Zwischen zwei Trapezen

Editorial zur Ausgabe 161 «loslassen | dranbleiben»

Liebe Leserinnen und Leser

Wir sitzen im dunklen Zirkuszelt und schauen gebannt in die Höhe. Im Lichtkegel fliegt locker und kraftvoll ein Artist an seinem Trapez hin und her. Ihm gegenüber schwingt ein zweites und wir wissen: Er wartet auf den richtigen Moment und wird hinüberfliegen. Sobald er losgelassen hat, halten wir die Zeit für die Länge eines Gedankens an – und stellen fest, dass wir uns alle irgendwie zwischen zwei Trapezen befinden.

Das Alte haben wir innerlich schon losgelassen. Wir glauben nicht mehr daran, leben aber immer noch danach. Das Neue ist in Sicht, doch haben wir es schon gepackt? Nicht nur als Individuen, auch als ganze Menschheit, so scheint mir, sind wir zwischen zwei Trapezen. Der Materialismus in seinen verschiedenen Erscheinungsformen – Geld, Konsum, Wissenschaft, Normen – hat seine Strahlkraft weitgehend verloren. Und das Neue ist auch schon da, wenn auch nicht für alle sichtbar. Das ist der magische Moment zwischen den Trapezen, in dem alles möglich ist. Wenn wir zu lange am Alten hängen bleiben, verlieren wir den Schwung für das Neue. Wenn wir aus Mangel an Mut und Zuversicht den Zeitpunkt verpassen – und es kann im Grunde immer nur «jetzt» sein – stürzen wir ab.  

Zwischen zwei Trapezen befindet sich auch der Zeitpunkt. Nach 27 Jahren als Magazin ist es Zeit für ihn, die Form zu ändern und sich auf das Wesentliche zu beschränken: den mutigen Flug ans nächste Trapez, die grosse Umwälzung oder auf neudeutsch: die Revolution, die wir und die Welt so dringend brauchen. Der Zeitpunkt wird ab dem kommenden August vierteljährlich und in Buchform erscheinen, gründlicher, wesentlicher, kräftiger. Die Bärte müssen endlich brennen, wenn die Fackel der Wahrheit durch das Gedränge getragen wird. Das Aktuelle, die Hinweise und die Angebote zur Vernetzung pflegen wir auf der Website; die Essenz konzentrieren wir in einer Form, die man auch bei sich haben kann, wenn man nicht auf Linie – pardon: nicht online – ist.

Das wird bestimmt nicht nach jedermanns Gusto sein, obwohl ich natürlich hoffe, dass möglichst viele Zeitpunkt-Freunde den Flug ans nächste Trapez wagen. Damit das Loslassen vom alten Zeitpunkt leichter fällt, erscheint Ende Juni eine Sammlung der besten Texte aus 27 Jahren. Dann heisst es definitiv: dranbleiben am Neuen.

Über

Christoph Pfluger

Submitted by admin on Do, 07/13/2017 - 08:33

Christoph Pfluger ist seit 1992 der Herausgeber des Zeitpunkt. "Als Herausgeber einer Zeitschrift, deren Abobeitrag von den Leserinnen und Lesern frei bestimmt wird, erfahre ich täglich die Kraft der Selbstbestimmung. Und als Journalist, der visionären Projekten und mutigen Menschen nachspürt weiss ich: Es gibt viel mehr positive Kräfte im Land als uns die Massenmedien glauben lassen".

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