Der Diener wird zum Herrn

Digitale Supermächte greifen nach der Macht im Netz. Computer beherrschen unseren Alltag wie nie zuvor und zwingen uns ihre Regeln auf. Wer programmiert da eigentlich wen? Buchautor Ibrahim Evsan («Der Fixierungscode») fordert mehr digitale Selbstbestimmung. (Roland Rottenfußer. Mehr zum Thema «Medienmanipulation» in der nächsten Zeitpunkt-Printausgabe)

Zu den grauenhaftesten Alpträumen, die das Kino hervorgebrachte hat, gehört wohl die Vorstellung, es könnte sprechende Plakatwände geben. Steven Spielberg hat das Szenario für «Minority Report» entworfen. Tom Cruise marschiert darin durch ein Spalier von Werbeplakaten. Ein Scanner wandert über seine Augen und identifiziert ihn durch eine blitzschnelle «Irisdiagnose». Bewegliche Werbefiguren sprechen ihn daraufhin persönlich an: «Hey Mr. Anderton, wie wär’s mit einem Drink?» Interessant ist dabei, dass Spielberg für seinen Film einige renommierte Zukunftsforscher engagiert hatte, die realistische Szenarios für das Jahr 2054 entwarfen. Das könnte bedeuten, dergleichen steht uns wirklich bevor.



Bis 2054 werden wir allerdings kaum warten müssen. Personenbezogene Werbung liegt im Trend. Firmen versuchen, immer mehr über unsere Charaktereigenschaften und Vorlieben herauszufinden, um uns durch möglichst zielgerichtete Ansprache für ihre Produkte zu gewinnen. So findet sich auf amazon eine merkwürdige Seite, genannt «Rolands Amazon.de». Ich habe den Machern der Seite weder das Du angeboten noch sie gebeten, mir eine persönliche Seite zu erstellen – also ein Fall rührender Anteilnahme am Kunden. «Rolands Amazon.de» enthält heute Bücher zu Hildegard von Bingen, CDs der Schweizer Gruppe «Stiller Has» und einen Film von Pedro Almodavar. Noch mal Glück gehabt, damit kann ich mich sehen lassen. Wäre ich der Typ, der am laufenden Band Pornos bestellt, so könnte meine Seite stattdessen anzeigen: «Speziell für Sie, Herr Rottenfußer, empfehlen wir heute die DVDs: ‚Leidenschaftliche Cousinen’ und ‚Megageile Muschis’».



«Die Täter sind im Netz nicht anonym», heisst es in der Werbung gegen illegale Downloads. Wenn ich eine bestimmte Webseite im Netz aufrufe, kann der Webmaster per Google Statistik über mich erfahren, in welcher Stadt ich wohne, welchen Artikel ich wann aufgerufen habe und bei welchen ich die Lektüre wieder abgebrochen habe. Google Statistik könnte, wenn das System weiter verfeinert wird, feststellen, dass ein Webbesucher, wohnhaft in meiner Strasse und Hausnummer, mehrmals wöchentlich Seiten zum Thema «Anarchie» aufrief. Er verweilte auf diesen Seiten durchschnittlich 7 Minuten. Einen Artikel über die staatsfraulichen Leistungen von Bundeskanzlerin Merkel verliess er dagegen schon nach 4 Sekunden. Was hat der Mann gegen Angela Merkel, und was interessiert ihn an Anarchie? Höchst verdächtig!



Mit solchen Themen befasst sich sehr gründlich auch ein neueres Buch namens «Der Fixierungscode» von Ibrahim Evsan. Die Hauptthese des Autors ist: Der Mensch wird nach und nach zum Sklaven der Technik. Der Titel «Fixierungscode» meint, die Kommunikationsgesellschaft sei «offenbar längst fixiert auf die digitalen Codes, die fest in unseren Alltag integriert sind.» Zu beobachten ist zunächst, dass sich eine zunehmende Abhängigkeit vom Computer einstellt: Ohne Computer kein Briefverkehr, keine Reisebuchung, kein Einkauf (ausser Lebensmitteln), kein Bankgeschäft. Und statt ein paar guten Freunden haben wir hunderte von „Friends“ – natürlich bei Facebook oder MySpace. Recht distanzierte Freunde, deren Körpergeruch und Händedruck wir nie kennen lernen werden



Vom Computer wird zunehmend ein Anpassungsdruck erzeugt, der die Art und Weise bestimmt, wie wir denken, unseren Tagesrhythmus planen usw. «Die neuartige Mensch-Geräte-Beziehung verändert Verhaltens- und Kommunikationsmuster. Ich behaupte sogar die digitale Welt bewirkt eine Art Programmierung in unseren Köpfen», schreibt Evsan. Übertrieben? Tatsache ist, dass der Computer die Regeln meiner Zusammenarbeit mit ihm teilweise diktatorisch bestimmt. «Ich habe die Geschäftsbedingungen gelesen und akzeptiere sie» – an dieser Stelle ein Kreuzchen per Mausklick zu machen ist z.B. die Eintrittskarte zu sehr vielen Seiten. Akzeptier es, oder du bist draussen. Den menschlichen Entscheidungsspielraum derart einzuengen, davon können reale Diktatoren nur träumen. Computer werfen uns gegen unseren Willen aus Programmen raus, wenn wir bestimmte Regeln nicht einhalten. Sie lassen, ohne uns zu fragen, Werbe-Popups uppoppen. Und sie zwingen uns zu «Sicherheitsmassnahmen», um Probleme zu lösen, die ohne die moderne Computertechnologie gar nicht entstanden wären. Und dies sind noch harmlose Beispiele. Wehe, es geht wirklich etwas schief, und man ist auf einen der technisch versierten Halbgötter angewiesen, die die Macht über unsere Kommunikationsvorgänge besitzen.



Ibrahim Evsans Buch ist in dieser Hinsicht inkonsequent. Einerseits kritisiert er die übermässige Bedeutung, die Computer in unserem Leben einnehmen; andererseits ist er erkennbar ein Technikfreak, der sich nicht vorstellen kann, dass es Menschen gibt, die Internetschnickschnack wie Facebook, Twitter, youtube, ICQ oder ebay generell für entbehrlich halten. Immer wieder rät Evsan seinen Lesern, auf ihre «Onlinereputation» zu achten und diese mit grösster Sorgfalt zu «managen». So als käme es hauptsächlich darauf an, sicher zu stellen, wie andere Menschen von einem denken, nicht darauf, zu schreiben, wovon man überzeugt ist.



Obwohl «Der Fixierungscode» mir also etwas zu opportunistisch und zu technikverliebt ist, enthält das Buch dennoch eine wichtige Warnung: Sei vorsichtig mit zu «spontanen», nicht durchdachten Äusserungen im Netz. Und gib nicht zu viele persönliche Daten von dir heraus. Wer immer auf Internetseiten Spuren hinterlässt, muss sich bewusst sein: Die Einträge dort sind verdammt zählebig. Sie können dich bis zu deinem Tod und darüber hinaus verfolgen. Zum Beispiel können sie von potenziellen Arbeitgebern, künftigen Partnern und Freunden eingesehen werden. So kann es für manchen Webnutzer schon ein Fortschritt sein, nicht jede Kommentarfunktion mit Pöbeleien und überflüssigen Kurzkommentare wie «Geil!» oder «Scheisse!» zu verzieren. Oder auf allzu enthüllende Einträge bei Twitter zu verzichten. («Hey Leute, ich geh jetzt mal in die Badewanne und danach steig ich mit meiner Alten in die Kiste.»)



Der Aufstieg der «digitalen Supermächte» google und amazon gehört zu den spannendsten Abschnitten in Ibrahim Evsans Buch. Was die jetzt schon von uns wissen, kann Angst machen. Und mehr noch die Projekte, die diese Giganten für die Zukunft in Angriff nehmen. Ein paar Beispiele: Für «Google Earth» werden derzeit alle Strassenzüge der Welt fotografiert. Ohne die Menschen, die dort wohnen, zu fragen. Wer zufällig dort vorbei geht, dessen Bild ist «für die Ewigkeit» für neugierige Surfer aufbewahrt. Für amazon werden derzeit so viele Bücher wie möglich digitalisiert. Dies könnte dem Absatz der Buchverlage in naher Zukunft drastisch schaden und macht Leser abhängig vom Anbieter bzw. von den dann unentbehrlichen «E-Book-Readern». Wer sein Urheberrecht einklagen will, der muss es vor einem amerikanischen Gericht nach amerikanischem Gesetz durchsetzen.



Das schlimmste sind allerdings nicht solche Details, sondern schlicht die Tatsache, dass sich da im Netz Macht zusammen ballt. Machtkonzentration bedeutet immer, dass die «Untertanen» auf den guten Willen der «Machthaber» angewiesen sind. Vielleicht wollen die Grossmächte wirklich nur ein paar harmlose Geschäfte mit Webanzeigen machen. Aber ist es «harmlos», wenn Internetdienste wie amazon, statt Bedürfnisse zu befriedigen, solche beständig neu stimulieren, um sich dann selbst als Dienstleister aufzudrängen? Und ist es harmlos, wenn ein Unternehmen wie google gigantische Datensätze verwaltet, die alle unsere Bewegungen im Internet registrieren? Fänden wir das auch akzeptabel, wenn es unser Bewegungen im wirklichen Leben beträfe? Wenn ein Unternehmen z.B. lückenlos wüsste, welche Geschäften, Clubs, Restaurants, Veranstaltungen wir besucht haben? Und was wäre, wenn der «gutmütige Riese» google einmal in falsche Hände käme – etwa in die eines machtgierigen, datenhungrigen Staatsapparats?




Ibrahim Evsan: Der Fixierungscode – Was wir über das Internet wissen müssen, wenn wir überleben wollen. Verlag Zabert Sandmann 2009, 166 S., geb. , Fr … Euro 16,95

15. Februar 2010
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