von Flyern. Das tut sie auch heute noch, und zwar fünfmal die Woche auf dem Berner Bahnhofplatz. Dort steht sie, meist zur Rushhour, meist in einem grünen T-Shirt, und verteilt Flugblätter für eine bessere Welt. «Ich kann nicht anders, es geht schliesslich um die Zukunft unserer Kinder.»
Aufgewachsen ist Susanne Bonanomi, geborene Moser, in Münsingen zwischen Bern und Thun. «Wir waren Kriegskinder. Wir mussten hart arbeiten, hatten nicht viel, meine Mutter hat morgens für jedes Kind in einer Stofftasche das Brot abgewogen, es musste halt alles rationiert werden.» Schon früh konnte sie es gut mit den Kleinen und so wurde sie Kindergärtnerin, «das war ein Traum für mich», sagt sie noch heute. Drei Jahre arbeitete sie auf dem Job, dann lernte sie – es war im Jahr 1953 am Vierwaldstättersee – den 21-jährigen ETH-Studenten Marc Bonanomi kennen. Die beiden verliebten sich und heirateten, das erste Kind kam 1959 zur Welt, das vierte 1966. Heute haben sie zehn Enkel und zwei Urenkel.

Sie glauben an die Kraft der Zivilgesellschaft, an den Protest, der von unten kommt.

In den späten 1960er und frühen 70er Jahre – es ist auch in der Schweiz die Zeit der Protestbewegungen – begannen sich die Bonanomis zu politisieren und in der Friedens- und Umweltschutzbewegung zu engagieren. Inzwischen hatte Marc seinen Job aufgegeben, an der Universität Bern ein Theologiestudium absolviert und das Pfarramt in Zollikofen übernommen. Die Beziehung zu Gott sei ihm immer schon ein Anliegen gewesen, schliesslich war bereits sein Vater ein Geistlicher – ein «Arbeiterpfarrer», der sich stets auch um die Ausgestossenen in der Gesellschaft kümmerte. Was den jungen Marc offenbar nachhaltig geprägt hat. Denn auch er wird immer wieder Menschen in seinem Pfarrhaus aufnehmen, die niemanden haben und nicht wissen, wohin. Und während Marc seinen Pflichten als Pfarrer nachging, engagierte sich auch Susanne in der Friedensbewegung, nahm an Aktionen der wachstumskritischen Décroissance-Bewegung teil, unterstützte die Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) oder setzte sich in der Gemeinde Zollikofen zusammen mit anderen Frauen für fairen Handel ein, sie organisierten Infostände, führten Veranstaltungen durch und verteilten Flugblätter.

Schock fürs Leben
In all den Jahren waren sie stets ein Team, Marc und Susanne Bonanomi. «Wir haben alle wichtigen Entscheidungen zusammen gefällt», erzählt Susanne im Rückblick. Vor allem nach Marcs Pensionierung habe sich ihr gemeinsames politisches Engagement sogar noch verstärkt. Zudem wurden sie in jener Zeit Grosseltern, und so wurde ihnen noch einmal richtig bewusst, wie schwierig es für künftige Generationen werden wird. «So vieles läuft verkehrt auf dieser Welt, da muss man doch etwas machen. Wir haben jetzt einfach mehr gewagt.»

«So vieles läuft verkehrt auf dieser Welt, dagegen muss man doch etwas machen!» Susanne Bonanomi beim Verteilen von Flugblättern für eine bessere Welt. (Bild: Klaus Petrus)

Besonders einschneidend war für sie das Jahr 2012, sie kann sich noch gut daran erinnern. Damals hatte sie eine Dokumentation über Kühe gesehen und wie man ihnen schon kurz nach dem Gebären ihre Kälber entreisst, nur damit wir Menschen ihre Milch nutzen können. «Ich war als Mutter von vier Kindern regelrecht geschockt, es hat mir mein Herz zerrissen.» Für Susanne war das ein Augenöffner mit schwerwiegenden Konsequenzen. Zwar konsumierten Marc und sie schon seit fünfzig Jahren kein Fleisch mehr – ihr erster Kontakt mit Vegetariern war 1960 in einem Camp mit Menschen aus der Reformbewegung. Jetzt aber strichen sie auch die Milch und Eier vom Speiseplan und leben bis heute vegan.
Doch sollte es nicht bei der privaten Ernährung bleiben. Denn plötzlich kam so vieles zusammen, wofür sie ihr Leben lang gekämpft hatten: die schleichende Industrialisierung der Landwirtschaft nach dem Motto «Immer mehr, immer schneller», die negativen Auswirkungen der weltweiten Nutztierhaltung auf das Klima, die wachsenden Fleischberge in den Wohlstandsländern auf Kosten all jener, die an Hunger und Armut sterben. Und natürlich das Tierleid, das auch im angeblichen «Heidiland» Schweiz unermesslich sei, wie Marc sagt. So würden hierzulande allein für unseren Konsum pro Sekunde zwei Tiere geschlachtet. Und obschon die Schweiz offenbar über eines der besten Tierschutzgesetze der Welt verfügt, sei es erlaubt, zehn Schweine auf der Fläche eines Parkfeldes zu halten, 18 000 Hühner in eine einzige Mastanlage zu sperren oder Kühe während 275 Tagen im Jahr im Stall zu halten.

Aufgeben ist keine Option
Die Bononamis unterstützen alle Massnahmen, die dazu beitragen, die gegenwärtige Situation – der Menschen, der Tiere, des Planeten – zu verbessern, auch wenn es nur kleine Schritte sind. Das Engagement in grossen Vereinen oder politischen Parteien ist ihre Sache jedoch nicht. Sie glauben an die Kraft der Zivilgesellschaft, an den Protest, der von unten kommt. Dahinter steckt Überzeugung. «Es wird sich nur dann etwas ändern, wenn wir uns selbst verändern.» Deshalb gehen Marc und Susanne immer und immer wieder dorthin, wo die Menschen sind: auf die Strasse. Und ziehen sich ihr T-Shirt mit der Aufschrift «Vegan» über und verteilen Flugblätter, sie appellieren an die Vorübergehenden, sich doch zu informieren und dann, soweit es ihnen möglich ist, ihr Verhalten zu ändern.
Nicht immer sind die Reaktionen der Passanten freundlich, was Marc nachvollziehen kann. «Die Leute hatten einen harten Arbeitstag, sie möchten heim und wollen nicht noch so einen, der ihnen Infos zusteckt oder sie sogar in ihrem Konsumverhalten hinterfragt.» Tatsächlich mag der hagere Marc mit seinem langen, weissen Haar auf manche vielleicht wirken wie ein missionierender Gutmensch, was nicht allen passt. Doch gebe es auch viele positive Erfahrungen von Menschen, die beim Vorübergehen den Daumen hochstrecken, sich auf Diskussionen einlassen oder sich im Nachhinein mit einer Email bedanken.
Susanne bereitet weniger die Abwehr der Menschen Mühe, sondern vielmehr deren Gleichgültigkeit. «Vielen scheint es einfach egal zu sein, was mit unserem Planeten, den Mitmenschen und Tieren passiert. Das gibt mir zu denken und macht mich manchmal traurig.» Doch aufgeben und sich zur Ruhe zu setzen, das ist für Susanne auch mit ihren 86 Jahren keine Option. «Aktivismus kennt doch kein Alter!» So hat sie noch letzten Herbst den Geflüchteten im Durchgangszentrum Zollikofen Deutschunterricht erteilt. Und noch immer zieht sie gemeinsam mit Marc los, um zu flyern. Inzwischen dürften es 150’000 Flugblätter sein, die sie bereits verteilt haben, hat Susanne ausge rechnet. «Mindestens», fügt sie an. Und da ist er wieder, der Schalk in den Augen dieser Frau.