„Von Demokratie kann in Griechenland keine Rede mehr sein“

Wie ist die Lage in Griechenland? Haben die Entwicklungen der letzten Wochen und Monate mit Demokratie überhaupt noch etwas gemein? Und ist, was geschah und noch immer geschieht, wirklich „alternativlos“, wie man dies allerorten liest und hört? Zu diesen Fragen sprach Jens Wernicke mit Sahra Wagenknecht, der Ersten stellvertretende Vorsitzenden der Linksfraktion im Bundestag.

Frau Wagenknecht, Griechenland hat sich dem Troika-Diktat gefügt, fügen müssen. Wie bewerten Sie – vor allem – die soziale Lage in Griechenland? Wie ist es um die Bevölkerung bestellt und wohin führte, würde er beschritten, der nun eingeschlagene Weg?
Die soziale Lage in Griechenland ist eine Katastrophe, und diese Katastrophe wird bei Fortsetzung der aberwitzigen Kürzungspolitik immer dramatischer. Hinter nüchternen Zahlen, wie der Zerstörung von einem Viertel der griechischen Wirtschaftsleistung innerhalb von fünf Jahren, verbergen sich menschliche Tragödien.
Theano Fotiou, Vizeministerin für soziale Solidarität, erzählte mir bei einem persönlichen Gespräch in Berlin wenige Wochen vor der erpressten „Einigung“ in Brüssel, dass viele Kinder inzwischen in einer solchen Armut leben, dass sie vor Hunger in den Schulen ohnmächtig werden. Ein Drittel der griechischen Bevölkerung ist nicht mehr krankenversichert. Krebspatienten sterben, weil sie zu spät oder gar nicht behandelt werden. Die Säuglingssterblichkeit ist hochgeschnellt. Es war daher nicht übertrieben, als Theano Fotiou sagte, dass die Forderungen Syrizas nach einem Ende der Kürzungsdiktate, einem Investitionsprogramm und einem Schuldenschnitt nicht einmal ein explizit linkes Programm waren, sondern schlicht ein Programm, um zu überleben.
Doch inzwischen haben die Gläubiger das griechische Parlament dazu gezwungen, weitere Rentenkürzungen und Mehrwertsteuererhöhungen zu verabschieden – als Vorbedingung für die Aufnahme von Kreditverhandlungen. Das ist absurd. Wenn Griechenland irgendetwas nicht braucht, dann sind es neue Kürzungen und neue Schulden. Es ist klar, dass Griechenland durch diese Maßnahmen zurück in eine tiefe Rezession fallen wird. In der Folge werden die Schulden auf über 200 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung steigen. Es wird einmal als absoluter Wahnsinn in die Geschichtsbücher eingehen, dass die herrschenden Eliten Europas einem Land mit einer Jugendarbeitslosigkeit von 50 Prozent weitere Massenentlassungen aufgezwungen haben.

Ist das, was wir hier erleben, was bereits vorhanden ist und sich wohl weiter verschlimmern wird, das, was die Kanzlerin in ihrer Rede von der „marktkonformen Demokratie“ beschrieb? Mir scheint, es handelt sich hier vor allem um eine Art … „Diktatur des Kapitals“.
Von Demokratie kann in Griechenland jedenfalls keine Rede mehr sein. Das gewählte Parlament hat fortan nichts mehr zu sagen, es hat nur noch die Funktion, die von außen diktierten Programme abzunicken. Konsequenterweise könnten die Euroländer auch gleich fordern, es im Interesse der Sparpolitik ganz aufzulösen.
Und auch wie die Vereinbarung von Brüssel zustande kam, hatte nichts mit Demokratie zu tun. Die Europäische Zentralbank hat die griechischen Banken in der entscheidenden Phase der Verhandlungen von der Geldversorgung abgeschnitten. So wurde Alexis Tsipras das Messer an den Hals gesetzt. Am Ende hat die griechische Regierung Maßnahmen zugestimmt, die von ihr und der Mehrheit der Bevölkerung, wie das eindrucksvolle „Nein“ von über 60 Prozent im Referendum beweist, abgelehnt werden. Die Macht über die Währung des Landes wurde als Putschmittel eingesetzt, und hat sich als ebenso wirkungsvoll erwiesen wie seinerzeit die Panzer der Obristen. Aus der einstigen Idee eines solidarischen Europa ist dank Merkel, Schäuble und dem ehemaligen Goldman-Sachs-Banker Draghi eine Horrorvision geworden.

Gehe ich recht in der Annahme, dass, wenn es Griechenland immer schlechter geht, das mehr und mehr auch auf Deutschland und die Verhältnisse hier zurückschlagen wird? Und wenn ja: Inwiefern?
Selbstverständlich. In offenen Volkswirtschaften geht das nicht anders. Lohn- und Sozialdumping in einem Land des Euro-Währungsraumes verbessert die dortige preisliche Wettbewerbsfähigkeit zu Lasten der anderen Länder. Wettbewerbsfähigkeit ist immer relativ. Also hat diese Politik in der Regel negative Auswirkungen auf die Absatzzahlen der anderen Euroländer. In Bezug auf Löhne, Arbeitsbedingungen und soziale Sicherheit befinden wir uns mitten in einem Wettlauf nach unten.
Begonnen wurde dieser negative Prozess unter der Überschrift Agenda 2010 durch das deutsche Lohn-, Steuer- und Sozialdumping in den Anfangsjahren der Währungsunion durch die damalige Rot-Grüne Bundesregierung. Das verschaffte den deutschen Konzernen höhere Umsätze im Ausland auf Kosten des Lebensstandards der deutschen Arbeitnehmer. So entstanden in den ersten zehn Jahren der Eurozone riesige Ungleichgewichte im Austausch von Waren und Dienstleistungen zwischen Deutschland und den anderen Euro-Mitgliedsländern. Diese Ungleichgewichte wurden wiederum als Begründung genommen, um die Löhne im Zuge der verordneten Kürzungsprogramme in den Krisenländern zu drücken.
Nun reiben sich bereits wieder die Arbeitgeber in Deutschland die Hände. Sie haben jetzt wieder ein Argument, um in Deutschland Stimmung für die nächste Kürzungsrunde zu machen, indem sie darauf verweisen, dass die deutschen Löhne deutlich über dem EU-Durchschnitt liegen. Wenn es nach ihnen ginge, könnte dieses Spiel ewig so weitergehen. Und es zahlt sich für sie auch aus, wie die Gewinnentwicklung großer Konzerne in ganz Europa in den letzten Jahren zeigt. Da gibt es tatsächlich längst keine Krise mehr. Ökonomisch und sozial ist das aber eine Politik, von der allein das reichste eine Prozent der Bevölkerung profitiert.

Das bedeutet, dass es aktuell vor allem einer starken Solidarität mit Griechenland bedarf – aber auch mehr denn je des Kampfes für bessere soziale Verhältnisse, höhere Löhne etc. im eigenen Land?
Ja, es ist eine Klassenfrage und keine Frage von unterschiedlichen nationalen Interessen. „Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker“, so sagte es Che Guevara. Aber in der aktuellen europäischen Situation ist es darüber hinaus eine rationale Notwendigkeit. Alle Arbeitnehmer im gemeinsamen Währungsraum sitzen zusammen in einem Boot. Sie können den Kampf nur zusammen gewinnen.
Insbesondere in Deutschland muss der Widerstand gegen diese zerstörerische Politik wachsen. Die SPD sollte sich überlegen, ob sie mit Merkel zum Totengräber Europas werden oder endlich für eine soziale Wende in Deutschland kämpfen will. Ein lohnenswertes Ziel ist für eine Partei auch die beste Medizin gegen Selbstaufgabe. Als Merkelwahlverein braucht die SPD niemand. In diesem Fall sollte sie sich tatsächlich lieber auflösen und als Arbeitnehmerflügel in die CDU eintreten, so wie es Jakob Augstein vorgeschlagen hat.

Und was nun Griechenland angeht … da hat sich in der deutschen Linken ja inzwischen ein regelrechter Riss aufgetan, wie es scheint: Viele argumentieren, Tsipras konnte ja gar nicht anders, man müsse ihn daher unterstützen und verstehen. Andere hingegen, wie mir scheint eher der linken Linken zuzuordnen, können Tsipras „Kapitulation“ vor der Troika zwar nachvollziehen, betrachten dessen Versuch, nun wider alle Wahlversprechen weiteren Sozialabbau zu exekutieren, jedoch trotzdem als „Verrat“ am eigenen Volk. Wie bewerten Sie diesen Disput? Und: Ist die Unterordnung unter das Troika-Diktat denn wirklich „alternativlos“, wie es aktuell in allem – auch und insbesondere linken – Medien heißt?
Es wäre schlimm, wenn die Linke jetzt auch noch anfinge, Alternativlosigkeit a la Merkel zu predigen. Es gibt immer Alternativen, und die Logik, dass man eine Katastrophe akzeptieren muss, weil die Alternative eine noch größere Katastrophe wäre, ist gefährlich. Nach dieser Logik hätten auch die früheren griechischen Regierungschefs der korrupten Nea Demokratia und Pasok alles richtig gemacht. Sie haben das Land durch eine beispiellose Kürzungspolitik brutal verarmt, aber auf diesem Wege immerhin im Euro gehalten.
Man sollte sich daran erinnern, dass es die glaubwürdige und couragierte Opposition gegen genau diese Politik war, die Syriza groß gemacht hat. Wer sagt, es gäbe keine Alternative zur Akzeptanz wirtschaftlich und sozial verheerender Kürzungsauflagen, der sagt faktisch, dass der großartige Aufstieg der Syriza auf einem Irrtum beruht.
Ich halte das für falsch. Natürlich wäre es besser gewesen, sich bereits 2010 auf den Wahnwitz angeblichen Rettungsprogramme nicht einzulassen, sondern einen eigenständigen Weg mit einem harten Schuldenschnitt, einer Restrukturierung der Banken und einem Konjunkturprogramm zu gehen. Also den Weg, den Island gegangen ist, das heute seine Krise weitgehend überwunden hat. Eventuell wäre das schon damals für Griechenland nur außerhalb des Euro möglich gewesen. Aber auch Island musste eine fünfzigprozentige Abwertung seiner Währung verkraften, deren negative Effekte mit Kapitalverkehrskontrollen und anderen Maßnahmen abgemildert wurden.
Heute ist die Situation in Griechenland viel schwieriger als 2010, weil die Wirtschaft durch die Kürzungspolitik ruiniert wurde. Heute wäre daher auch ein Grexit viel schwerer zu verkraften. Aber ich weiß nicht, ob das wirklich ein überzeugendes Argument dafür ist, diese ruinöse Politik fortzusetzen, um dann in ein oder zwei Jahren in einer noch schlimmeren Lage zu sein.
Es gibt doch keine Zukunft und keine Hoffnung auf dem jetzt beschrittenen Weg, es sei denn, die Machtverhältnisse in Europa würden sich bald grundlegend ändern. Aber danach sieht es leider überhaupt nicht aus.
Und natürlich befand sich die griechische Regierung in einem echten Dilemma. Eine klare Mehrheit der Griechen wollte ein Ende der Kürzungspolitik und gleichzeitig einen Verbleib im Euro. Beides aber ist angesichts der Machtverhältnisse im Euroraum einfach nicht zu haben. Die Frage ist vielmehr, ob die erneuten brutalen Kürzungsprogramme den Grexit überhaupt verhindern oder nur aufschieben. Und je kaputter die griechische Wirtschaft bei einem Austritt ist, umso schwerer wird es.

Welche konkreten Maßnahmen, meinen Sie, wären denn aktuell jene, die eine griechische Regierung, die den Erwerbstätigen und Armen den Gürtel, den sie nicht mehr haben, nicht noch enger schnallen will, angehen sollte?
Ich halte es nicht für sinnvoll, der griechischen Regierung von Deutschland aus schlaue Ratschläge in Form konkreter Maßnahmen zu erteilen.
Allgemein denke ich aber, dass Griechenland auf jeden Fall die Grundlagen für eine drastische Vermögensabgabe für die Superreichen sowie eine generell höhere Besteuerung der Millionäre und Oligarchen schaffen sollte. Nur so könnte Griechenland gleichzeitig notwendige Investitionen tätigen, sich von ausländischen Krediten unabhängig machen und einen überfälligen Schuldenschnitt erzwingen.
Ansonsten hatte Varoufakis offenbar konkrete Vorstellungen für einen Plan B, um nicht bedingungslos erpressbar zu sein. Ich denke, das wäre ein sinnvoller Weg gewesen.

Und hierzulande? Was können wir, wir Linken, können unsere Leser und müsste die deutsche Regierung tun?
Die Linke muss versuchen noch stärker mit der Botschaft durchzudringen, dass ein Ende der Kürzungspolitik, eine Unterstützung der Syriza-Regierung bei der Reichenbesteuerung und ein Schuldenschnitt auch im Interesse der hiesigen Bevölkerung sind. Denn nur so besteht eine Chance, dass Griechenland zumindest einen Teil der ausstehenden sogenannten Hilfskredite, mit denen ab 2010 Banken und private Gläubiger gerettet wurden, zurückzahlen kann.
Stattdessen betreibt Merkel mit der Unterstützung von CDU/CSU, SPD, FDP und GRÜNEN im Fall Griechenlands eine andauernde Konkursverschleppung, die den potentiellen Schaden für die deutschen Steuerzahler immer weiter in die Höhe treibt.
Außerdem muss man sehen: Bereits heute, in Deutschland und anderen europäischen Ländern, gibt es eine Mehrheit, die nicht will, dass die soziale Ungleichheit immer größer wird, dass Europa ein Projekt zum Nutzen des reichsten einen Prozents bleibt.
Diese Menschen müssen wir erreichen. Denn werden weiterhin trotzdem meist wieder Parteien gewählt, die im neoliberalen Mainstream mitschwimmen, besteht die Gefahr, dass sich gerade die, denen es schlecht geht, ganz von Europa abwenden und auf nationalistische Kräfte setzen. Das ist eine sehr gefährliche Entwicklung. Wenn es uns nicht gelingt, diese Menschen, die aus gutem Grund das heutige Europa, seine Institutionen und Strukturen als Angriff als ihren Lebensstandard empfinden und daher ablehnen, anzusprechen und für linke Alternativen zu gewinnen, sehe ich schwarz für die europäische Zukunft.

Ich bedanke mich für das Gespräch.

Sahra Wagenknecht ist promovierte Ökonomin und Autorin diverser Bücher, zuletzt erschien von ihr „Freiheit statt Kapitalismus“. Seit 2011 ist sie Erste Stellvertretende Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE im Bundestag.

Dieser Artikel erschien zuerst unter http://www.nachdenkseiten.de/?p=27052.
12. August 2015
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