Probleme mit Kindern sind oft unsere eigenen

Unsere Vorstellungen geben wir gerne an unsere Kinder weiter. Doch nur zu oft setzen wir sie mit Gewalt durch und nehmen dabei die anderen nicht mehr wahr.

Von Kindern könnten wir eigentlich viel lernen. Stattdessen erwarten wir oft, dass sie sich unseren Vorstellungen beugen. Das muss nicht sein. (Foto: Jenn Evelyn-Ann, unsplash)

Immer wieder nehme ich im Alltag wahr, wie tief wir alle in unseren eigenen Positionen und Blickwinkeln gefangen sind. Ich halte es oft kaum aus, wie mit Kindern umgegangen wird. Kaum verhält sich ein Kind nicht nach unseren Vorstellungen, spielen sofort wir Erwachsenen die verletzten Kinder und versuchen, unsere Vorstellungen mit Gewalt durchzusetzen. Ich möchte wütend dazwischenfahren, wenn Eltern ihre schreienden Dreijährigen durch die Gegend schleifen und wenn Schulkinder blossgestellt, aus dem Zimmer geworfen oder zum Abschreiben der Hausordnung verknurrt werden.

Das Schlimmste aber ist: Ich bin selber gar nicht besser. Auch bei mir treffen (meine) Kinder immer wieder zielgenau den Nerv. Ich werde aus der Beziehung gerissen und sage und tue Dinge, die ich im Nachhinein bereue. Auf diese Weise geben wir die Verletzungen und Nöte weiter, die wir selber als Kind erlebt haben. So wird die Welt zum Kampfplatz mit all den zerstörerischen Kräften in zwischenmenschlichen und globalen Beziehungen.
Lieber geben wir die eigene Verletzung weiter, als sie selber zu fühlen. Lieber versuchen wir, unseren inneren Mangel mit Konsum zu kompensieren, als ihn wahrzunehmen. Lieber sehen wir die Verursacher unserer Not in der Gegenwart, als die Erkenntnis zuzulassen, dass die Gründe dafür in unserer Kindheit zu finden wären: Bei unseren Eltern vielleicht, bei den Lehrpersonen oder andern Erwachsenen.

Wie können wir den Teufelskreis durchbrechen, anstatt den bitteren Kelch, aus dem wir selber trinken mussten, einfach weiterzugeben? Neue pädagogische Ideen, freie, achtsame oder potenzialentfaltende Schulen oder Homeschooling helfen uns da nicht weiter – denn es zählt nicht die äussere Form. Wesentlich ist einzig, wie weit wir es schaffen, das was wir fühlen, mit unserem Innern zu verbinden. Das führt uns durch unseren eigenen Schmerz in die Beziehung zu uns selbst. Dies ist die Voraussetzung, um mit unseren Mitmenschen und vor allem unseren Kindern in eine wirkliche Beziehung zu treten.

Nur so nehme ich wahr, wie es dem Kind vor mir geht und kann ihm geben, was es braucht. Dann bin ich frei und brauche nichts mehr von ihm. Je häufiger dies gelingt, umso eher schaffen wir es, den Teufelskreis zu durchbrechen und etwas anderes weiterzugeben, als wir selber erlebt haben.
Leider kann dies mit keinem Tagesseminar vermittelt werden. Es bleibt unsere Lebensaufgabe, unsere Wahrnehmung und unser Bewusstsein dafür täglich zu schärfen und mehr und mehr in die Selbstverantwortung für unser Leben und das, was wir weitergeben, hinein zu wachsen.
Otto Herz hat mir dazu eine kleine Geschichte übermittelt: Einst kamen Gesandte aus der Ferne an den Hof des Kaisers von China. Der Kaiser fragte die Gesandten: «Gibt es Neues im Lande?» Die Gesandten verneigten sich vor dem Kaiser und antworteten höflich: «Nichts Neues, Majestät, aber kennen Majestät schon das Alte?»    
________________

Christian Wirz ist Geschäftsführer des «Freien Pädagogischen Arbeitskreises» (fpa), der sich für eine kindergerechte Schule einsetzt und zahlreiche Kurse für Lehrpersonen, Eltern und pädagogisch Interessierte anbietet.