Zinslose Komplementärkredite

Es hängt viel davon ab, ob unsere Gesellschaft die Kraft aufbringt, nicht nur über Zinsen zu klagen, sondern zinslose Kredite zu organisieren. Sie sollten herkömmliche Kredite (noch) nicht ersetzen, sondern ergänzen: Komplementärkredite. Im Chiemgau läuft derzeit ein Experiment mit Kleinkrediten an, die in Regionalgeld ausgezahlt werden. (Roland Rottenfußer)

Wir ärgern uns über hohe Zinsen. Jeder Hauskäufer muss bei Laufzeiten über 20 Jahren Zinsen in einer Höhe berappen, die dem Preis für ein zweites Haus entsprechen. Warum gibt es nicht mehr Menschen und Organisationen, die dieses parasitäre System aushöhlen, indem sie Geld zinslos verliehen? Der Grund ist wohl allzu menschlich: So lange man Geld braucht, stöhnt man unter der Peitsche überhöhter Zinsforderungen. Verfügt man jedoch über ein Guthaben, verändert sich die Perspektive: Man möchte selbst Zinsen kassieren. Ist jemand finanziell in Not, werden ihm statt Hilfe noch weitere Belastungen aufgebürdet.



Das mit dem Nobelpreis gekrönte Projekt «Mikrokredite» von Mohammed Yunus bedeutet, bis zu 25 % Zinsen von den Ärmsten der Armen zu nehmen. Dies mag in vielen Fällen geholfen haben; in Indien haben Mikrokredite, die nicht zurückgezahlt werden konnten, aber auch schon zu Selbstmorden geführt. Es gibt kluge Begründungen dafür, warum Mikrokredite angeblich so viel kosten müssen, das Gefühl und der gesunde Menschenverstand sträuben sich jedoch dagegen. Stets wird von Befürwortern des Systems die «Zahlungsmoral» der Schuldner gelobt, über die Verleihmoral der Kreditgeber spricht niemand. Die Ärmsten brauchen zunächst Brot, dann Hilfe zur Selbsthilfe – uneigennützig und zinsfrei. Auch Kleinunternehmer, Studenten und Arbeitslose, die sich aus eigener Kraft aus der Prekariatsfalle befreien wollen, benötigen schnelle, unkomplizierte Hilfe: durch zinsfreie Kredite. Dies nützt nicht nur den Betroffenen und ihren Familien, sondern auch der Gesellschaft, die über «Kaufkraftverlust» klagt, aber gegen allgegenwärtigen Lebenskraftverlust durch ausbeuterische Kreditverträge keine Gegenwehr leistet.



Kaum eine gesellschaftliche Dienstleistung wäre wichtiger als zinslose Kredite, und bei keiner versagt das Wirtschaftssystem so vollständig. Ein nahe liegender Grund dafür: Niemand will solche Kredite vergeben oder organisieren. Man befürchtet, drauf zu zahlen, wenn Verwaltungsaufwand und Inflation zu eigenen Lasten gehen. Dabei müssten sich ethisch orientierte Kreditgeber nicht auf dem Altar der Nächstenliebe opfern. Sie müssten nur ihre Gier drosseln und freiwillig auf ein paar marktgängige Vorteile verzichten. Entscheidend ist dabei, dass man die Struktur des Zinses durchschaut und genau definiert, was mit «zinslos» gemeint ist.



Was bedeutet «zinslos»? Kreditzinsen setzen sich aus verschiedenen Komponenten zusammen: Die so genannte Bankenmarge umfasst tatsächliche Kosten der Bank, z.B. Raum-, Personal-, Verwaltungskosten, einen Risikozuschlag sowie den Gewinn der Banken vor Steuern. Dazu kommt der Inflationsausgleich, der Sparer vor Wertverlust schützt. Der Knappheitsaufschlag wird verlangt, sofern die Nachfrage nach Kapital grösser ist als das Angebot. Schliesslich gibt es den Grundzins, nach Keynes eine «Prämie auf Liquiditätsverzicht». Die Formulierung ist recht freundlich. Ich definiere Grundzins und Knappheitsaufschlag als illegitime Zusatzgebühren, die von Kreditnehmern erpresst werden, weil diese auf anderem Weg nicht zu Geld kommen können. (Das Gesetz fühlt sich diesbezüglich vor allem dem Schutz der Erpresser vor den Erpressten verpflichtet). Diese beiden Faktoren könnten bei ethischen Formen der Kreditvergabe komplett entfallen. Fraglich ist auch, ob eine Bank über die Deckung ihrer notwendigen Kosten hinaus Gewinn machen muss. Ein Inflationsausgleich scheint zunächst unvermeidlich, kann jedoch bei geringer Inflation und kürzeren Kreditlaufzeiten gegen Null gehen. Regiogeld- Experten gehen davon aus, dass bei flächendeckendem Einsatz von «Schwundgeld» Inflation und Deflation auf natürliche Weise gar nicht mehr entstehen.



Bleibt als legitimer Zinsanteil vor allem der Anteil der Bankenmarge, der nötig ist, damit Menschen, die sich im Komplementärkreditgeschäft engagieren, nicht umsonst arbeiten müssen. Kredit bedeutet in aller Regel bisher Ausbeutung. Der Wunsch, die Ausbeutung von Kreditnehmern zu vermeiden, findet seine Grenzen jedoch, wenn «ehrenamtliche» Mitarbeiter von Kreditinstituten ihrerseits ausgenutzt werden. Ein praktikabler Kompromiss bestünde in 1 bis 2 Prozent Bearbeitungsgebühr, die lt. Helmut Creutz ausreichen. Oder eine einmalige Pauschale bei Abschluss des Kreditvertrags, der die Kosten des Vermittlers deckt. Sehr wichtig ist als Ergänzung der völlige Verzicht auf Zinseszins. Denn in ihm liegt der eigentlich «Krebs der Volkswirtschaft». Wer 1000 Euro über 20 Jahre leiht, könnte in einem ethischen Kreditsystem z.B. 15 Euro (1,5 %) pro Jahr bezahlen, also 300 Euro insgesamt. Bei heute marktgängigen Zinssätzen von z.B. 6 %  kämen auf 1000 geliehene Euro aber 2207 Euro Zinsen.



Auch völlig zinslose Kredite sind natürlich möglich und prinzipiell wünschenswert. Sie können aber (wenn nicht ehrenamtliche Arbeit, also Selbstausbeutung herangezogen wird) nur vergeben werden, wenn eine Mischfinanzierung vorliegt. Die Genossenschaft regios eG  im Chiemgau, ein Projekt der grössten deutschen Regionalwährung «Der Chiemgauer», vergibt sowohl Kredite mit 7,5 Prozent Zinsen als auch zinslose Kredite – letztere allerdings nur in Regionalgeld. Die Verwaltungs- und Personalkosten der Genossenschaft werden im Moment über das Mikro-Kredit-Programm der Regierung über eine Gebühr vom Steuerzahler getragen.



Die Vorteile für das «Grosse Ganze» liegen auf der Hand: Die Regiogeld-Bewegung insgesamt wird gestärkt, weil mehr Regiogeld in Umlauf kommen. Es entsteht mehr Druck von Konsumentenseite auf Geschäfte, Regionalgeld anzunehmen. Wächst die Zahl der Annahmestellen, so werden wiederum Kleinkredite in der Komplementärwährung attraktiver, denn man kann sich genügend attraktive Produkte von dem Geld kaufen. Die Ausgabe von Regiogeld-Scheinen verhindert auch, dass zinslos geborgtes Geld wieder gegen Zins verliehen wird, denn dies ist mit Regiogeld nicht möglich. Also ein Schutz gegen den Missbrauch des Systems. Auch kann eine ethisch ausgerichtete Kreditverwaltung darauf achten, dass kein Geld an fragwürdige Projekte fliesst (etwa ein Waffengeschäft) und dass bevorzugt Existenzgründer in gemeinnützigen, lebensfreundlichen und nachhaltigen Sparten unterstützt werden. Paradebeispiel: Der Bioladen mit regionalen und Fairpreis-Produkten.



Mit Blick auf die Zukunft: Was wäre nun, wenn «jeder» plötzlich zinslose Kredite erhalten würde? Die Antwort ist: Wir hätten ein starkes Gegenmodell zum herkömmlichen ausbeuterischen Kreditsystem geschaffen. Würde sich neben dem zinsgestützten Kreditsystem ein komplementäres System etablieren, das zinslose Kredite vergibt, so hätte dies eine Wanderbewegung weg vom alten hin zum neuen System zur Folge. Auf Kreditgeber, die «noch» Zinsen verlangen, entstünde ein Druck, diese drastisch zu senken.



Es gibt allerdings Voraussetzung dafür, dass dies funktionieren kann:



-         Die Bankenmarge (ohne Bankengewinn) sowie Inflationsausgleich muss von den Kreditnehmern aufgebracht werden, um die Kreditverwaltung zu organisieren. 1-2 Prozent Zins würde dafür aber genügen.


-         Es ist darauf zu achten, dass Kredite nur für ethisch akzeptable Zwecke vergeben werden. Die Erhöhung des Bruttosozialprodukts durch Herstellung von Landminen wäre kein ausreichender Grund.


-         Persönliche und institutionelle Gier müssten so gut es geht aus dem System ausgeschlossen werden. Daher solle es den an der Kreditverwaltung Beteiligten in Massen gut gehen, ohne dass «Monstervermögen» angehäuft werden.


-         Es muss verhindert werden, dass mit zinslos geliehenem Geld spekuliert wird.



Letzteres ist aber schwierig, wenn es sich nicht, wie beim Chiemgauer, um «Schwundgeld» handelt – um Geld, das man nicht horten kann, weil es mit der Zeit an Wert verliert.



Ich habe hier bewusst das Kunstwort «Komplementärkredite» kreiert. Das Prinzip der komplementären Ergänzung hat sich überall bewährt, wo man das herrschende System entweder derzeit nicht aushebeln kann (wie beim Zinssystem) oder nicht aushebeln will, weil es in bestimmten Bereichen noch gebraucht wird (z.B. die Schulmedizin). Wollen wir die Allgegenwart des Zinssystems antasten, müssen wir funktionierende Pilotprojekte des Neuen schaffen. Sie dienen als Vor- und Gegenbilder sowie als belebende Konkurrenz, die den Verbrauchern erstmals eine wirkliche Wahl lassen: die Wahl zwischen einem erpressten Wucherzins und einer fairen Bearbeitungsgebühr für Kreditvermittler. Wie würden Sie wählen?


06. September 2010
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