Verstädterung der Seelen
Die Zeit der gross geplanten Städte ist vorbei. Kann sich die Stadt unter diesen Voraussetzungen zu einer Gemeinschaft von freien Menschen entwickeln oder überwuchert der individualistische Wildwuchs den gemeinsamen Raum. Antworten von Carl Fingerhuth
Stadtplanung in unserer Zeit jenseits der Moderne ist nicht mehr Umsetzung eines Dogmas, der Bau von «Machines à habiter» oder der Ersatz der alten Stadt durch eine neue Stadt. Planung für die heutige Stadt jenseits der Moderne ist Transformation der Gestalt der Stadt, sodass diese den Bedürfnissen, Zielen und Werten der Gesellschaft entspricht. Der Architekt, Städtebauer oder Stadtplaner kommt dabei in eine neue Rolle. Er ist nicht mehr der autonome Künstler sondern der Handwerker, der dem Bedürfnis Gestalt geben muss. Die moderne Zeit hat die Welt vereinfacht. Etwas salopp formuliert; Marx hat sie auf die Ökonomie, Freud auf die Sexualität und die Architekten auf die Funktionalität reduziert.
Unsere Zeit jenseits der Moderne ist jedoch von einem erweiterten Bewusstsein geprägt. So muss sich auch die Transformation der Stadt mit radikal neuen Phänomenen auseinander setzen. Die Zeichnung von Saul Steinberg berichtet von dieser Situation: Unsere Städte sind zu betonierten Plattformen in der Landschaft geworden. Wir fühlen uns einsam und heimatlos am Ende einer langen, von rationalem Denken geprägten Epoche. Die Bodenhaftung und die Orientierung sind verloren gegangen. Wir haben die falschen Schuhe, um die Leiter herunterzuklettern und kein Baumaterial, eine Fluchttreppe zu bauen. Die Welt ist voll von Komplexität und Widersprüchlichkeit.
Das Interesse an kollektivem Wohnen, wie es sich in vielen Städten zeigt, und das neuen Engagement für das «Urban Gardening» sind exemplarische Phänomene in einem neuen Spiel der Stadt. Sie sind nicht isolierte neue Bedürfnisse sondern Aspekte eines neuen Paradigmas, einer neuen Sicht der Dinge. Eine von Rationalität und Wissenschaftlichkeit geprägte Zeit geht zu Ende. Damit geht auch die Zeit der modernen westlichen Stadt zu Ende. Radikal neue Werte treten hervor und wollen in die Struktur und Form der Stadt integriert werden:
Die Reintegration der von der Moderne verschütteten Potenziale unseres Bewusstseins: Emotionalität, Sinnlichkeit und Spiritualität des Menschen suchen nach Ausdruck und Gestalt in der Stadt.
Ein intensives Bewusstsein von der Einheit von Mensch und Natur will sich in der Gestalt der Stadt manifestieren.Bei der Transformation der Stadt zeigt sich ein neues Interesse für deren Gestalt als Körper der Gesellschaft.
Damit verknüpft ist ein Bewusstsein von der Polarität allen Seins. Neu oder alt sind nicht a priori richtig oder falsch. Kontinuität oder Veränderung in der Gestalt der Stadt müssen immer wieder gegeneinander abgewogen werden.
Die globale Wahrnehmung der Welt bewirkt eine neue Bedeutung des Individuellen. Ich und Wir sind verbundene Positionen und nicht Gegensätze.
Diese Überlegungen sind essentieller Teil der Transformation der Stadt. Der französischen Philosoph Michel Foucault nannte die grossen Wahrheiten der Moderne «megarecits» und postulierte ihr Ende in der Zeit jenseits der Moderne. Wir erleben eine Zeit der Parallelwahrheiten, Wahrheiten, die sich widersprechen, aber zusammengehören und Teil eines Ganzen bilden.
Eines der zentralen Parallelwahrheiten ist die Polarität von Individualität und Gemeinschaft in der Stadt. Dies gilt auf allen Ebenen: in der Wohnung, dem Haus, dem Quartier oder der Stadt als Ganzem. In der Transformation der Stadt muss versucht werden, für beide Pole günstige Voraussetzungen zu schaffen. Die starke Energie, in den Städten Hausgemeinschaften zu realisieren, ist die Manifestation eines neuen Bewusstseins auf der Ebene des Quartiers. Diese Projekte sind wichtige Vorhaben in der Suche nach sozialer Qualität in der Stadt. Sie sollen Gemeinschaft möglich machen, aber für den Einzelnen auch Individualität ermöglichen. Das «Kraftwerk» in Zürich ist dafür ein Vorzeigeprojekt geworden.
Entsprechendes gilt auf der Ebene der Wohnungsgrundrisse, wo über eine Flexibilität des Grundrisses dieses Spiel möglich bleiben soll – und das Prinzip gilt auch auf der Ebene des Städtebaus. Eine der grossen Herausforderungen der Transformation der Stadt jenseits der Moderne ist die Frage, inwieweit sich ein einzelnes Gebäude von der vorhandenen Struktur distanzieren darf und nur seine eigene Identität zelebrieren will oder die vorhandene Struktur ergänzt um nicht zum Heimat zerstörenden Fremdling zu werden.
Eine zweite grosse Parallelwahrheit zeigt sich auch im neuen Phänomen des «Urban Gardening. In den letzten Monaten erfahre ich, dass ein Teil meiner Familie, mein Anwalt, einer meiner Enkel und eine mit mir befreundete Tanztherapeutin alle stolze Eigentümer eines Familiengartens sind. Vorher habe ich niemanden persönlich gekannt, der sein Wochenende in seinem Familiengarten verbracht hat.
Die Einheit von Mensch und Natur will sich in der Stadt manifestieren, wird aber von einem alten «Megarecit» der griechisch-römischen Vergangenheit in Frage gestellt.
Im Buch «Die Schweiz – ein städtebauliches Porträt», das im Jahre 2006 von prominenten Architekten veröffentlicht wurde, beschreiben die Autoren die schweizerische Stadtlandschaft. Wichtig ist ihnen dabei der Vergleich der eigenen Vision der Schweizer Stadt mit der Psyche ihrer Landsleute. Marcel Meili stellt fest: «Es mangelt gleichsam an einer Verstädterung der Seelen.» Und Jacques Herzog fährt eine Seite weiter fort: «. . . dass man fast den Eindruck erhält, es handle sich um eine genetische Veranlagung der Schweizer.» Am Ende folgt das für die Autoren bestürzende Fazit: «Die Schweizer lieben Bäume mehr als Mauern!» Es besteht offensichtlich eine zweifache Prägung des Bewusstseins der Schweizer oder – mit Meilis Worten – eine Spaltung ihrer «genetischen Veranlagung». Auf der einen Seite gibt es in den Menschen eine Sehnsucht nach Urbanität, nach Gebautem, nach Künstlichem, auf der anderen Seite eine Sehnsucht nach dem «Baum», dem Nicht-Gebauten, dem von der Natur Bestimmten. Der Konflikt führt zu einem Vorwurf der Architekten an ihre Kunden und an die Politik. Und umgekehrt zu einem Gefühl bei vielen Bewohnern der Schweiz, von den Architekten nicht ernst genommen zu werden. Das kollektive Bewusstsein ist von der Polarität zweier radikal verschiedener Kulturen geprägt.
Wenn die Stadt gleichzeitig Menschengemeinschaft und Individualität ermöglichen soll, muss dieser Konflikt vielleicht nicht gelöst, aber ins Bewusstsein gebracht werden.
Carl Fingerhuth beschäftigt sich seit dem Abschluss seines Architekturstudiums mit der Stadt: Zuerst als Archäologe in Ägypten, dann mit einem eigenen Büro für Städtebau und Raumplanung in Zürich. Von 1978 bis 1992 war er Kantonsbaumeister von Basel, seither arbeitet er wieder selbständig als Experte. In dieser Rolle hat er Projekte in Europa, Afrika und Asien betreut. An Universitäten in der Schweiz, Amerika, Frankreich und Deutschland hat er Städtebau unterrichtet. Er ist Honorarprofessor der Technischen Universität Darmstadt. Ihn beschäftigt die Gestalt der Stadt jenseits der Moderne. Dazu ist von ihm das Buch «Learning from China – das Tao der Stadt» (Birkhäuser Verlag, 20014) erschienen.
Unsere Zeit jenseits der Moderne ist jedoch von einem erweiterten Bewusstsein geprägt. So muss sich auch die Transformation der Stadt mit radikal neuen Phänomenen auseinander setzen. Die Zeichnung von Saul Steinberg berichtet von dieser Situation: Unsere Städte sind zu betonierten Plattformen in der Landschaft geworden. Wir fühlen uns einsam und heimatlos am Ende einer langen, von rationalem Denken geprägten Epoche. Die Bodenhaftung und die Orientierung sind verloren gegangen. Wir haben die falschen Schuhe, um die Leiter herunterzuklettern und kein Baumaterial, eine Fluchttreppe zu bauen. Die Welt ist voll von Komplexität und Widersprüchlichkeit.
Das Interesse an kollektivem Wohnen, wie es sich in vielen Städten zeigt, und das neuen Engagement für das «Urban Gardening» sind exemplarische Phänomene in einem neuen Spiel der Stadt. Sie sind nicht isolierte neue Bedürfnisse sondern Aspekte eines neuen Paradigmas, einer neuen Sicht der Dinge. Eine von Rationalität und Wissenschaftlichkeit geprägte Zeit geht zu Ende. Damit geht auch die Zeit der modernen westlichen Stadt zu Ende. Radikal neue Werte treten hervor und wollen in die Struktur und Form der Stadt integriert werden:
Die Reintegration der von der Moderne verschütteten Potenziale unseres Bewusstseins: Emotionalität, Sinnlichkeit und Spiritualität des Menschen suchen nach Ausdruck und Gestalt in der Stadt.
Ein intensives Bewusstsein von der Einheit von Mensch und Natur will sich in der Gestalt der Stadt manifestieren.Bei der Transformation der Stadt zeigt sich ein neues Interesse für deren Gestalt als Körper der Gesellschaft.
Damit verknüpft ist ein Bewusstsein von der Polarität allen Seins. Neu oder alt sind nicht a priori richtig oder falsch. Kontinuität oder Veränderung in der Gestalt der Stadt müssen immer wieder gegeneinander abgewogen werden.
Die globale Wahrnehmung der Welt bewirkt eine neue Bedeutung des Individuellen. Ich und Wir sind verbundene Positionen und nicht Gegensätze.
Diese Überlegungen sind essentieller Teil der Transformation der Stadt. Der französischen Philosoph Michel Foucault nannte die grossen Wahrheiten der Moderne «megarecits» und postulierte ihr Ende in der Zeit jenseits der Moderne. Wir erleben eine Zeit der Parallelwahrheiten, Wahrheiten, die sich widersprechen, aber zusammengehören und Teil eines Ganzen bilden.
Eines der zentralen Parallelwahrheiten ist die Polarität von Individualität und Gemeinschaft in der Stadt. Dies gilt auf allen Ebenen: in der Wohnung, dem Haus, dem Quartier oder der Stadt als Ganzem. In der Transformation der Stadt muss versucht werden, für beide Pole günstige Voraussetzungen zu schaffen. Die starke Energie, in den Städten Hausgemeinschaften zu realisieren, ist die Manifestation eines neuen Bewusstseins auf der Ebene des Quartiers. Diese Projekte sind wichtige Vorhaben in der Suche nach sozialer Qualität in der Stadt. Sie sollen Gemeinschaft möglich machen, aber für den Einzelnen auch Individualität ermöglichen. Das «Kraftwerk» in Zürich ist dafür ein Vorzeigeprojekt geworden.
Entsprechendes gilt auf der Ebene der Wohnungsgrundrisse, wo über eine Flexibilität des Grundrisses dieses Spiel möglich bleiben soll – und das Prinzip gilt auch auf der Ebene des Städtebaus. Eine der grossen Herausforderungen der Transformation der Stadt jenseits der Moderne ist die Frage, inwieweit sich ein einzelnes Gebäude von der vorhandenen Struktur distanzieren darf und nur seine eigene Identität zelebrieren will oder die vorhandene Struktur ergänzt um nicht zum Heimat zerstörenden Fremdling zu werden.
Eine zweite grosse Parallelwahrheit zeigt sich auch im neuen Phänomen des «Urban Gardening. In den letzten Monaten erfahre ich, dass ein Teil meiner Familie, mein Anwalt, einer meiner Enkel und eine mit mir befreundete Tanztherapeutin alle stolze Eigentümer eines Familiengartens sind. Vorher habe ich niemanden persönlich gekannt, der sein Wochenende in seinem Familiengarten verbracht hat.
Die Einheit von Mensch und Natur will sich in der Stadt manifestieren, wird aber von einem alten «Megarecit» der griechisch-römischen Vergangenheit in Frage gestellt.
Im Buch «Die Schweiz – ein städtebauliches Porträt», das im Jahre 2006 von prominenten Architekten veröffentlicht wurde, beschreiben die Autoren die schweizerische Stadtlandschaft. Wichtig ist ihnen dabei der Vergleich der eigenen Vision der Schweizer Stadt mit der Psyche ihrer Landsleute. Marcel Meili stellt fest: «Es mangelt gleichsam an einer Verstädterung der Seelen.» Und Jacques Herzog fährt eine Seite weiter fort: «. . . dass man fast den Eindruck erhält, es handle sich um eine genetische Veranlagung der Schweizer.» Am Ende folgt das für die Autoren bestürzende Fazit: «Die Schweizer lieben Bäume mehr als Mauern!» Es besteht offensichtlich eine zweifache Prägung des Bewusstseins der Schweizer oder – mit Meilis Worten – eine Spaltung ihrer «genetischen Veranlagung». Auf der einen Seite gibt es in den Menschen eine Sehnsucht nach Urbanität, nach Gebautem, nach Künstlichem, auf der anderen Seite eine Sehnsucht nach dem «Baum», dem Nicht-Gebauten, dem von der Natur Bestimmten. Der Konflikt führt zu einem Vorwurf der Architekten an ihre Kunden und an die Politik. Und umgekehrt zu einem Gefühl bei vielen Bewohnern der Schweiz, von den Architekten nicht ernst genommen zu werden. Das kollektive Bewusstsein ist von der Polarität zweier radikal verschiedener Kulturen geprägt.
Wenn die Stadt gleichzeitig Menschengemeinschaft und Individualität ermöglichen soll, muss dieser Konflikt vielleicht nicht gelöst, aber ins Bewusstsein gebracht werden.
Carl Fingerhuth beschäftigt sich seit dem Abschluss seines Architekturstudiums mit der Stadt: Zuerst als Archäologe in Ägypten, dann mit einem eigenen Büro für Städtebau und Raumplanung in Zürich. Von 1978 bis 1992 war er Kantonsbaumeister von Basel, seither arbeitet er wieder selbständig als Experte. In dieser Rolle hat er Projekte in Europa, Afrika und Asien betreut. An Universitäten in der Schweiz, Amerika, Frankreich und Deutschland hat er Städtebau unterrichtet. Er ist Honorarprofessor der Technischen Universität Darmstadt. Ihn beschäftigt die Gestalt der Stadt jenseits der Moderne. Dazu ist von ihm das Buch «Learning from China – das Tao der Stadt» (Birkhäuser Verlag, 20014) erschienen.
22. April 2014
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