Die Weisheit des Hirten

Die Zeiten ändern sich, die Wanderhirten bleiben. Zu Besuch bei Luigi Cominelli, der als Schäfer geboren ist, und Alessandra Camplani, die sich einen Kindheitstraum erfüllt hat.

«Wie viele Sekunden hat die Ewigkeit?», fragt der König das Hirtenbüblein. «Alle hundert Jahre kommt ein Vogel geflogen und wetzt seinen Schnabel am Berg. Wenn der ganze Berg abgewetzt ist, dann ist die erste Sekunde der Ewigkeit vorbei.»
Der Vogel kam oft geflogen, seit Luigi Cominellis Vorahnen zum ersten Mal Schäfchen zählten in Parra, einem Dorf in der italienischen Provinz Bergamo, Heimat der Schafhirten. «Noch vor 200 Jahren gehörten 70 000 Schafe zu unserem kleinen Dorf», erzählt Lui­gi. Mit sechzehn begleitete er seinen älteren Bruder zum ersten Mal auf der Wanderschaft, mit neunzehn führte er eine eigene Herde. «Das war schwierig, aber auch schön – ich konnte gehen, wohin ich wollte. Ich war nun selbst ein Hirte.» Ehrfurcht schwingt in seiner Stimme mit, wenn er von seinem Beruf spricht. Das Hirtentum ist seine Bestimmung, er kann nicht anders. Vor zwanzig Jahren hat er es versucht – eine Frau, einen Sohn, einen Laden in Bergamo – es ging nicht. «Ich kann nicht in der Stadt leben, ich gehöre nicht dorthin.» Er hat Frau und Kind verlassen und ist zu seinem Bruder in die Schweiz zurückgekehrt, wo er bereits vorher herumwanderte. Im Sommer wohnt er im Graubünden auf der Alp; im Winter, wenn der Schnee in den Bergen das Gras zudeckt, zieht er mit der Herde durch das Berner Mittelland. Nun blickt er in der Nähe von Jegenstorf auf seine Schafe und erzählt aus seinem Leben.


Die letzten Nomaden
Bergamo lebt nicht mehr von den Schafen, aber seine Schäfer sind noch immer unterwegs. Fünfzehn der fünfundzwanzig Schweizer Wanderhirten stammen aus Norditalien. «Wir sind die letzten Nomaden Europas.» Die Umwelt des Hirten ist immer hektischer geworden, seine Arbeit blieb dieselbe. Aber auch er spürt das Laufrad der Moderne. Tagtäglich muss er Strassen und Gleise überqueren und Siedlungen umgehen. «Manchmal stehen Häuser dort, wo wir ein Jahr zuvor noch durchgewandert sind. Vor vierzig Jahren war es einfacher.» Autos und Züge sind nicht seine einzige Sorge: Während er früher die Wolle der Schafe verkaufte, ist heute nur noch das Fleisch gefragt. Im Laufe des Winters werden bis auf hundert Mutterschafe all seine Schafe geschlachtet. In der Regel grämt sich Luigi nicht darüber, aber manchmal versetzt es ihm doch einen Stich. «Jedes Schaf hat einen anderen Charakter. Manche begrüssen mich, wenn ich in ihrer Mitte stehe; andere sind wild und ungestüm.» Anfangs Winter ist ein Esel an einem Herzinfarkt gestorben. «Das tat weh. Aber sie kommen und gehen wie wir Menschen auch.» Ob die Wanderhirten noch lange überleben können, weiss er nicht, denn auch der Fleischverkauf droht zu stagnieren, weil immer mehr Billigfleisch aus Neuseeland importiert wird.

Die Lehrtochter
Alessandra Camplani hofft, dass es weitergeht. Seit letztem Winter zieht die 26-jährige Tessinerin mit Luigi durchs Land, um von ihm zu lernen. Hirtin zu sein war ihr Kindertraum, aber viele Leute rieten ihr davon ab. Die Arbeit ist körperlich hart, der Winter kalt. Deswegen erlernte sie zuerst den Garten- und Obstbau. Als sie im Buch ‹Luigi le berger› vom Wanderhirten las, erfasste sie die Sehnsucht. So sprach sie beim 52-jährigen Luigi vor, der sich über die Hilfe freute. Sie hat alles liegen gelassen. «Es ist schwierig, von hier aus Freundschaften zu pflegen.» Die Realität sei härter als der Traum. Doch sie strahlt, wie es vielleicht nur Menschen können, die von der Sonne beleuchtet statt vom Fernsehen verblendet sind. «Ich liebe dieses Leben. Wenn im Frühling die Schafe weg sind, fühle ich mich leer.» Für das Hirtenleben verzichten sie und Luigi auf fast allen Komfort unserer Zeit. Früher schlief Luigi im Zelt, selbst wenn die Winterkälte an den dünnen Wänden klirrte. «Es war einfacher. Alles, was ich brauchte, trug der Esel. Heute haben wir den Wagen vollgestopft mit Dingen – es sind fast zu viele», sagt er, der noch immer mit wenig auskommt.

Gemeingüter
Die Freiheit ist der Lohn für das einfache Leben. «Ich bin mein eigener Chef, von den Schafen einmal abgesehen. Sie sind unruhig und wollen weiter, wir müssen gehen.» Es folgt ein faszinierendes Schauspiel: Ohne Aufruhr, ohne zu bellen, treiben die Hunde die Schafe zusammen. Luigi schreitet voran, ein frischgeborenes Lämmchen unter dem Arm. Einmal in Bewegung laufen alle in dieselbe Richtung. Mensch und Tier harmonieren, als sprächen sie die gleiche Sprache. Luigi hat die Gegend vorher erkundet. Luigi weiss genau, wo die Herde durchwandern darf, er muss die Bauern nicht erst fragen. Das steht im Gesetz: Von Mitte November bis Mitte März darf jeder Hirte mit einer Bewilligung vom Kanton die Grasflächen nutzen, solange sich die Herden nicht kreuzen. Für kurze Zeit wird das Weideland der Bauern zur Allmende, über die kein Einzelner befehlen kann. Es sind die letzten Gemeinwiesen des Unterlands. «Nur ein oder zwei Bauern im Kanton verwehren uns den Zutritt.» Wieso weiss Luigi nicht. Die Schafe mähen das Gras umsonst, ökologisch, schützen damit den Boden vor Mäusen und kräftigen ihn mit ihrem Dünger. «Kein anderes Tier und schon gar keine Maschine kann so viel Gutes tun für die Wiesen.»

Der Rat des Hirten
«Es wäre sehr schade, wenn die Wanderhirten ausstürben. Nicht nur für uns, sondern auch für die Leute, die täglich zur Herde kommen.» Sie bewundern seine Lebensweise, sehen in ihm den romantischen Wanderer aus längst vergangenen Zeiten. «Aber für die Regierung passiert gar nichts, wenn wir weg sind.» Er, der nicht jede Mode mitmacht, der vielleicht weniger gefangen ist im Zeitgeist als der moderne Mensch, wünscht sich, dass die Leute zur Natur zurückfinden. «Die Menschen müssen in die Natur schauen, sonst leben sie nicht gut.» Er lerne viel von den Besuchern, die sich Zeit nähmen. «Aber andere sind blind und leben nur fürs Geschäft. Tagsüber starren sie in den Computer, am Abend in den Fernseher.» Der Rat des Hirten wiegt schwer. Im Märchen ‹Das Hirtenbüblein› der Brüder Grimm achtet der König die Weisheit des jungen Hirten so hoch, dass er ihn ins Schloss holt. Luigi würde seine Wiesen zwar nie und nimmer gegen ein Schlossgemach eintauschen, aber wer weiss – vielleicht täte auch unsere Regierung gut daran, ab und zu auf einen Hirten zu hören.

Buchtipp: Marcel Imsand: Luigi le berger. Fondation Pierre Gianadda, 2004, französisch, 207 S., Fr. 65.–
08. März 2011
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