Rote Linien im Unendlichen

Was haben rote Linien im Unendlichen zu suchen? Ziemlich viel. Auch deshalb, weil sich mit dem Bedürfnis nach ihnen der Rechtsruck in Europa erklären lässt. Die Samtagskolumne.

«Es ist zwar – jenseits der Grenzen und Unterschiede – alles eins, ein verwobenes, zusammenhängendes Ganzes. Aber nicht ein Brei.» Foto: Jan van der Wolf

Woher der Rechtsruck? Unsere politischen Medien sind vom Kopf bis Fuss mit dieser Frage beschäftigt. Und wer noch immer an die guten Absichten der im Politik-Getriebe verstrickten Grünen und Linken glauben will: Was haben diese einstmals doch so gutwilligen Akteure – was haben 'wir' – falsch gemacht, dass es so schlimm kommen musste? 

Die aktuellen Wahlergebnisse und Demoskopien konfrontieren uns hart mit diesen Fragen, und unsere Medien geben viele Antworten. Sie nennen die strategischen Fehler und persönliche Defizite der Akteure und manch historischen Hintergrund. Das erklärt das Phänomen jedoch noch nicht. Die Gegner der Linken und Grünen machen ja mindestens ebenso viele strategische Fehler und schicken eher noch unfähigere Personen ins Rennen. Die soziale Ungleichheit in der Welt ist heute grösser denn je, die Naturzerstörung ebenso. Das müsste doch dazu führen, dass die Leute in Scharen zu den Linken und Grünen überlaufen. Deren Fehler liegt jedoch nicht in der Strategie, meine ich. Er liegt viel tiefer: im Denken, Fühlen und der Selbstwahrnehmung.

Es ist ein philosophischer Irrtum, kein im engeren Sinne politischer, dem die spöttisch 'woke' genannte Kultur anheimgefallen ist. Sie sind keineswegs die Einzigen, die diesem Irrtum aufsitzen, aber hier sind die politischen Folgen die gewaltigsten. Ein Grossteil der spirituellen und religiösen Kulturen der Welt sind in dieselbe Falle getappt, und das teils schon seit Jahrtausenden. Sie haben das Absolute mit dem Relativen verwechselt bzw. diese beiden Aspekte der Wirklichkeit nicht gut voneinander unterscheiden können. Sie haben Übeltätern zu oft die andere Wange hingehalten und sich nicht erlaubt, vor dem Hintergrund des Unendlichen rote Linien zu ziehen. Das ist ein zutiefst menschlicher Irrtum.

 

Seid umschlungen, Millionen!

Der famose Ex-Beatle John Lennon, einer der berühmtesten Musiker und Aktivisten seiner Zeit, hat mit diesem Lied Millionen bewegt: 

Imagine there's no countries, 
it isn't hard to do. 
Nothing to kill or die for, 
and no religion, too. 
Imagine all the people, livin' life in peace.

Und hoffte, dass noch andere Träumer mit ihm diesen Traum leben, denn dann wäre die Welt eine Einheit. Viele, die dieses Lied hörten, teilten mit ihm diesen Traum, auch ich. Viele träumen ihn noch immer. Die Hippie-Bewegung, die spirituelle Bewegung der 70er Jahre und danach und auch die Subkultur, aus der die Grünen entstanden, sind oder waren solche Träumer. 

Auch Mahatma Gandhi, der Dalai Lama, Gorbatschow und Nelson Mandela träumten von einer Welt ohne Grenzen, ohne kalte und heisse Kriege. Eine Welt, in der wir nicht mehr in Religionsparteien stecken, wo unsere Verortungen als Moslem, Christen oder Hindus nur noch Ausdruck von einem Gefühl der Beheimatung in einer Kultur sind und nicht mehr einen Wahrheitsanspruch verkünden. 

Wo wir nur noch oberflächlich Deutsche, Kurden oder Masai sind, in der Tiefe empfinden wir uns als Menschen. Dann gäbe es «No need for greed or hunger, a brotherhood of man». Gier und Hunger wären überwunden, wir würden in einer Welt des Überflusses leben und uns alle lieben.

So ähnlich tönt auch das Gedicht von Friedrich Schiller, das als Abschlusschor der neunten Sinfonie von Beethoven schon damals und seitdem Millionen anderer Träumer dazu bewegt hat, die ganze Welt geistig zu umarmen und zu küssen: 

Seid umschlungen, Millionen! 
Diesen Kuss der ganzen Welt!

Die Melodie, die Beethoven zu diesem Gedicht komponiert hatte, wurde die Hymne der Europäischen Union, eine in dieser Grösse historisch einmalige friedliche Vereinigung einstiger Todfeinde. Auch diese Hymne und die Grundidee der EU sind getragen von der Idee «Alle Menschen werden Brüder» (postpatriarchal: Geschwister) in einer Welt ohne Grenzen. 

 

Mit oder ohne Grenzen

Oder doch besser eine Welt mit Grenzen? 

Anfang der 10er Jahre tingelte ich als Kabarettist mit der One-man-Show «Alles ist eins – und noch eins drauf» durch deutsche Kleinkunstbühnen und zeigte dort in einem der neun Akte als Küchenhexe verkleidet dem Publikum in der einen Hand einen Broccoli, in der anderen eine Kartoffel. «Was ist das?» 

Die Antworten «Kartoffel» und «Broccoli» aus dem Publikum lehnte ich kopfschüttelnd ab. Ich wusste es besser als meine offenbar noch im dualistischen, begriffsfixierten Ego-Denken stecken gebliebenen Zuschauer. Mit den Worten «Wir Frauen reden nicht nur von der Einheit, wir schaffen sie», steckte ich beides in einen Mixer und machte daraus eine Einheit. 

Die Aufhebung des Schubladendenkens in festen, begrenzten Begriffen führt nämlich ebenso wenig wie das der individuellen Grenzen, Privaträume, Regierungsbezirke und Nationen zu der ersehnten friedlichen Welt, in der wir «alle eins» sind. Eher führt eine solche Auflösung der Grenzen zu diffusem, undifferenziertem Denken. Ausserdem zu dem Einheitsbrei obiger Köchin, zur Gleichmacherei beim Militär und in totalitären Staaten und einer auf Diversität verzichtenden Kultur- und Naturlandschaft. 

Es ist zwar – jenseits der Grenzen und Unterschiede – alles eins, ein verwobenes, zusammenhängendes Ganzes. Aber nicht ein Brei. Würden die Zellen eines Organismus aus gut gemeintem Einheitsbewusstsein auf ihre Membranen verzichten – «sie trennen uns ja nur» – wäre der Organismus binnen Sekunden tot. 

 

The Web of Life

So wäre auch der Organismus der in Nationen gegliederten Welt, würden die ihre Grenzen bedingungslos öffnen, innerhalb von Wochen, wenn nicht Tagen, kein lebensfähiges Gebilde mehr, das seine Bewohner mit Nahrung, Unterkunft und einem Minimum an Rechtsstaatlichkeit versorgen kann. 

Seltsam, dass in Europa zurzeit Frauen wie Marine Le Pen, Georgia Meloni und Alice Weidel, die dem Faschismus nahe standen oder noch stehen, zu den populärsten politischen Figuren gehören, und bei uns in Deutschland einer, der uns wieder kriegstüchtig machen will, der beliebteste Politiker ist. Alle vier verstehen den Aufwand, der sie gerade trägt, intellektuell so wenig wie die von ihnen verachtete woke Kultur, dieser «links-grüne Siff». 

Vom Bauch her aber verstehen sie, dass wir Menschen um uns herum Grenzen brauchen. Wir brauchen sie um uns herum als Individuen, Familien, Stämme, Regionen, Nationen und kulturelle, sprachliche, religiöse und ethnische Räume. Vielleicht sind die vier Genannten auch nur Opportunisten, die sich als Anführer vor eine dem Fremden misstrauende Masse stellen, die das Phänomen ebenso wenig versteht. Das Gefühl der Massen ist jedenfalls, dass 'wir' uns stärker abschotten müssen als bisher, und das ist nicht grundsätzlich falsch.

Auch viele der (einst noch) Grünen und Linken von heute haben sich sich dem separatistischen «Wir für uns und nicht für alle» des kriegerischen und naturzerstörerischen Mainstream angeschlossen, weil diese Positionen mehrheitsfähig sind und in unserem System ja ohne Mehrheit kaum etwas umsetzbar ist. 

Das heisst allerdings noch lange nicht, dass sie das Problem verstanden hätten. Ihre eigene Sehnsucht nach dem Ganzen, dem Absoluten, dem Frieden, der alles umarmenden Liebe und Harmonie mit der Natur haben sie offenbar vergessen, verdrängt oder in ihre Nachtträume verschoben, weil es nicht zur zur Realpolitik zu passen scheint. Wie auch aus heutiger Sicht Gorbatschow als einer erscheint, der mit der Auflösung des Warschauer Pakts zu sehr der anderen Seite, der NATO, die Wange hingehalten hat.

Die richtige Frage

Die Frage, wer 'wir' sind, die tiefste aller Fragen, wird von den Akteuren in den politischen Arenen auch heute nur ganz vorsichtig gestellt und nur von einer winzigen Minderheit. Von den Massen hingegen wird sie je nach Trend oder aktuellen Angsthypes opportunistisch beantwortet. Politikwissenschaftler nennen das Populismus, aber auch sie verstehen das Phänomen nicht.

Seltsamerweise haben die einstigen, oft auch noch tätigen Dealer des Jahrtausende alten «Opium fürs Volk», die Theologen, eine Antwort darauf. Oder eher: Sie und die Religionswissenschaftler kennen eine bessere Frage. Sie nennen es das Problem des Absoluten mit dem Relativen. Das Absolute wäre die Welt ohne Grenzen in John Lennons Lied und dem Abschlusschor der neunten Sinfonie. Das Relative wäre das schnöde Diesseits, die irdische Welt, in der wir Individuen sind, Grenzen ziehen und uns gegen Übergriffe wehren. 

Die richtige Frage wäre also erstens, wer wir sind. Und dann die: Wie können wir das Relative, Bedingte vom ersehnten Absoluten unterscheiden und demgemäss jeweils das Richtige tun? Wie können wir weiterhin an die bedingungslose Liebe glauben und dennoch mitten im Unbedingten, Unverfügbaren, die uns schützenden roten Linien ziehen? 

Diese Frage haben unsere Politiker zu beantworten, heute und eigentlich schon immer. Und vor ihnen die auf der Bewusstseinsebene agierenden Philosophen, Ethiker, Intellektuellen, Künstler und andere Influencer.

Wir selbst, als Individuen ebenso wie als Partisanen, dürfen uns inmitten von alledem im Sowohl-als-auch üben, indem wir rote Linien ziehen und bei Übergriffen nicht gleich die andere Wange hinhalten. Während wir an die bedingungslose Liebe glauben, auch mit unseren Feinden empathisch umgehen und in der Meditation zur Ruhe kommen.

 

Upleven

 

Vom 23.-25. August gibt Wolf/Sugata im Upleven an der Nordsee (www.upleven.de) ein Seminar, das rote Linien im Unendlichen zieht, private wie politische, und dabei Impulse gibt für eine Neuorientierung an Wendepunkten im Leben.
Info und Anmeldung über [email protected].