Pflege im Gesundheitssystem: «Nettigkeit bringt uns nicht weiter»

Das Gesundheitssystem ist eine gigantische Wachstumsbranche geworden, eine eigentliche Geldmaschine. Wie kommt es, dass die Pflegenden davon nichts sehen?

Alter Mann sitzt auf einem Stuhl, hält einen gelben Ball, eine Pflegeperson legt ihre Hand auf seinen Arm
«Wer ein Menschenleben rettet, ist ein Held; wer hundert Menschen rettet, ist eine Pflegefachfrau - vermutlich überarbeitet und unterbezahlt.» Margaret Chan (Bild: Matthias Zomer from Pexels)

Die Pflege wird aufgerieben in einem Gesundheitssystem, das von Macht- und Geldgier dominiert wird und sich an den Patienten mästet. Pierre-André Wagner, Leiter des Rechtsdiensts des SBK (Schweizer Berufsverband der Pflegefachpersonen), wirft in einem Artikel auf alzheimer.ch ein Licht auf die Hintergründe.

«Ich bin wahnsinnig stolz: auf unseren Beruf, auf uns, auf Sie alle», so der Autor. «Doch je grösser mein Stolz, desto überwältigender meine Wut - meine Wut über die Entwicklung des Gesundheitswesens.» Er fragt sich, wie es kommt, dass diejenigen, die 80 Prozent der Gesundheitsleistungen erbringen, verzweifelt um jede Stelle, um jeden Lohnfranken kämpfen müssen, während anderswo Geld verschleudert wird.

100 Millionen Franken kostete der Bau des «Swiss Institute for Translational and Entrepreneurial Medicine» (SITEM) in Bern. Was genau hinter der modernen Glasfassade geschehen soll, hat Pierre-André Wagner immer noch nicht ganz verstanden, aber: «Aus dem Namen transpiriert, dass dort an Gesundheit und Krankheit viel Geld verdient wird.»

«Ich wurde gefragt, ob der Mensch noch im Mittelpunkt steht. Das ist er ganz gewiss. Die Frage ist nur: Im Mittelpunkt wovon?» Pierre-André Wagner

Nicht weit davon entfernt steht das Berner Inselspital, das in einem jahrelangen Gerichtsverfahren hunderttausende von Steuerfranken verpulverte. Die Oberärztin Natalie Urwyler war entlassen worden, weil sie nicht bereit war, nach ihrem Mutterschaftsurlaub voll, sprich vermutlich 70 bis 80 Stunden pro Woche, weiter zu arbeiten. Sie verklagte das Spital wegen Diskriminierung und gewann in jeder Instanz. Im Oktober 2018 gab das Inselspital bekannt, dass bis zu 700 Stellen gestrichen werden. Nicht in der Verwaltung, nicht in der Kodierung, sondern in der Pflege und in der Medizin.

«SITEM, die causa Urwyler und das vom Inselspital geplante - in der Zwischenzeit redimensionierte - Personalmassaker hängen nicht direkt zusammen», so Pierre-André Wagner. «Sie stehen aber für zwei Systeme, die eine toxische Verbindung eingegangen sind, um sich an den Patienten zu mästen - zulasten unserer Arbeitsbedingungen, unserer Krankenkassenprämien und unserer Steuern.» Die beiden Systeme hiessen «Geldgier» und «Macht» und ergäben zusammen ein Paradigma, das wir dringend überwinden müssten. «Den Patienten helfen: Das ist unser Auftrag. Dabei wird uns Nettigkeit nicht weiter bringen.»

Der Autor ortet Fehler im Denksystem, das alles den Bedürfnissen der Wirtschaft unterordnet, nach dem Motto: «Was für die Wirtschaft gut ist, ist für alle gut.» Dabei werde Ökonomie entgegen dem ursprünglichen Wortsinn - dem nachhaltigen, ganzheitlichen Bewirtschaften von Haus und Hof - in einem extrem verarmten Sinn verstanden: als grenzenloses, ungehemmtes Profitstreben um jeden Preis. «Das geht nur, indem Wirtschaft und Gesellschaft - alles, was eine funktionierende, prosperierende Gesellschaft ausmacht - gegeneinander ausgespielt werden, wobei klar ist, wer unter wessen Räder gerät, geraten muss.» Zerstört werden müsse zunächst der Gesellschafts- beziehungsweise der Gemeinschaftsgedanke an sich.

«Jeder Verkehrsunfall, jeder Dekubitus und jeder Schenkelhalsbruch steigert das Bruttosozialprodukt.» Pierre-André Wagner

Die Personalkosten sind der grösste Budgetposten der Betriebe, und die Löhne der Pflegefachleute und Ärzte sind wiederum der grösste Posten innerhalb dieses Postens. Die Folgekosten von Komplikationen, die entstehen, weil zu wenig Zeit (und Geld) für die Pflege vorhanden ist, sind für die Wirtschaft ein rentables Geschäft. Zwangsfinanziert wird es von der Gesellschaft in Form von Steuern, Krankenkassenprämien und Out-of-the-pocket-Leistungen. «Das ist der Grund, warum so viel Geld für teilweise völlig überflüssige Eingriffe und so wenig Geld für die Pflege, so viel Geld für medizinische Spitzentechnologie und so wenig für die Heime und die Pflege zu Hause vorhanden ist.»

Was ist zu tun? Lösungsansätze sieht Pierre-André Wagner in revolutionären Konzepten wie dem Buurtzorg-Konzept der Spitexpflege in Holland. Dort bilden Pflegefachleute kleinere quartier- oder dorfbezogene Einheiten, bestehend aus höchstens einem Dutzend gut ausgebildeter Mitarbeitenden. Die Gruppen sind elektronisch miteinander vernetzt und tauschen auf diesem Weg auch Erfahrungen und Fachwissen aus. Management, Controlling usw. wurden abgeschafft. Ein winziges Team erbringt das Wenige an unerlässlicher Administration für alle Gruppen gemeinsam.

Für Pierre-André Wagner ist klar: «Wenn es einen Beruf gibt, dem das Wohl und die Würde des Patienten am Herzen liegt, dann ist es die Krankenpflege, und deshalb gehört die Krankenpflege in die Bundesverfassung.»

Der vollständige Beitrag erschien im Original in der Zeitschrift «Krankenpflege» des SBK, Nr. 5/2019.

Mehr dazu

- Vollständiger Text von Pierre-André Wagner auf der Website von alzheimer.ch
- Demenz Meet in Zürich vom 15. bis 17. August 2019

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Quelle: alzheimer.ch