Wir fuhren einfach drauflos

Ein Paar hat seine Elternzeit genutzt, um zu reisen – von Köln nach Sagres und zurück.

Bild: ©Skambraks

Kinder sind Katalysatoren. Als unser Momo am 19. Januar 2017 auf die Welt kam, konnte ich meinen Wunsch nach einem anderen Leben nicht mehr ignorieren. Die Sehnsucht nach mehr Natur, Ursprünglichkeit und Ausgeglichenheit, die in mir Stadtmensch schon lange pochte, wurde plötzlich konkret. Momo sollte Kühe nicht aus der Werbung kennenlernen, sollte draussen spielen können, ohne auf Autos achten zu müssen, sollte in frischer Luft aufwachsen.
Weil weder meine Frau Ruho noch ich wussten, wo sich der Ort in der Natur befindet, an dem wir leben und wachsen wollten, beschlossen wir, unser Jahr Elternzeit reisend zu verbringen. Klar war uns nur, dass wir keine Eigenbrötler sind – Gemeinschaft ist uns wichtig, fast so wichtig wie frische Luft.

Wir hatten keine Zeit, uns einen Plan zu machen, und fuhren einfach drauflos, im Gepäck einen Campingführer und ein paar Kontakte zu Menschen, die besondere Orte erschaffen haben. Da gab es zum Beispiel den deutschen Künstler und Architekten, der in 30 Jahren liebevoller Arbeit eine Wohnanlage aus Feldsteinen in der Provence aufgebaut hat. Jede Ecke und jeder Schnörkel an dem Bauwerk hatten etwas zu erzählen. Bunte Mosaike verzierten Böden und Wände, Bilder und Skulpturen sprachen mit uns, und überall gab es Pflanzen. Eine knorrige Eiche war gar mit in ein Wohnhaus integriert und spendete kühlen Schatten an einem heissen Sommertag.
Roland, der seinen Platz hauptsächlich als Ferienwohnanlage vermietete, wollte weg. Er wollte den Platz abgeben, um sich wieder mehr auf die Kunst zu konzentrieren und unter die Leute zu kommen. Denn im Winter, wenn es auch in der Provence bitter kalt werden kann, hütet er als einsamer Mensch sein Refugium. Wir mussten uns dieselbe Frage stellen: Wollen wir Ferienhausvermieter auf einem malerischen Hügel in der Provence werden? So inspirierend dieser Fleck Erde auch war, es fehlte uns etwas Gemeinschaftliches. Die Reise ging weiter.
 
Tagebucheintrag vom 4. September
Wir sind seit drei Tagen auf einem abgelegenen Bauernhof in den Pyrenäen, umzingelt von Bäumen. Ein Fluss plätschert und es gibt keinen Handyempfang. Das Steinhaus ist ganz schlicht und ursprünglich. Wir könnten uns auch in einem anderen Jahrhundert befinden. Hier wohnt eine holländische Familie mit sechs Kindern, das siebte ist unterwegs. Obwohl Frauke und Johann den ganzen Tag zu tun haben, wirken sie entspannt und in sich ruhend. Die Kinder spielen in der Natur und bekommen dann und wann ein bisschen homeschooling. Der nächste Ort ist eine halbe Stunde Autofahrt entfernt, das nächste Haus befindet sich im Nachbartal. Es ist ohne Zweifel ein Paradies, doch mein Geist möchte sich darauf nicht einlassen. Ich merke, wie angespannt ich seit Tagen bin. Bei Momo hat das Zahnen eingesetzt, die Nächte sind unruhig, im Zelt ist’s kalt und wir haben schon ewig keinen Sex mehr. Lust will bei mir nicht aufkommen, statt dessen im Kopf Phantasien mit anderen.

In Andalusien sind wir zum ersten Mal in einer grösseren Gemeinschaft, die uns herzlich aufgenommen hat. Zwischen zwanzig und dreissig Menschen leben in Los Portales, produzieren biologisches Olivenöl und Brot, melken Ziegen und halten ein paar Schweine. Doch hauptsächlich beschäftigen sie sich mit ihren Träumen. In Gruppen tauschen sie sich aus und erkunden das, was bei den meisten Menschen unbewusst bleibt. Hier fühlt sich unsere Reise zum ersten Mal erholsam an, wahrscheinlich auch, weil für uns gesorgt und gekocht wird. Wir haben Raum und Musse, um wieder zueinander zu finden.
So kommt es zum nächsten Schritt: Tamera. «Das sind doch die mit der Polygamie!» oder «Achtung vor den Frauen da!» – solche Sätze haben wir im Vorfeld von Bekannten mit auf den Weg bekommen. Ja, in Tamera wird freie Liebe praktiziert, doch reduziert sich Tamera nicht darauf. Vielmehr ist Freiheit in der Liebe der sich natürlich entwickelnde Reflex aus der Gemeinschaftsphilosophie. Tamera versteht sich als Recherchezentrum für eine neue, enkeltaugliche Lebensweise. Es geht um ein neues Miteinander, das Tiere und Pflanzen, Wasser und Boden mit einschliesst.

Tagebucheintrag vom 8. Oktober
Es ist ein Ort, der vor junger Energie und Dynamik nur so strotzt. 172 Menschen leben hier und alle Altersgruppen sind vertreten. Viele Kinder sehen wir toben, es gibt Jugendliche und Senior Citizens. Ruho ist als erstes mit ihren unerfreulichen Kindheitserfahrungen aus der Kommune in Kontakt gekommen: Kampf ums Essen! Vor allem die glutenfreien Speisen waren mehrmals so schnell weg, dass sie nichts bekommen hat. Am ersten Abend hatte sich die Küche komplett verkalkuliert, da gab es für Spätankömmlinge überhaupt nichts mehr.
Verwirrende Zuständigkeiten! Irgendwie scheint niemand für Probleme zuständig zu sein. Und gleichzeitig werden wir angeraunzt, wenn wir uns selbst organisieren, um für Momo Babybrei zuzubereiten. Und dann sprechen anscheinend wirklich alle ständig über Sex! Nackt im See baden darf man wiederum nicht.

Es dauert ein paar Tage, bis wir unseren Frieden mit Tamera geschlossen haben. Dann ergibt alles Sinn. Doch wie kann ich meiner Mutter darüber am Telefon berichten, ohne dass Urteile und Bilder in ihrem Kopf schwirren, die nichts mit dem Platz zu tun haben? «Es ist ein Ort der Heilung», sage ich. «Da gehen bei mir gleich die Alarmglocken an! Eriks Eltern bei den Zeugen haben auch immer von Heilung gesprochen», entgegnet sie. Nachdem ich ihr halbwegs vermitteln konnte, dass Tamera nichts mit den Zeugen Jehovas zu tun hat, war ihre nächste Frage: «Und wie finanzieren die sich?» Für meine Mutter ist es unvorstellbar, dass eine Gesellschaft andere als materielle Ziele verfolgen kann. Wobei, das sei hier angemerkt: Tamera ist durchaus teuer für Besuchende. Zudem gibt es eine ganze Schar von Saisonkräften, die auch zahlen und hoffen, irgendwann in die Gemeinschaft aufgenommen zu werden.

Von Freunden bekommen wir den Tipp, uns mal Vinha Velha anzuschauen. Ein Biobauernhof an der Algarve, der in den 1980er-Jahren von einem visionären Landwirt erschaffen wurde. Mit seiner Familie hat er die karge Landschaft in ein artenreiches Paradies verwandelt. Hunderte von Bäumen spenden heute wohltuenden Schatten, und mehrere grosse Seen sammeln den Regen, der hier genauso viel Wasser lässt wie in Hamburg, jedoch beschränkt auf wenige Wintermonate. Momo fühlt sich pudelwohl zwischen Kühen, Schafen und Hunden. Und auch wir werden so herzlich empfangen, dass unsere Reiselust ins Stocken gerät. Wir erleben ein Weihnachtsfest wie aus dem Bilderbuch: im Kuhstall bei Kerzenschein singen Menschen aus verschiedenen Kulturen miteinander. Dann wird die Weihnachtsgeschichte auf Portugiesisch vorgetragen. Am Ende umarmen wir uns alle, ohne einander zu kennen.

Hier fällt uns die Vorstellung leicht, eine neue Heimat zu finden. Unsere Nachbarn Susanne, Rasmus und ihre Tochter Lynn zeigen, wie es funktionieren kann. Nach einigem Zögern haben sie ziemlich plötzlich ihre Jobs und ihre Wohnung in München gekündigt, haben ihren Hausrat auf ein Minimum reduziert und sind mit einem VW-Bus nach Portugal ausgewandert. Natürlich ist in ihrem neuen Leben nicht alles Zuckerschlecken. Und manchmal kommt ihnen auch hier die Sinnkrise, ob das alles richtig war. Doch zumindest haben sie das getan, wovon wir noch träumten: den aberwitzigen Unsinn unserer Gegenwart gegen den Versuch zu tauschen, Lebenssinn und Alltag mehr in Einklang zu bringen.

Einfach ausgedrückt: Sie haben sich für ein bewussteres Leben entschieden. Dafür muss man nicht unbedingt nach Portugal ziehen. Weil uns irgendwann das Geld ausging (Mama lässt grüssen!), sind wir wieder zurück nach Köln gefahren. Wir verdienen unser Geld in den alten Jobs, doch versuchen wir, weniger Zeugs und mehr Bewusstheit in unserem Leben zu haben. Momo hilft uns dabei mehr als alles andere. Denn nichts katapultiert uns mehr ins Hier und Jetzt als sein Lächeln.

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Links für Interessierte:
Le Quinquerlet Ferienwohnanlage für Workshops und Urlauber in der Provence. www.quinquerlet.com
Mas de la Fargassa Camping auf einem abgelegenen Bauernhof in den Pyrenäen. www.lafargassa.com
Los Portales Kleine Gemeinschaft in Andalusien, die sich mit Traumdeutung beschäftigt. www.losportales.net
Tamera Grosse Gemeinschaft in Portugal, die alternative Lebensmodelle erforscht. www.tamera.org
Vinha Velah Familienbetriebener Biohof mit Badesee und Ferienwohnungen an der Algarve. www.vinhavelha.com