Die Armen sind nicht sozial schwach!
„Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche herrschende Gedanken, das heißt die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht“, heißt es in der „Deutschen Ideologie“ von Marx und Engels. Und so ist es auch heute noch: Der Neoliberalismus vergiftet mittels komplexer Indoktrinationsinstrumente die Gedanken der Menschen und spielt sie gegeneinander aus. Er bringt die Schwachen dazu, gegen die noch Schwächeren anzugehen und veranlasst ganze Gesellschaften, Arme, Schwache und Kranke als „Schmarotzer“, „römisch dekadent“, „Neider“, „faul“, „parasitär“ oder anderes anzusehen, ja, zu verachten. Die Würde der Unverwertbaren ist beständig bedroht. Nicht nur, aber auch von Linken, die meinen, im Kampf gegen Armut von „sozial Schwachen“ sprechen und hierdurch vermeintlich deren Interessen vertreten zu müssen. Das meint zumindest die Politologin und Autorin Magda von Garrel in einer soeben erschienenen Analyse. Jens Wernicke sprach mit ihr.
Frau von Garrel, gegen Ende Ihres kürzlich erschienenen Forum Wissenschaft“ stellen Sie fest, dass es sich bei dieser Kennzeichnung um einen Kampfbegriff handelt. Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?
Dafür gibt es gleich mehrere Gründe: Die Etikettierung armer Menschen als „sozial Schwache“ lässt Fragen nach den Ursachen ihrer gesellschaftlichen Marginalisierung und Benachteiligung gar nicht erst aufkommen und hat zudem einen völlig ungerechtfertigten schuldzuweisenden Effekt, der auf eine Zementierung der bestehenden Macht- und Unterdrückungsverhältnisse hinausläuft.
Wie bitte? Wie denn das?
Nun, fangen wir doch mal mit dem Begriff an: Was soll das denn eigentlich sein, „sozial schwach“? Vom Wortsinn her kann damit doch nur die weitgehende Unfähigkeit zur Ausübung gemeinschaftsdienlicher Handlungen gemeint sein, das heißt ein extrem egoistisches beziehungsweise unsolidarisches Verhalten.
Wenn ich mich unter dieser Perspektive so umsehe, dann weiß ich aber, dass es vor allem die Reichen sind, die als „sozial schwach“ bezeichnet werden müssten. Deshalb ist diese im Zusammenhang mit den Armen gebräuchliche Titulierung nicht nur schlicht falsch, sondern unterstellt diesen darüber hinaus ein für ihre Armut ursächliches „Charakterdefizit“.
Die Zuschreibung „sozial schwach“ wird in aller Regel doch so interpretiert: Wenn die damit Gemeinten sich endlich einmal um die Stärkung ihrer „sozialen Fähigkeiten“ bemühten, ginge es ihnen auch besser. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass eine wirksame Bekämpfung der Armut gar nicht erst angezeigt ist beziehungsweise von den Armen selbst zu erledigen wäre. Auf diese Weise lässt sich ganz bequem jeder Veränderungsbedarf leugnen und das meine ich mit Zementierung der bestehenden Verhältnisse.
Wer so redet, kollaboriert also sozusagen mit Hartz-IV-Ideologie? Meinen Sie das?
Ja, genau. Aus der von Ihnen angesprochenen Personalisierung lässt sich tatsächlich der verheerende Satz ableiten: „Die Menschen sind arm, weil sie soziale Defizite haben.“ Offen ausgesprochen wird dieser zwar kaum, denn der Anschein einer auf das Wohl aller Bürger bedachten Politik soll ja schon gewahrt bleiben. Schließlich geht es darum, die Reichen möglichst unbehelligt noch reicher werden zu lassen und das kann nur funktionieren, wenn die Schuldzuweisung nicht zu provokativ daherkommt.
Wieso aber reden und denken dann so viele sich selbst als fortschrittlich verstehende Menschen in derlei Kategorien und Begriffen, die, wenn ich recht verstehe, der Unterdrückung der Armen durch die Reichen einen ideologischen Vorschub leisten? Wie kommt es dazu?
Diese Frage kann ich leider nur ansatzweise beantworten. Aber ich erkläre mir das so: Zum einen haben sich neoliberale Denkmuster schon sehr in unseren Köpfen festgesetzt. In diesem Zusammenhang könnte man von einem Denkgiften“ vom Erkennen der sozialen Realität abzuhalten versucht und inzwischen nur noch von wenigen Menschen radikal bekämpft wird.
Zum anderen hat das Festhalten an den jetzigen fragwürdigen Zuschreibungen sicher auch damit zu tun, dass sie nicht – wie zum Beispiel die im Nationalsozialismus üblichen Begriffe „Asoziale“ oder „Ballastexistenzen“ – historisch vorbelastet sind. Dadurch wird leicht übersehen, dass es bei der schuldzuweisenden Funktion der Begrifflichkeiten an sich geblieben ist und der neu gewählte Begriff „sozial schwach“ allenfalls nur netter klingt.
Ganz ähnlich verhält es sich übrigens mit dem allseits – und zu meiner Enttäuschung auch von den Linken – gern vor- und nachgebeteten Bildungsversprechen.
Inwiefern denn das?
Das liegt doch auf der Hand: Auch beim Bildungsversprechen geht es um Schuldzuschreibungen und Individualisierung. Die zentrale Botschaft des Bildungsversprechens ist die den jungen Menschen vermittelte Zuversicht, dass höhere Schulabschlüsse gute bis sehr gute Berufsaussichten eröffnen. Aber tatsächlich stimmt diese Gleichung hinten und vorne nicht. Das fängt schon damit an, dass es so viele hochkarätige Berufe, die auch noch unbesetzt sind, auf einen Schlag gar nicht geben kann.
Das Bildungsversprechen ist aber vor allem deshalb fragwürdig, weil – wie ich vorhin schon angedeutet habe – dieses als Problemlösung gefeierte Angebot in Wirklichkeit nur dazu dient, Verantwortung abzuschieben. Anstatt den Versuch zu unternehmen, die Armut durch eine gerechtere Vermögensverteilung zu bekämpfen, sollen es ausgerechnet die Kinder der Armen – ich betone: Kinder! – selbst in die Hand nehmen, die staatlichen Versäumnisse auszugleichen.
Nicht gesagt wird, dass die für einen höheren Bildungsweg erforderlichen Anstrengungen genauso individuell sind wie die zu erwartenden Ergebnisse: Allenfalls Einzelne schaffen den Weg nach oben, aber eine allgemeine Beseitigung der Armut ist auf diese Weise nicht zu erreichen.
Dagegen ließe sich aber einwenden, dass eben doch auch Leistung den einzelnen befähigt, voranzukommen, Karriere zu machen etc. Diese Tatsache ist doch real…
Ja, sicher, das habe ich ja auch gar nicht bestritten, aber damit ist doch das Grundproblem nicht gelöst. Außerdem müssen wir auch an diejenigen denken, die mangels ausreichender Unterstützung schon weit vor dem Ziel aufgeben müssen. Die werden sich dann doch erst recht als Versager fühlen, weil sie es versucht, aber nicht geschafft haben.
Und schließlich sind auch die Erfolge der Aufsteiger in aller Regel teuer erkauft. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie vielen Demütigungen arme Kinder ausgesetzt sein können, obwohl es zur damaligen Zeit nicht einmal derart krasse Einkommensunterschiede wie heute gab und sich die beruflichen Perspektiven sogar noch sehen lassen konnten. Demgegenüber kann es heutigen armen Kindern, die sich auf diesen mühseligen Weg begeben, schnell passieren, dass sie am Ende über prekäre Arbeitsverhältnisse nicht hinauskommen oder sogar ganz mit leeren Händen dastehen.
Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie bitter das sein muss: Sich jahrelang im Hamsterrad abgestrampelt und gegen die strukturelle Benachteiligung in den Bildungseinrichtungen angekämpft zu haben, um dann schließlich feststellen zu müssen, nie wirklich angekommen zu sein.
Aber es gibt doch auch Unterstützungsangebote. Ich denke da etwa an berufsbegleitende Maßnahmen, das Teilhabepaket und anderes…
Das alles sind doch bloße Feigenblätter, die den Initiatoren mehr bringen als den Betroffenen selbst. Schauen Sie sich doch bloß den so genannten Übergangsbereich an. Da jagt eine Maßnahme die andere, aber dauerhafte Arbeitsplätze kommen am Ende nur höchst selten dabei heraus. Oder eben auch das genannte Teilhabepaket: Ganz aktuell haben der Kinderschutzbund und der Paritätische Wohlfahrtsverband dessen Scheitern konstatiert.
Wer kann denn ernsthaft glauben, dass ein paar punktuelle Wohltaten ausreichend sind, um die krass unterschiedlichen Ausgangsbedingungen bis hin zu einem ungefähren Gleichstand zu kompensieren? Angesichts dieser durch so etwas niemals überwindbaren sozialen Schieflage finde ich es wirklich verwerflich, dass mit etlichen dieser scheinsolidarischen Maßnahmen sogar noch Geld verdient wird…
Wenn ich Sie richtig verstanden habe, läuft in den von Ihnen genannten Bereichen so ziemlich alles falsch. Was würden Sie denn empfehlen? Was können, was sollten wir tun?
Nun, das stimmt ja nur zum Teil. Denn für die Reichen läuft es doch richtig gut! Und das wahrzunehmen, ist sicher schon ein Teil dessen, was als Weg hin zu einer Lösung anzusehen ist: Wir müssen feststellen, immer und immer wieder feststellen, dass Armut und Elend im Lande nicht vom Himmel gefallen, sondern politisch gewollte Resultate dessen sind, was Warren Buffet, der drittreichste Mann der Welt, als „Klassenkampf“ der Reichen gegen die Armen deklariert.
Vor diesem Hintergrund sollte es sich von selbst verstehen, dass der Begriff „sozial Schwache“ aus dem Wortschatz der sozial Engagierten ersatzlos zu streichen ist. Wenn stattdessen unumwunden von Armen die Rede wäre, könnte das der Beginn eines sich allmählich vollziehenden Umdenkens sein, das die ungerechtfertigten Schuldzuschreibungen hinter sich lässt und sich stattdessen auf den Weg einer sozialen Analyse der bestehenden Machtverhältnisse begibt.
Damit meine ich insbesondere die Erkenntnis, dass – auch in schulischer Hinsicht – die beste aller Maßnahmen im Kampf gegen die Armut besteht. Anders ausgedrückt: Anstelle einer Bekämpfung der Armen beziehungsweise der Arm-Gemachten muss es zu einer massiven Umverteilung des immens vorhandenen gesellschaftlichen Reichtums kommen.
Konkret empfehle ich für die dann erforderliche Auseinandersetzung und Strategie eine Konzentration auf einzelne Aspekte der ungerechten Vermögensverteilung. Als Beispiel sei die augenblicklich anstehende Überarbeitung des Gesetzes zur Besteuerung ererbter Firmenvermögen genannt. In diesem Zusammenhang sollte man Schäubles Offerte, die ererbten Vermögen auch weiterhin möglichst klein rechnen zu können, ebenso anprangern wie die Tatsache, dass es sich ungeachtet der gigantischen Summen um völlig leistungslos erworbene Besitzstände handelt. Damit wäre dann auch klar, dass die ständigen Aufforderungen zur Erhöhung der „Leistungsbereitschaft“ nichts als hohle Phrasen sind, mit denen vor allem der Mittelstand geködert beziehungsweise bei der Stange gehalten werden soll.
Denkbar sind natürlich auch scharfe Reaktionen auf tagesaktuelle Geschehnisse wie etwa das Bekanntwerden der sogenannten „Panama Papers“. Hier böte sich ein akribisches Aufrechnen der versteckten Vermögenswerte mit den in allen Bereichen der öffentlichen Daseinsvorsorge gegenwärtig bestehenden Finanzierungslücken an.
Ich bedanke mich für das Gespräch.
Magda von Garrel ist Sonderpädagogin (Fachbereiche: Sprachbehinderungen und Verhaltensstörungen) sowie Diplom-Politologin und war als Integrationslehrerin an Grund-, Haupt-, Sonder- und Berufsschulen tätig. Zuletzt erschien von ihr „Instandsetzungspädagogik Integrationsansätze für lernentwöhnte Kinder“ im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht.
Dafür gibt es gleich mehrere Gründe: Die Etikettierung armer Menschen als „sozial Schwache“ lässt Fragen nach den Ursachen ihrer gesellschaftlichen Marginalisierung und Benachteiligung gar nicht erst aufkommen und hat zudem einen völlig ungerechtfertigten schuldzuweisenden Effekt, der auf eine Zementierung der bestehenden Macht- und Unterdrückungsverhältnisse hinausläuft.
Wie bitte? Wie denn das?
Nun, fangen wir doch mal mit dem Begriff an: Was soll das denn eigentlich sein, „sozial schwach“? Vom Wortsinn her kann damit doch nur die weitgehende Unfähigkeit zur Ausübung gemeinschaftsdienlicher Handlungen gemeint sein, das heißt ein extrem egoistisches beziehungsweise unsolidarisches Verhalten.
Wenn ich mich unter dieser Perspektive so umsehe, dann weiß ich aber, dass es vor allem die Reichen sind, die als „sozial schwach“ bezeichnet werden müssten. Deshalb ist diese im Zusammenhang mit den Armen gebräuchliche Titulierung nicht nur schlicht falsch, sondern unterstellt diesen darüber hinaus ein für ihre Armut ursächliches „Charakterdefizit“.
Die Zuschreibung „sozial schwach“ wird in aller Regel doch so interpretiert: Wenn die damit Gemeinten sich endlich einmal um die Stärkung ihrer „sozialen Fähigkeiten“ bemühten, ginge es ihnen auch besser. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass eine wirksame Bekämpfung der Armut gar nicht erst angezeigt ist beziehungsweise von den Armen selbst zu erledigen wäre. Auf diese Weise lässt sich ganz bequem jeder Veränderungsbedarf leugnen und das meine ich mit Zementierung der bestehenden Verhältnisse.
Wer so redet, kollaboriert also sozusagen mit Hartz-IV-Ideologie? Meinen Sie das?
Ja, genau. Aus der von Ihnen angesprochenen Personalisierung lässt sich tatsächlich der verheerende Satz ableiten: „Die Menschen sind arm, weil sie soziale Defizite haben.“ Offen ausgesprochen wird dieser zwar kaum, denn der Anschein einer auf das Wohl aller Bürger bedachten Politik soll ja schon gewahrt bleiben. Schließlich geht es darum, die Reichen möglichst unbehelligt noch reicher werden zu lassen und das kann nur funktionieren, wenn die Schuldzuweisung nicht zu provokativ daherkommt.
Wieso aber reden und denken dann so viele sich selbst als fortschrittlich verstehende Menschen in derlei Kategorien und Begriffen, die, wenn ich recht verstehe, der Unterdrückung der Armen durch die Reichen einen ideologischen Vorschub leisten? Wie kommt es dazu?
Diese Frage kann ich leider nur ansatzweise beantworten. Aber ich erkläre mir das so: Zum einen haben sich neoliberale Denkmuster schon sehr in unseren Köpfen festgesetzt. In diesem Zusammenhang könnte man von einem Denkgiften“ vom Erkennen der sozialen Realität abzuhalten versucht und inzwischen nur noch von wenigen Menschen radikal bekämpft wird.
Zum anderen hat das Festhalten an den jetzigen fragwürdigen Zuschreibungen sicher auch damit zu tun, dass sie nicht – wie zum Beispiel die im Nationalsozialismus üblichen Begriffe „Asoziale“ oder „Ballastexistenzen“ – historisch vorbelastet sind. Dadurch wird leicht übersehen, dass es bei der schuldzuweisenden Funktion der Begrifflichkeiten an sich geblieben ist und der neu gewählte Begriff „sozial schwach“ allenfalls nur netter klingt.
Ganz ähnlich verhält es sich übrigens mit dem allseits – und zu meiner Enttäuschung auch von den Linken – gern vor- und nachgebeteten Bildungsversprechen.
Inwiefern denn das?
Das liegt doch auf der Hand: Auch beim Bildungsversprechen geht es um Schuldzuschreibungen und Individualisierung. Die zentrale Botschaft des Bildungsversprechens ist die den jungen Menschen vermittelte Zuversicht, dass höhere Schulabschlüsse gute bis sehr gute Berufsaussichten eröffnen. Aber tatsächlich stimmt diese Gleichung hinten und vorne nicht. Das fängt schon damit an, dass es so viele hochkarätige Berufe, die auch noch unbesetzt sind, auf einen Schlag gar nicht geben kann.
Das Bildungsversprechen ist aber vor allem deshalb fragwürdig, weil – wie ich vorhin schon angedeutet habe – dieses als Problemlösung gefeierte Angebot in Wirklichkeit nur dazu dient, Verantwortung abzuschieben. Anstatt den Versuch zu unternehmen, die Armut durch eine gerechtere Vermögensverteilung zu bekämpfen, sollen es ausgerechnet die Kinder der Armen – ich betone: Kinder! – selbst in die Hand nehmen, die staatlichen Versäumnisse auszugleichen.
Nicht gesagt wird, dass die für einen höheren Bildungsweg erforderlichen Anstrengungen genauso individuell sind wie die zu erwartenden Ergebnisse: Allenfalls Einzelne schaffen den Weg nach oben, aber eine allgemeine Beseitigung der Armut ist auf diese Weise nicht zu erreichen.
Dagegen ließe sich aber einwenden, dass eben doch auch Leistung den einzelnen befähigt, voranzukommen, Karriere zu machen etc. Diese Tatsache ist doch real…
Ja, sicher, das habe ich ja auch gar nicht bestritten, aber damit ist doch das Grundproblem nicht gelöst. Außerdem müssen wir auch an diejenigen denken, die mangels ausreichender Unterstützung schon weit vor dem Ziel aufgeben müssen. Die werden sich dann doch erst recht als Versager fühlen, weil sie es versucht, aber nicht geschafft haben.
Und schließlich sind auch die Erfolge der Aufsteiger in aller Regel teuer erkauft. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie vielen Demütigungen arme Kinder ausgesetzt sein können, obwohl es zur damaligen Zeit nicht einmal derart krasse Einkommensunterschiede wie heute gab und sich die beruflichen Perspektiven sogar noch sehen lassen konnten. Demgegenüber kann es heutigen armen Kindern, die sich auf diesen mühseligen Weg begeben, schnell passieren, dass sie am Ende über prekäre Arbeitsverhältnisse nicht hinauskommen oder sogar ganz mit leeren Händen dastehen.
Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie bitter das sein muss: Sich jahrelang im Hamsterrad abgestrampelt und gegen die strukturelle Benachteiligung in den Bildungseinrichtungen angekämpft zu haben, um dann schließlich feststellen zu müssen, nie wirklich angekommen zu sein.
Aber es gibt doch auch Unterstützungsangebote. Ich denke da etwa an berufsbegleitende Maßnahmen, das Teilhabepaket und anderes…
Das alles sind doch bloße Feigenblätter, die den Initiatoren mehr bringen als den Betroffenen selbst. Schauen Sie sich doch bloß den so genannten Übergangsbereich an. Da jagt eine Maßnahme die andere, aber dauerhafte Arbeitsplätze kommen am Ende nur höchst selten dabei heraus. Oder eben auch das genannte Teilhabepaket: Ganz aktuell haben der Kinderschutzbund und der Paritätische Wohlfahrtsverband dessen Scheitern konstatiert.
Wer kann denn ernsthaft glauben, dass ein paar punktuelle Wohltaten ausreichend sind, um die krass unterschiedlichen Ausgangsbedingungen bis hin zu einem ungefähren Gleichstand zu kompensieren? Angesichts dieser durch so etwas niemals überwindbaren sozialen Schieflage finde ich es wirklich verwerflich, dass mit etlichen dieser scheinsolidarischen Maßnahmen sogar noch Geld verdient wird…
Wenn ich Sie richtig verstanden habe, läuft in den von Ihnen genannten Bereichen so ziemlich alles falsch. Was würden Sie denn empfehlen? Was können, was sollten wir tun?
Nun, das stimmt ja nur zum Teil. Denn für die Reichen läuft es doch richtig gut! Und das wahrzunehmen, ist sicher schon ein Teil dessen, was als Weg hin zu einer Lösung anzusehen ist: Wir müssen feststellen, immer und immer wieder feststellen, dass Armut und Elend im Lande nicht vom Himmel gefallen, sondern politisch gewollte Resultate dessen sind, was Warren Buffet, der drittreichste Mann der Welt, als „Klassenkampf“ der Reichen gegen die Armen deklariert.
Vor diesem Hintergrund sollte es sich von selbst verstehen, dass der Begriff „sozial Schwache“ aus dem Wortschatz der sozial Engagierten ersatzlos zu streichen ist. Wenn stattdessen unumwunden von Armen die Rede wäre, könnte das der Beginn eines sich allmählich vollziehenden Umdenkens sein, das die ungerechtfertigten Schuldzuschreibungen hinter sich lässt und sich stattdessen auf den Weg einer sozialen Analyse der bestehenden Machtverhältnisse begibt.
Damit meine ich insbesondere die Erkenntnis, dass – auch in schulischer Hinsicht – die beste aller Maßnahmen im Kampf gegen die Armut besteht. Anders ausgedrückt: Anstelle einer Bekämpfung der Armen beziehungsweise der Arm-Gemachten muss es zu einer massiven Umverteilung des immens vorhandenen gesellschaftlichen Reichtums kommen.
Konkret empfehle ich für die dann erforderliche Auseinandersetzung und Strategie eine Konzentration auf einzelne Aspekte der ungerechten Vermögensverteilung. Als Beispiel sei die augenblicklich anstehende Überarbeitung des Gesetzes zur Besteuerung ererbter Firmenvermögen genannt. In diesem Zusammenhang sollte man Schäubles Offerte, die ererbten Vermögen auch weiterhin möglichst klein rechnen zu können, ebenso anprangern wie die Tatsache, dass es sich ungeachtet der gigantischen Summen um völlig leistungslos erworbene Besitzstände handelt. Damit wäre dann auch klar, dass die ständigen Aufforderungen zur Erhöhung der „Leistungsbereitschaft“ nichts als hohle Phrasen sind, mit denen vor allem der Mittelstand geködert beziehungsweise bei der Stange gehalten werden soll.
Denkbar sind natürlich auch scharfe Reaktionen auf tagesaktuelle Geschehnisse wie etwa das Bekanntwerden der sogenannten „Panama Papers“. Hier böte sich ein akribisches Aufrechnen der versteckten Vermögenswerte mit den in allen Bereichen der öffentlichen Daseinsvorsorge gegenwärtig bestehenden Finanzierungslücken an.
Ich bedanke mich für das Gespräch.
Magda von Garrel ist Sonderpädagogin (Fachbereiche: Sprachbehinderungen und Verhaltensstörungen) sowie Diplom-Politologin und war als Integrationslehrerin an Grund-, Haupt-, Sonder- und Berufsschulen tätig. Zuletzt erschien von ihr „Instandsetzungspädagogik Integrationsansätze für lernentwöhnte Kinder“ im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht.
Dieser Text erschien zuerst auf den "NachDenkSeiten - die kritische Website". Die Verwertung durch uns erfolgt im Rahmen der Creative Commons Lizenz 2.0 Non-Commercial, unter welcher er publiziert wurde.
21. April 2016
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