Wir da, sie dort. Wir oben, sie unten.

Wieder einmal leben wir in einer Ära der Ausgrenzung, es entsteht Mauer um Mauer. Die meisten aber sind in unseren Köpfen. Wie werden wir sie los?

Wo Mauern errichtet werden, will man sie überwinden. Westjordanland, Mai 2018 (Foto: Klaus Petrus)

Wir sind soziale Tiere, lieben und brauchen die Gruppe. Ihr anzugehören, das beschützt uns, bindet uns ein, es festigt uns. Und es hilft, uns selbst zu finden: Wer bin ich? Wo gehöre ich hin? Die Gruppenzugehörigkeit, sagen Sozialwissenschaftler, sei der Zement jeder Gesellschaft. Würde sich der Mensch nicht in sozialen Gruppen organisieren – das kann seine Familie sein, eine Religionsgemeinschaft, eine Gang –, würde er sich nicht bloss isolieren. Er würde auch um seine Identität ringen. Denn die Selbsteinschätzung des Menschen hängt wesentlich davon ab, was die Anderen von ihm halten. Oder wie der Soziologe George Herbert Mead einmal sagte: «Alles, was wir über uns selbst wissen, wissen wir von anderen.»

Gruppenzugehörigkeit kann Fluch sein und Segen zugleich. Der Segen ist der Schutz, den eine Gruppe uns gewährt. Nicht zufällig erschaffen Gruppen Räume, in die sich ihre Mitglieder zurückziehen können: ins heimelige Zuhause, in eine Kirche, einen Club oder, abstrakter, in einen Chatroom oder eine Nationalität. Und nicht zufällig sind diese Räume, ob real oder virtuell, fast immer von Wänden, Mauern oder Grenzen umgeben, mit jemandem davor, der darüber entscheidet, wer hineindarf und wer draussen bleiben soll. Wir, die wir dazugehören, sind hier, alle anderen aber dort. Daran ist nichts auszusetzen, Grenzen sollen und müssen respektiert werden – gerade dort, wo sie Schwächeren Schutz vor den Mächtigen bieten oder nur schon, wo jemand dem Anderen signalisieren will: bis hierher will ich dich lassen, aber nicht weiter.

Manchmal wirkt die Grenze zwischen hier und dort unsichtbar, in den meisten Fällen aber ist sie materiell. Die Mauer steht sinnbildlich dafür, sie ist eines der ältesten Machwerke des Menschen. Spätestens als er sesshaft wurde, markierte sie die Grenze zwischen privat und öffentlich, oft verbunden mit Besitz: Was innerhalb der eigenen vier Wände ist, das gehört mir, der Rest dort draussen ist deins. (Was tat Robinson Crusoe, kaum strandete er auf der angeblich einsamen Insel? Der Mann baute einen Zaun.) Bald wurde der Schutzraum des eigenen Heims erweitert, es wurden Siedlungen und Städte ummauert, später Staatsgrenzen gezogen. Die Mauer markierte nicht mehr allein die Linie zwischen hier und dort oder Mein und Dein. Sie erzeugte auch Gegensätze wie vertraut und fremd, normal und deviant, legal und illegal. So entpuppte sich die Gruppenzugehörigkeit auch als Fluch: Mauern, unüberwindbar, bedrohlich, weitherum sichtbar, wurden ein Instrument der Ausgrenzung, indem sie räumliche Machtbeziehungen definierten und zementierten.

Tatsächlich dienen die meisten Mauern, Grenzen, Zäune, Palisaden und Barrieren, die der Mensch in den vergangenen Jahrhunderten erbaut hat, nur einem Zweck: auszuschliessen, was unerwünscht ist. Das gilt besonders hier und heute. 60 neue Grenzmauern wurden seit 1990 errichtet oder sind derzeit im Bau, das sind dreimal so viele wie im Kalten Krieg. Würde man sie aneinanderreihen, ergäbe das einen 41 000 Kilometer langen Wall, der einmal um die Welt reicht. Es sind die Mauern der Trumps, Orbáns und Netanjahus dieser Zeit. Manche von ihnen markieren besetztes Gebiet, viele – bis dahin 35 an der Zahl – sollen wieder einmal Migranten aufhalten.

Wie wird aus dem Wunsch, sich selbst und die Seinen mit Mauern zu beschützen, ein Zwang, die Anderen auszuschliessen? Das hat gewiss damit zu tun, dass man sie als Bedrohung empfindet, als Eindringlinge in den Schutzraum der eigenen Gruppe. Daneben gibt es noch eine weitere, ideologische Dimension der Ausgrenzung: Selten ist die eigene Gruppenzugehörigkeit neutral, vielmehr geht sie mit einer Aufwertung der eigenen Gruppe und also mit einer Abwertung der «Anderen» einher. Das hat System, wie der Rassismusforscher Albert Memmi schon in den 1970er-Jahren aufgedeckt hat.

Die Ausgrenzung der Anderen, so Memmi, erfolge stets in vier Schritten: Erstens werden tatsächliche oder bloss erdachte Unterschiede zwischen der eigenen Gruppe und den Anderen hervorgehoben, zum Beispiel: Wir sind vernünftig, zivilisiert, moralisch, die Anderen aber triebhaft, rückständig und barbarisch. Zweitens werden diese Unterschiede von uns so gewertet, dass die eigene Gruppe über den Anderen steht, will heissen: Gerade weil wir vernünftig sind, zivilisiert und moralisch, die Anderen aber triebhaft, rückständig und barbarisch, sind wir wertvoller als sie. Drittens erklären wir die Unterschiede zwischen uns und den Anderen als unhintergehbar und absolut: Keiner der Anderen ist derart vernünftig, zivilisiert und moralisch wie wir, und sie werden es auch niemals sein. Schliesslich – und für Memmi der entscheidende Schritt – werden diese Unterschiede dazu gebraucht, um angedrohtes oder tatsächlich aggressives Verhalten der eigenen Gruppe gegenüber den Anderen zu rechtfertigen: Weil wir mehr wert sind als sie, dürfen wir sie für unsere Zwecke nutzen, sie ausbeuten oder verfolgen, verletzen, ja sogar töten – und das alles erscheint uns ganz normal und natürlich.

Das ist natürlich sehr vereinfacht dargestellt. Und je nachdem, wer die Anderen sind, mag die Ab- und Ausgrenzung schwieriger sein. Doch einerlei, ob es sich bei den Anderen um Frauen, Schwarze, Juden, Homosexuelle, beeinträchtigte Menschen, Obdachlose, Prostituierte, «Zigeuner» oder Tiere handelt, für Memmi zielt diese Art der Ausgrenzung zwangsläufig auf Diskriminierung ab: Lebewesen werden allein aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie benachteiligt (Rassismus) oder aufgrund ihres Geschlechts (Sexismus), ihrer biologischen Spezies (Speziesismus), ihres Aussehens (Lookismus), ihres Alters (Ageismus), ihrer sexuellen Ausrichtung (z.B. Homophobie), ihrer Religion (z.B. Islamophobie) und so fort. Im schlimmsten Fall münden solche Ausgrenzungen in einen mitunter rücksichtslosen «Gruppenegoismus», der gewisse Lebewesen einzig und allein deswegen bevorzugt, weil sie zur eigenen Gruppe gehören.

Was auch bemerkenswert ist: Ausgrenzung durch Diskriminierung beruht fast immer auf Machtansprüchen. Es geht nicht allein um eine Grenze zwischen uns hier und denen dort, sondern um ein hierarchisches Gefälle. Wir da, sie dort, das heisst meist auch: wir oben, sie unten. Besonders augenfällig ist dies beim Speziesismus, der Unterdrückung der Tiere durch den Menschen. Die tatsächlichen oder vermeintlichen Unterschiede zwischen ihnen und uns (Vernunft, Sprache, Bewusstsein, Gottesebenbildlichkeit etc.) sollen im Grunde bloss jene «Seinsordnung» legitimieren, die unserem jüdisch-christlichen Weltbild immer schon zugrunde liegt und die Beherrschung der übrigen Tiere, ja der gesamten Natur vorsieht. Solche ideologische Gesinnung – im religiösen Kontext gipfelt sie in der gleichermassen wahnwitzigen wie unheilvollen Idee der «Krone der Schöpfung» – dient bekanntermassen dazu, sich die Komplexität der Wirklichkeit durch vereinfachte, arg reduzierte Deutungsmuster verständlich zu machen.

Dazu gehört auch, dass die Grenzen in unseren Köpfen zwischen uns hier und denen dort mit Stereotypen besetzt sind. Denn auch Stereotype sind dazu da, komplexe gesellschaftliche Prozesse so zu vereinfachen, dass sie für uns durchschaubar werden. Walter Lippmann hatte diesen Ausdruck bereits in den 1920er-Jahren in den wissenschaftlichen Diskurs eingeführt. Er war überzeugt, wir Menschen seien kognitiv zu beschränkt, um unsere soziale und politische Umwelt zu begreifen. Deswegen bräuchten wir Klischees. Der Erfolg des Populismus dürfte Lippmann (der übrigens zu einem einflussreichen Propagandisten des Neoliberalismus wurde) rechtgeben.

Die «pictures in our head» sind übermächtig. Das hat vor Jahren Frank Reuter in seinem Buch «Der Bann des Fremden» herausgearbeitet. Es geht darin um allerhand Klischees über «Zigeuner», von vermeintlich positiven Zuschreibungen rund um die «Zigeunerromantik» über den Mythos der «ewigen Nomaden» bis hin zum Bild von bettelnden, schmarotzenden, faulen, kriminellen, triebgesteuerten Asozialen. Die Wirkung solcher Bilder sei teilweise derart stark, dass wir als Einzelne kaum Kontrolle über Stereotype hätten. Sieht eine Person z.B. einen «Zigeuner», so würden automatisch die Vorstellungen aktiviert, wie sie in den gesellschaftlich verankerten Klischees enthalten seien.

Damit ist nicht gesagt, wir hätten als Individuen weder die Möglichkeit noch die Verantwortung, gegen Klischees anzugehen. Doch genauso wenig wie die meisten Mauern das Werk eines einzelnen Menschen sind, sind es die Grenzen in unseren Köpfen. Sie zu überwinden, das ist auch ein gesellschaftlicher Prozess. Und ein dringender dazu. Den Grund dafür hat Elaine Scarry, Professorin für Literatur, so zusammengefasst: «Die Fähigkeit des Menschen, anderen Verletzungen zuzufügen, ist deshalb so gross, weil unsere Fähigkeit, uns ein angemessenes Bild von ihnen zu machen, so klein ist.» Mit anderen Worten: Unsere Stereotype etwa über Juden, Homosexuellen oder – derzeit geradezu weltumspannend – von Geflüchteten aus dem Nahen und Mittleren Osten lassen unsere Vorstellungskraft von diesen Menschen als Individuen verkümmern und tragen so zu einer Verengung der Wirklichkeit bei. Mit dieser Verengung aber schwindet auch unsere Fähigkeit zur Einfühlung in den Anderen, die Empathie.

Empathie ist die Kraft, Grenzen zu überwinden und Mauern einzureissen. Doch dafür müssen wir allererst wieder unsere Vorstellungskraft aktivieren und damit beginnen, andere Geschichten zu erzählen. Diese hat eine Gesellschaft wie unsere, die sich zunehmend abgrenzt, bitter nötig. Es sind dies Geschichten, die Menschen nicht auf eine Rolle reduzieren oder auf ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe; Geschichten, die sie vielmehr  in ihrer besonderen Individualität und vielfältigen Persönlichkeit ebenso darstellen wie in ihrer urmenschlichen Verwundbarkeit – und damit allem, was sie nicht von uns unterscheidet, sondern uns ähnlich macht.

Es ist eine Binsenwahrheit: Offene Gesellschaften sollten möglichst keine Grenzen haben – jedenfalls nicht solche, die mit diskriminierender Ansicht gezogen werden. Sozialer und politischer Freiraum, Möglichkeiten zur Partizipation an gesellschaftlichen Entscheiden, demokratische Prozesse, all dies ist immer auch massgeblich geprägt von den Bildern, die wir von unserem Gegenüber haben. Doch je enger diese Bilder sind und je weniger wir das Einzigartige im Gegenüber erkennen, desto leichter fällt es uns, in ihm einen «Anderen» zu sehen, von dem wir uns abgrenzen und den wir abwerten müssen. Die Publizistin Carolin Emcke beschreibt es in ihrer Abhandlung «Gegen den Hass» so: «Wer sich nicht mehr vorstellen kann, wie einzigartig jede einzelne Muslima oder jeder Migrant ist, wer sich nicht vorstellen kann, wie ähnlich sie in ihrer Suche nach Glück und Würde sind, erkennt auch nicht ihre Verletzbarkeit als menschliche Wesen, sondern sieht nur das, was als Bild schon vorgefertigt ist. Und dieses Bild, diese Erzählung liefert Gründe, warum eine Verletzung von Muslimen (oder
Juden oder Feministinnen oder Intellektuellen oder Roma) zu rechtfertigen sei.»

Es ist ein langwieriger Prozess, mit neuen Bildern, mit anderen Geschichten die Grenzen in unseren Köpfen zu überwinden. Hoffnung indes zeigt sich überall dort draussen, wo Mauern niedergerissen oder überquert werden. Und das passiert immer wieder. Tatsächlich konnte bis heute kein einziger Grenzwall – weder der Limes noch die Grosse Mauer – die Menschen davon abhalten, irgendwann darüber hinwegzusteigen.

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