Ein Dichter und ein Komponist

Der Canto General ist die revolutionärste Musik der Welt. Seine Schöpfer - Pablo Neruda und Mikis Theodorakis - waren politisch aktiv, auf der Flucht, im Gefängnis. Eine weitere Kostprobe aus dem neuen Zeitpunkt: «machbar! Was wir Menschen alles können»

Pablo Neruda und Minis Theodorakis (rechts) in den frühen Siebziger Jahren
Zeitpunkt machbar

Bevor Sie diese Zeilen lesen, gehen Sie bitte an Ihre Stereoanlage. Legen Sie Vienen los Pajaros auf oder America Insurrecta – und erleben Sie, wie sich ihnen alle Haare am Leib aufstellen. Und hören Sie Voy a Vivir – dieses unbesiegbare Bekenntnis zum Leben.

Der Canto General von Pablo Neruda ist für mich so etwas wie das Evangelium unserer Zeit.

Wenn Sie die Worte verstehen (oder die Übersetzung mitlesen) und wenn Sie die Geschichte dieses Gedichtzyklus erfahren – und wenn dann diejenigen lebendig werden, denen Musik und Dichtung gewidmet waren – den Aufständischen und Ureinwohnern – dann hören Sie es gleich noch einmal!

«Der Canto General von Pablo Neruda ist für mich so etwas wie das Evangelium unserer Zeit,» sagte der griechische Komponist Mikis Theodorakis über die Dichtung von Pablo Neruda. Und die Musik, die er dazu schuf, erzeugte ebenfalls die Kraft einer unbeugsamen, frohen Botschaft: In Klängen vieler Stimmen, traditionellen Instrumente und aufrührenden Rhythmen wird hier der Kampf von Völkern lebendig, die nichts anderes wollten, als frei und in Frieden zu leben. Gesänge der Inka, Lieder der Anden und Rhythmen der Tropen verbinden sich mit griechischen Instrumenten.

So ein Werk konnte nur von Menschen geschaffen werden, die selbst das brennende Mitgefühl, den politischen Kampf und diese Liebe kannten. 
Theodorakis, geboren 1925, war als junger Mann im Widerstand gegen die nationalsozialistische Besatzung Griechenlands gefangen und gefoltert worden – nur die Musik hatte ihm die Kraft gegeben zu überleben, heisst es. Später im Widerstand gegen die Militärdiktatur Griechenlands wurde er erneut schwer gefoltert – schliesslich aber befreit. Er ging ins Exil nach Paris und lernte Pablo Neruda kennen.

Der chilenische Dichter und Politiker war wegen seiner deutlichen Kritik am Präsidenten verfolgt worden und im eigenen Land untergetaucht. Fischer und Bauern versteckten ihn, sie liebten «ihren» Dichter. Damals – von 1938-1950 – entstand der Grosse Gesang: Ein Gedichtzyklus mit 1´500 Versen, die in mächtigen Bildern die Schönheit des Landes und die Sehnsucht des Volkes nach Freiheit beschreiben. 

Theodorakis beschloss, ihn zu vertonen, wurde von Neruda und dem sozialistischen Präsident Chiles, Salvador Allende, eingeladen, um die Details zu besprechen: Welche Gedichte, wann und wo würde die Uraufführung sein? 
Der Canto sollte im September 1973 im Stadion von Santiago de Chile uraufgeführt werden – ein Solidaritätskonzert für das griechische Volk, das unter der Militärdiktatur ächzte. 

Dann kam die groteske Umkehrung der Geschichte: Am 11. September wurde Allende in seinem Palast von den USA bombardiert, und Neruda, wie man heute vermutet, wurde im Krankenhaus vergiftet. Sein Begräbnis am 25. September 1973 war, wie Isabel Allende schrieb, ein «symbolisches Begräbnis der Freiheit».

Und das Stadion von Chile hörte statt des «zeitgemässen Evangeliums» die Schreie der Linken, Gewerkschafter und Musiker, die dort von der Militärjunta zusammengetrieben und erschossen wurden.

Keine zwei Jahre später fiel in Griechenland die Militärdiktatur. So wurde das Stück statt dessen in Athen uraufgeführt – als Solidaritätskonzert für das chilenische Volk. 

Theodorakis wurde in Griechenland als Volksheld verehrt und scheute sich zeitlebens nie, unbequeme Wahrheiten auszusprechen. Er komponierte über 1000 Stücke. An einer Demonstration gegen die Troika bekam er Tränengas ab, was ihm bis zum Ende gesundheitliche Probleme bereitete. Er starb vor zwei Jahren in Athen.

Premiere des Canto General in Paris