Die Inklusionslüge

Unsere Schulen scheinen nicht nur kinderfeindlich zu sein. Auch und gerade die Rhetorik und aktuelle politische Praxis um das diesbezügliche „Endlich soll das besser werden!“, das insbesondere Politiker, die sich für inklusive Beschulung und also eine bessere Behandlung von Kindern mit Behinderungen einsetzen, könnte sich als groß angelegte Täuschung erweisen. Das befürchtet jedenfalls – gemeinsam mit anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren – der Sozialethiker Uwe Becker im Gespräch mit Jens Wernicke.

Herr Becker, gerade erschien Ihr neues Buch „Die Inklusionslüge. Behinderung im flexiblen Kapitalismus“. Da Inklusion gerade in aller Munde ist und von Verbänden und Gewerkschaften – zu Recht, wie ich finde – massiv vorangetrieben wird, muss ich fragen: Wo genau machen Sie hier denn eine Lüge aus?
Natürlich soll der Titel auch provozieren, aber er ist nicht im Sinne einer moralischen Vorhaltung gemeint. Vielmehr geht es um eine politische Aussage, die ich übrigens als leidenschaftlicher Befürworter der Inklusion treffe. Von daher stehe ich ganz und gar an der Seite von Behindertenverbänden und Gewerkschaften, die ja die faktische Entwicklung, die die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention nimmt, ebenfalls kritisieren.
Mit meinem Wort von der „Inklusionslüge“ konstatiere ich schlicht eine massive Verschleierung der politischen Wahrheit. Und diese Wahrheit ist zunächst einmal finanzieller Natur. „Inklusion“ ist ein gesellschaftliches Projekt, das wertvoll und daher auch kostenintensiv ist. Das betrifft Ansprüche an die Kassen von Bund, Ländern und die Kommunen. Es ist allerdings nirgends zu erkennen, dass diese Ressourcen überhaupt zur Verfügung gestellt werden. Im Gegenteil: Wir feiern in Berlin die schwarze Null ab und kürzen allerorten die Sozialleistungen, eben auch für Menschen mit Behinderung.
Darüber hinaus ist aber auch die gemeinhin verbreitete Vorstellung von „Inklusion“ sehr selbstgefällig und insofern verlogen, da sie unterstellt, wir könnten von intakten „Innenräumen“ sprechen, in die nun alle „einzuladen“ sind. Diese gesellschaftlichen „Innenräume“ sind allerdings alles andere als gastlich. Sie sind, nehmen Sie nur den Arbeitsmarkt, sogar ausgesprochen brutal, konkurrenz- und leistungszentriert. Viele Menschen haben in diesem Raum bereits ihre „Aufenthaltslizenz“ eingebüßt oder halten den dort vorfindlichen Bedingungen kaum mehr stand. Es müsste daher auch und vor allem darum gehen, diese Ausgrenzungsdynamik einmal wirklich und ehrlich zu bilanzieren und ihre Ursachen zu beseitigen. Da gehe ich übrigens völlig konform sowohl mit Behindertenverbänden als auch Gewerkschaften.
Und schließlich unterstelle ich manchen, dass sie bei dem Thema Inklusion primär daran denken, wie die öffentlichen Ausgaben noch mehr als bisher reduzierbar sind und wie man auch die ökonomischen Verwertungsreserven von Menschen mit Behinderung fortan abschöpfen kann. Das wird aber nicht offen gesagt und insofern ist auch das eine Art Lüge, die sich hinter sehr viel gut klingendem Popanz verbirgt.

Damit ich das recht verstehe: Gegen die Utopie einer diskriminierungsfreien Gesellschaft haben auch Sie nichts, sehr wohl aber gegen eine Utopie, die, von oben usurpiert, still und heimlich … ja, sozusagen anderen als den vorgegebenen Zielen dient?
Genau! Es geht um die Perversion einer Utopie, die wichtig und auch die meine ist, und der es darum geht, dass etwas, was „u-topisch“ ist, also noch keinen Ort, keinen Topos hat, endlich verortet wird. Gefährlich missbraucht wird die Rede von einer Utopie also dann, wenn konkrete politische Maßnahmen bereits als Vollzug, als abschließende Einlösung definiert werden. Dann usurpiert nämlich eine pragmatische und das heißt in der Regel ökonomisch verpflichtete Realpolitik das Etikett der Utopie und betreibt damit ideologische Selbstlegitimation. Das kann man auch als eine Art „semantische Enteignung“ der Utopie bezeichnen, eine Art „feindliche Übernahme“ und Verzweckung für die Belange der politischen Inszenierung.

Können Sie das in Bezug auf die Inklusion bitte ein wenig konkretisieren? Was genau beobachten Sie hier denn aktuell?
Aber gern. Zu beobachten ist aktuell allerorts, dass eine schlichte Beschulung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung in einer Regelschule als Inklusion ausgegeben wird. Das hat aber mit dem Wesen der Inklusion kaum irgendetwas gemein.
Denn Inklusion ist nicht einfach „Einschluss“ von Menschen mit Behinderung in bestehende Systeme, die ihre ausgrenzende Dynamik auf dem Rücken der „Inkludierten“ dann einfach fröhlich weiter betreiben. Sondern Inklusion bedeutet vielmehr Zusammenschluss und meint konsequenterweise eine grundlegend neue Dynamik, die die Qualität der Systeme verändert.
Wenn diese Schüler nun aber den üblichen Ausgrenzungsprozessen – in Form von Noten, Leistungsdruck, Mobbing etc. -, wie sie sich in der Schule stets vollziehen, ausgesetzt werden, wenn der Förderbedarf, wie das in den meisten Bundeländern der Fall ist, völlig unzureichend abgedeckt wird, und wenn nicht allermindestens auch das dreigliedrige Schulsystem mit seinen Stigmatisierungen vor allem von Hauptschülern gleichzeitig in Frage gestellt wird, dann verändert „Inklusion“ nichts. Die in der Bildungsforschung reichlich beschriebene Selektion, die durch die Bildungsprozesse im dreigliedrigen Schulsystem betrieben wird, wird ja durch diese Form der „Inklusion“ nicht durchbrochen, sondern lediglich um eine Zielgruppe erweitert. Der „Inklusionsformalismus, der sich im Schulsystem sprachlich am Begriff der „Inklusionsquote“ fest macht, sieht allein durch diese möglichst noch zu steigernden Quoten seine pädagogische Aufgabe erfüllt. Das Scheitern von Kindern mit oder ohne Behinderung wird dann anderen Faktoren zugeschreiben, nach dem Motto: „An der Schule kann es nicht liegen, wir haben alles versucht.“

Sie fürchten also … nun, ja: faktische Verschlechterungen in Bezug Lebens- und Entwicklungschancen Behinderter? Ich sage nur: „Inklusion“ umsetzen und zugleich Mittel einsparen – wo genau soll sie da denn herkommen, die „qualitative Verbesserung“?
Es geht nicht darum, die Förderschulen heilig zu sprechen. Ihre ausdifferenzierte Entwicklung verdankt sich übrigens auch dem fragwürdigen Ziel, die Regelschulen von Kindern mit Behinderung zu „entlasten“. Insofern geht es mir sicher nicht um die Legitimation des Status quo. Wann man aber nun den richtigen Gedanken des gemeinsamen Lernens verfolgen will, dann müssen die pädagogischen Maßstäbe, beispielsweise eine ausgesprochen personenorientierte Pädagogik der Förderschulen in einem pädagogischen Team, auch Maßstäbe für die inklusive Schule sein, was übrigens allen Kindern zugutekommt. Ich befürchte in der Tat, dass unter den weitgehend gleichbleibenden Bedingungen des jetzigen Schulsystems in der Regelschule eine pädagogische Überforderung und eine nur halbherzige und unzureichende Förderung der Kinder mit Behinderung das Resultat ist. Das meine ich nicht nur leistungsbezogen, sondern auch emotional und seelisch. Wer fängt denn in Klassenverbänden mit teilweise über 30 Kindern Prozesse der Stigmatisierung, des Mobbing und der Ausgrenzung auf? Das sind ja Prozesse, die auch aus der lange eingeübten, leistungszentrierten Skalierung und Unterscheidung zwischen den „guten“ und den „schlechten“ Schülern resultieren. Der Züricher Pädagoge Jürgen Oelkers hat einmal dem Sinn nach von der inneren Selektivität der Schule gesprochen. Das ist ihre ureigene Logik. Wie sollen sich nun Kinder, die mit einem emotionalen, sprachlichen oder lernbezogenen „Handicap“ in diesen Klassen so einfinden, dass sie auch eine Kultur der Geborgenheit und der Achtsamkeit erfahren. In welchem Schulministerium wird das diskutiert?

Haben Sie da denn ein besonders krasses Beispiel für uns parat? Wo wird im Lande sozusagen „am meisten“ mit der Inklusion … gepfuscht?
Im Bundesaktionsplan „Unser Weg in eine inklusive Gesellschaft“ können Sie einen arbeitsmarktpolitischen Treppenwitz lesen. Da wird unter dem Stichwort „Initiative Inklusion“ ein „Förderprogramm“ von 100 Millionen Euro (gestreckt auf mehrere Jahre) inseriert. Damit soll die Berufsorientierung von schwerbehinderten Schülerinnen und Schülern gefördert, die betriebliche Ausbildungschance verbessert und die Inklusionskompetenz bei den Handwerks- und Industrie- und Handelskammer verbessert werden. Die Rede ist auch davon, dass es „spezielle Eingliederungszuschüsse“ für behinderte Menschen über 50 Jahre geben soll. Woher kommt das Geld? Die Quelle dieser Finanzierung ist der sogenannte Ausgleichsfonds. Nun muss man wissen, dass dieser Ausgleichsfonds sich aus der Abgabe derjenigen Unternehmen speist, die die Beschäftigtenquote von Menschen mit Behinderung von fünf Prozent nicht erfüllen, also den jetzigen gesetzlichen Auflagen nicht nachkommen. Während also die Betriebe, sich von den gesetzlichen Vorgabe zur Einstellung von Menschen mit Behinderung freikaufen, sollen die Kammern inklusionskompetent beraten werden.
Das ist aber nur die eine Seite der Medaille. Hinzu kommt, dass unter Frau von der Leyen, die als damalige Arbeitsministerin zugleich als Herausgeberin dieses Bundesaktionsplans firmiert, Milliarden Euro für die Förderung von Menschen in Langzeitarbeitslosigkeit gestrichen worden sind. Es ging um Menschen, die mindestens 24 Monate arbeitslos waren und mindestens zwei weitere Vermittlungshemmnisse hatten. Oft waren das Personen, die psychisch erkrankt waren und möglicherweise auch noch eine Suchtproblematik hatten. Ihnen wurden durch die Eingliederungszuschüsse, die bis zu 75 Prozent Lohnkostenzuschuss an den Arbeitgeber betrugen, der sogenannte Leistungsminderungsausgleich, auf Dauer geförderte Arbeitsplätze geboten. Während also die Mittel der Bundesagentur für Arbeit für dieses Eingliederungsprogramm um Milliardenbeträge gekürzt worden sind, wird hier ein „arbeitsmarktpolitisches“ Programm in kläglicher Finanzhöhe und zudem finanziert aus dem Inklusionsversäumnis von Betrieben als „Initiative Inklusion“ angezeigt.

Und gute, gelingende Beispiele – gibt es die auch? Und wenn ja: Wo? Und woran erkennt man sie?
Natürlich gibt es tolle Beispiele, die aber, das muss man ehrlich sagen, überwiegend dem zivilgesellschaftlichen Engagement in Initiativen, Freiwilligenagenturen, Stadteilprojekten usw. zu verdanken sind. Mir hat im Bereich der Bildung besonders das Beispiel der integrativen Berliner Fläming Grundschule imponiert. An ihr arbeiten multiprofessionelle Teams mit pädagogischen, sonderpädagogischen und psychotherapeutischen Kompetenzen. Einzelarbeit mit Schülerinnen und Schülern, begleitende Elternarbeit, Supervision für die Fachkräfte, vorbeugende Kleingruppenarbeit mit Schülerinnen und Schülern, die emotionale und soziale Probleme aufweisen und vor allen Dingen ein ungemein empathisches und lernbereites Fachkräftepersonal. Einer der dort angestellten Pädagogen hat einmal dem Sinn nach gesagt, dass das pädagogische Wissen keine ausreichenden Antworten hergibt für die Herausforderungen, die sich in dieser Arbeit stellen. Es ginge nicht nur um Wissensvermittlung, nicht nur um „Curricula“, sondern um eine neue Erfahrungen von Gemeinschaft und Solidarität. Das klingt dann doch nach gelebter Utopie.

Ich bedanke mich für das Gespräch.
22. September 2015
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