Legal, illegal, scheißegal

Es gibt einen schönen Spruch von Brecht, der eine der zentralen Fragen unserer Zeit thematisiert. Er lautet: „Es gibt viele Arten zu töten. Man kann einem ein Messer in den Bauch stechen, einem das Brot entziehen, einen von einer Krankheit nicht heilen, einen in eine schlechte Wohnung stecken, einen durch Arbeit zu Tode schinden, einen zum Suizid treiben, einen in den Krieg führen usw. Nur weniges davon ist in unserem Staat verboten.“ Nach wie vor ist das Verhältnis zwischen Arm und Reich eines zwischen Macht und Ohnmacht, zwischen Legalität und Kriminalität. Über das global obere, eine Prozent etwa wissen Politik und Wissenschaft so gut wie nichts; über Hartz IV-Bezieher existieren in aller Regel meterhohe Aktenberge. Und eben auch: Während auf der einen Seite die internationalen Eliten und ihre Multis wie Heuschrecken von Land zu Land zu ziehen und dabei Raubbau an Natur, Gesundheit, Arbeitsrecht und Sozialstaatlichkeit betreiben, finden sich auf der anderen Seite immer mehr Arme auch in unserem Land, die vermittels der Maxime von „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ eines vermeintlichen Sozialdemokraten in auch noch das letzte denkbare Ausbeutungsverhältnis gezwungen werden sollen. Kurzum: Die einen sind kriminell und werden als solche sanktioniert und verfolgt. Die anderen aber… Ja, welche anderen eigentlich? Und welche Kriminalität? Über die ganz legale Kriminalität gewisser Kreise in unserer vorgeblich sozialen Marktwirtschaft sprach Jens Wernicke mit Peter Menne, Mitglied im Vorstand von Business Crime Control.

Herr Menne, die halbe Welt spricht ob der sogenannten „Panama Papers“ gerade über Briefkastenfirmen und Steuerhinterziehung. Sie sind Mitglied im Vorstand von Business Crime Control, einem Verein, der sich gegen „Wirtschaftskriminalität“ engagiert. Wozu braucht es denn solches Engagement? Und was genau verstehen Sie unter Wirtschaftskriminalität?
Das Engagement braucht es, weil zu viele „White-collar crime“ als Kavaliersdelikte bagatellisieren. Wirtschaftsstraftaten sind mit nur 1,7 Prozent der polizeilich bekannt gewordenen Straftaten einerseits zwar ein Randphänomen. Andererseits hat dieses „Randphänomen“ es in sich, denn hierdurch entstehen rund 60 Prozent des durch Kriminalität insgesamt verursachten Schadens, der zudem allein den strafrechtlich sanktionierten Teil der Wirtschaftskriminalität betrifft.
Damit komme ich zu Ihrer zweiten Frage: Wirtschaftskriminalität muss man unserer Ansicht nach deutlich breiter verstehen als nur all‘ die Bestechungen, Steuerhinterziehungen, Korruptions- und Geldwäschedelikte, über die man unter diesem Label üblicherweise spricht. Was da an gerade noch legalen oder halblegalen Aktionen läuft, um den eigenen Profit zu Lasten der Gemeinschaft, zu Lasten aller steuerehrlichen Bürger zu erhöhen: das alles ergibt in Summe ein Vielfaches von der durch die polizeiliche Kriminalstatistik bekanntgewordenen Summe.

…und eigentlich ja auch einen guten Indikator für den Finanzdiktatur in Griechenland, die sogenannte „Bankenrettung“ etc. pp.
Nun, das ist zumindest eine naheliegende Interpretation, auch wenn wir nicht so weit gehen würden, die Entwicklungen in Griechenland als „Wirtschaftskriminalität“ zu klassifizieren.
Aber es gibt ein anderes gutes Beispiel: Panama ist weit ─ aber Luxemburg unser direkter Nachbar. Die Lux Leaks gingen durch die Presse. Aktuell stehen zwei Mitarbeiter der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers und ein Journalist in Luxemburg wegen Geheimnisverrats vor Gericht, weil sie öffentlich gemacht haben, mit welchen Absprachen internationale Konzerne in Absprache mit dem Luxemburger Finanzamt und letztlich mit Einverständnis der Luxemburger Regierung ihre Steuern verkürzt haben. Gleichwohl kam unlängst die EU-Kommission zu dem klaren Schluss, dass die Luxemburger Steuervergünstigungen „unerlaubte staatliche Beihilfen“, also „illegal“ waren. Aber ist das strafrechtlich relevant? Oder nur zivilrechtlich, muss also nachgezahlt werden ohne weitere strafrechtliche Konsequenzen?
Und werden solche Kriminellen, die Mächtigen der Welt, wirklich verfolgt? Warum werden Menschen, die große Verbrechen zulasten der Allgemeinheit aufdecken, so viel schärfer verfolgt? Werden Whistleblower wie Staatsfeinde verfolgt, während gegen die eigentlichen Täter oft kaum etwas geschieht? In diesem Sinne macht Ihre Rede vom „Indikator für Klassenkampf“ hier schon Sinn.
Die Schäden für die Gemeinschaft sind nämlich bei solchen Machenschaften enorm. Weil sie aber eben in einer Grauzone liegen oder vielleicht unter Wettbewerbsrecht oder irgendein zivilrechtliches Gebiet, mangels Unternehmensstrafrecht aber nicht unters Strafrecht fallen, genau deshalb muss der Begriff „Wirtschaftskriminalität“ breiter gefasst werden als bloß das strafrechtlich sanktionierte Verhalten aufgrund der bisherigen Rechtslage.
Internationale Konzerne zahlen die horrenden Stundensätze von Beratern wie zum Beispiel PricewaterhouseCoopers natürlich nicht aus Jux und Tollerei, sondern weil sie von deren Rat deutlich höhere Ersparnisse erwarten und sich im Vertrauen auf deren Verschwiegenheit auch keine Gedanken über öffentliche Debatten oder gar juristische Konsequenzen machen müssen. Ob das nun „unerlaubte staatliche Beihilfe“ oder was auch immer ist: Hauptsache, geringere Abgaben und hierdurch höherer Gewinn. Global Player orientieren sich am Profit ─ wenn Gesetze und Verordnungen den fördern, werden sie und der „Rechtsstaat“ hoch gelobt. Wenn sie aber das Geschäft stören, werden sie gerne umgangen.

Was halten Sie in diesem Kontext denn von den sogenannten „Panama Papers“ und der Art und Weise, wie die Debatte hierzu verläuft und geführt wird? Einige Journalisten attackieren Schäuble aktuell ja etwa wegen seiner „System habe. Beides Dinge, von denen im Medien-Mainstream wenig die Rede ist…
Das sind zwei Fragen. Zuerst zum „Wegschauen“: Da kann man tatsächlich befürchten, dass das System hat. Rainer Mausfeld hat sehr gut nachvollziehbar die Techniken nicht anpacken will, also nur ein Ablenkungsmanöver? Oder konnte er sich 2009 nicht durchsetzen und versucht deshalb mit dem neuen Skandal im Rücken jetzt einen zweiten Anlauf? Dann lautete die Frage: Woran war er sieben Jahre lang gescheitert? An den EU-Kollegen, die für Gebiete wie Jersey oder Cayman Inseln zuständig sind? Oder an Kollegen, die auf die paradiesischen deutschen Zustände insbesondere für Nicht-EU-Ausländer verweisen? An Interessengruppen, die ihr Geschäftsmodell weiter am Laufen halten wollen? Oder an anderen, hausgemachten Problemen? Beide Sichtweisen bieten gute Argumente. Sich auf nur eine zu verengen: damit liefe man Gefahr, komplexe Wirklichkeit zu stark zu reduzieren.
Deshalb zur anderen Frage, was ich von den „Panama Papers“ halte. Natürlich bin ich froh, dass die an die Öffentlichkeit gelangt sind und damit Steuerhinterziehung und Steuervermeidung wieder auf der politischen Tagesordnung stehen. Eine Unmenge Material, das da aufgearbeitet und ausgewertet werden muss, irgendwann auch von den zuständigen Steuerfahndern.
Zugleich ist das aber das Material von nur einer Kanzlei aus einzig Panama. Allein dort gibt es Dutzende Kanzleien, die dasselbe Geschäft betreiben. Jürgen Mossacks deutsche Herkunft kann ein Grund dafür gewesen sein, dass er viele europäische Kunden hatte. Ein US-Amerikaner könnte seine Klientel vorzugsweise in den USA finden oder jemand mit asiatischen Wurzeln in anderen Regionen: Wenn jetzt darüber spekuliert wird, warum keine US-Amerikaner bei den Mossack-Fonseca-Papieren aufgeflogen sind, halte ich nichts von verschwörungshypothetischen Gedankenspielen. Viel wahrscheinlicher ist hingegen, dass die schlicht von einer anderen Kanzlei bedient wurden und werden. Oder die sind in US-eigene Steueroasen wie Delaware gegangen.
Panama ist eben nur eine Steueroase ─ von vielen. Es gibt davon zu viele ─ und hier sollten wir unseren Satirikern danken: knapper als beispielsweise der Superreiche gezwungen, fünf Minuten nach neuer Steueroase zu suchen“ kann man das kaum zusammenfassen. Was aber folgt daraus? Sich zurücklehnen in Zynismus? Oder lieber vor Ort anfangen, die Zustände zu ändern? Also die Steuervermeidungstechniken für Konzerne nicht irgendwo, sondern hier, in Europa einmal genauer unter die Lupe zu nehmen!

Was für „Profiterhöhungs- und Steuervermeidungstricks“ gibt es denn da? An wen sollten wir denken, wenn wir uns einmal an der sprichwörtlichen eigenen Nase kratzen wöllten?
Zunächst einmal: international aufgestellte Unternehmen genießen massive Wettbewerbsvorteile gegenüber Selbstständigen, Handwerkern oder regionalen Mittelständlern. Laut EU-Steuerkommissar Pierre Moscovici müssen die kleinen, nur national tätigen Unternehmen etwa eine um 30 Prozent höhere Steuerlast tragen als die großen Konzerne.
Die Apologeten der Marktwirtschaft schwärmen zwar immer gerne von deren Internationalität ─ dabei sind die Randbedingungen für Märkte stets regional: Arbeitszeitbestimmungen, Umweltschutz- oder eben Steuergesetze. Selbst Steuern sind nicht mal national einheitlich, sondern teils kommunale Angelegenheit. Denken Sie nur an die Gewerbesteuer: die dürfen die Kommunen innerhalb einer gewissen Bandbreite selbst festlegen, was manche Kommunen dann als „Standortvorteil“ vermarkten. Deshalb hat die Frankfurter Wertpapierbörse etwa der Stadt Frankfurt den Rücken gekehrt und sitzt nun seit einigen Jahren im „Frankfurter Speckgürtel“, in Eschborn.
Wobei das weniger ein „Trick“ ist als vielmehr das ganz offen gepredigte, in sich widersprüchliche Markt-Credo: der „Standortwettbewerb“, bei dem Kommunen darum wetteifern, Firmen auf ihrem Gebiet anzusiedeln. Widersprüchlich, weil nach der Logik der Markt-Verfechter alle den gleichen Zugang zum Markt haben sollten und müssten. Tatsächlich werden aber regionale Besonderheiten ausgenutzt.
Wie gesagt, ist das die ganz offene Seite von Konkurrenz, insofern weder „Trick“ noch illegal…

… doch genau diese Tricks sind doch interessant. Was genau wird da praktiziert? Vielleicht könnten sie ja einmal ein, zwei Beispiele benennen.
Nehmen wir zum Beispiel die sogenannte „Patentbox„. Die gibt es unter anderem in den Niederlanden. Der Steuersatz für Unternehmen bewegt sich dort irgendwo im Mittelfeld: nicht besonders hoch, aber auch kein Niedrigsteuerland. Anders sieht es bei Erfindungen aus: die werden deutlich niedriger besteuert. „Super!“, mag sich da mancher denken, das fördert doch Innovation, vielleicht kommen wir so schneller zu nützlichen Sachen.
Leider ist das etwas zu kurz gedacht, denn der Steuervorteil gilt genauso für Marken. Rechtlich sind die von Erfindungen kaum zu unterscheiden, wie sich auch am „Deutschen Patent- und Markenamt“ zeigt: ob Lizenzgebühren für die Produktion von Medikamenten oder für das Nutzen eines bunten Logos gezahlt werden, bleibt finanztechnisch weitgehend gleich. Das heißt, das holländische Erfindungs-Privileg gilt genauso für diejenigen, die sich eine Marke, ein Logo, ein Schriftbild eintragen lassen.

Das klingt ja interessant. Was aber hat das mit der Sache zu tun?
Das kann ich Ihnen sagen. Nehmen wir beispielsweise den Möbelfilialisten Ikea: Der wächst in Deutschland weiter, eröffnet kontinuierlich neue Filialen. Da muss das Geschäft gut laufen. Mir klingt noch der Werbeslogan vom „unmöglichen Möbelhaus aus Schweden“ in den Ohren. Ikea schwedisch? Aus dem früher mal hochbesteuerten Wohlfahrtsstaat? Glauben viele ─ doch seit 1982 ist der Hauptsitz von Ikea in niedriger besteuert werden.
Konkret bedeutet das: Für jedes „Billy“-Regal, jede Kaffeetasse oder worauf auch immer ein Ikea-Logo gepappt ist, zahlen deutsche Ikea-Filialen genauso wie die Möbelhäuser aus allen anderen Lizenzgebühren an die holländische Muttergesellschaft. Deren Höhe legt die Muttergesellschaft fest. Und die Möbelhäuser aus Deutschland ─ dem umsatzstärksten Land ─ und den anderen Landesgesellschaften setzen das selbstverständlich als Betriebsausgabe ab.
Allein für Deutschland sind das pro Jahr: Um den Betrag sinkt der Gewinn, der hier versteuert werden muss. In den Niederlanden steigt der Gewinn mit den vereinnahmten Lizenzgebühren. Nur ist’s da kein „Gewinn aus Gewerbebetrieb„, zu versteuern mit 25 Prozent, sondern eben „Gewinn aus Patenten & Lizenzen“ ─ wofür nur 5 Prozent fällig werden.
Der Gewinn wird also aus dem Land, in dem er erwirtschaftet wird, in ein anderes Land verlagert, um so insgesamt Steuern zu sparen. Alles ganz legal. Gegenüber dem deutschen Fiskus erscheint die deutsche Ikea ziemlich arm ─ und muss dafür keineswegs bis Panama fahren. Wie gesagt: alles korrekt bilanziert ─ nur eben so, dass für die Öffentliche Hand außer ein paar Brosamen nichts übrig bleibt.

Und gibt es denn auch Tricks, die weiter in die Grauzone hineinragen? Eine „noch“ schmutzigere Praxis, wenn Sie so wollen…?
Allerdings gibt es die. Nehmen wir beispielsweise den internen Einkauf bei Firmen mit Niederlassungen in verschiedenen Ländern: Für eigentlich alle technischen Güter vom Auto über Maschinen bis zu Flugzeugturbinen braucht’s Ersatzteile, Wartung etc. Der Service läuft entweder über konzerneigene Tochterfirmen oder freie bzw. Vertragswerkstätten. Gerade im Investitionsgüterbereich wissen die Kunden, beispielsweise Luftfahrtgesellschaften, was ein Ersatzteil kosten darf. Bietet der Hersteller es überteuert an, greifen freie Werkstätten statt zum Originalteil zu äquivalenten Produkten anderer Hersteller. Es mag einen Marken-Aufschlag geben, doch die Preise für externe Kunden müssen sich im Rahmen halten.
Anders bei den Tochterunternehmen: die müssen die Originalteile der Muttergesellschaft kaufen – und zwar zu den Preisen, die die Mutter vorschreibt. So kann es vorkommen, dass der konzerneigene Turbinen-Reparaturbetrieb seiner US-Muttergesellschaft das Doppelte für dasselbe Ersatzteil zahlen muss. Die Kosten in Deutschland sind damit so hoch, dass kaum ein Gewinn anfällt. Stattdessen wird der anderswo versteuert – zu dortigem Steuertarif.
Weiterer angenehmer Effekt für den Konzern: die Arbeitnehmer lassen sich wunderbar unter Druck setzen. Weil die Tochterfirma stets an der Grenze zu roten Zahlen arbeitet, ist sie stets von Schließung bedroht. Dass sie bei den Einkaufsbedingungen gar nicht profitabel arbeiten kann, dass sich die überhöhten Preise nicht durch höhere Arbeitsproduktivität und Effizienz ausgleichen lassen: das geht im Bilanz-Klagegeheul einfach unter. Stattdessen werden Arbeitnehmer beispielsweise zu unbezahlter Mehrarbeit gedrängt, weil es der Tochterfirma ja so schlecht gehe und ihr Arbeitsplatz deshalb auf der Kippe stehe…
Zwar kontrollieren hier zunehmend auch Finanzämter, doch solange die nur Preislisten anderer Wettbewerber heranziehen, behaupten Firmen gerne, dass ihr Produkt ein ganz spezielles und eben nicht durch Fremdprodukte ersetzbar sei – gerade bei technischen Spezialprodukten eine nur mit Mühe widerlegbare Behauptung.
Was generell fehlt, was bei all den internationalen Abkommen eigentlich längst überfällig wäre, ist eine international einheitliche Unternehmenssteuer ─ aber nicht etwa am unteren Ende des allererste Ansätze hierzu diskutiert ─ die aber längst nicht ausreichen.

Und macht derlei dabei das Gros der „Wirtschaftskriminalität“ in Ihrem Sinne aus? Oder was gibt es da noch, dass die Mächtigen dieser Welt aus Profitinteresse gegen das Gemeinwohl praktizieren, von dem jedoch kaum jemand weiß oder spricht? Aktuell fordert ja etwa Filmemacher Michael Moore gerade die Inhaftierung des Gouverneurs seines Bundesstaates, da der für eine kriminelle – und übrigens mit dem Totschlagargument der „leeren öffentlichen Kassen“ neoliberal herbeiideologisierte – Umweltverschmutzung, dank derer 100.000 Menschen vergiftet wurden, verantwortlich sein soll! Das ist schon harter Tobak, aber sicher auch ein Einzelfall…
Auch jeder Amoklauf ist jaimmer ein „Einzelfall“. Aber das ist erst die halbe Wahrheit: schaut man sich mal die Waffengesetze an und rechnet die Opfer pro Jahr zusammen, dann sieht man schon deutliche Unterschiede zwischen dem Risiko, in Deutschland oder in den USA Opfer eines Amokläufers zu werden… Absolute Sicherheit gibt es keine, auch keine vor Verbrechen. Aber höchst unterschiedliche Gefährdungen gibt es schon: Statt also „Einzelfälle“ zu beschwören, gilt es, das Risiko abzuschätzen und auf ein erträgliches Maß zu senken.
Genau das gilt auch für „Wirtschaftskriminalität“: Das ist eine Grauzone ─ von strikt legalem Verhalten wie etwa bei Ikea, wo eben alle Möglichkeiten, die die national unterschiedlichen Steuergesetze bieten, radikal ausgeschöpft werden und die Firma zugleich im Brustton der Überzeugung verkünden kann, dass sie „alle in Deutschland zu entrichtenden Steuern und Abgaben“ zahle, bis hin zu definitiv illegalem Handeln, wie wir es etwa von der sizilianischen Mafia erwarten.
Dazwischen ist alles möglich, wie man beispielsweise mit Blick auf die Atomenergie sehen kann. Da haben wir ja gerade zwei traurige Interview mit Ihnen erklärt, wie das funktioniert: Rund um das Messgerät ein paar Bleiakkus aufbauen ─ natürlich nur zur Vorsorge, wenn mal der Strom ausfällt! ─ und schon ist das Messgerät von genau der Strahlung abgeschirmt, die es eigentlich messen sollte.
Und falls Sie sich nun fragen, warum so etwas passiert: Für Japan spricht man vom Atom-Dorf: „ein Netzwerk aus Konzernen wie Tepco, Wissenschaftlern, dem Wirtschaftsministerium und der Regierung“, wie Japans ex-Premier Naoto Kan es nannte: Man kennt sich, arbeitet gut und zum gegenseitigen Vorteil zusammen. Wirklich kritisch gefragt oder kontrolliert wird nicht. Gerade bei hierarchischen Großorganisationen bilden sich gerne solche Strukturen ─ ganz ähnlich lag es wohl beim militärisch-industriellen Komplex in den USA. Oder bei der deutschen Atomaufsicht bis zum rot-grünen Atomausstieg: Danach wurden die falsch verdübelten Kühlwasserleitungen in Biblis entdeckt… Dass VW’s falsche Abgaswerte zuerst in den USA entdeckt wurden: wirklich eine Überraschung? Oder sollte man fragen: wer will schon in Deutschland bei einem so großen Arbeitgeber so besonders genau hinschauen?
Nicht, dass da immer alles völlig unkritisch abgenickt würde. Die Frage ist eher: wie weit reicht die Kontrolle? Wenn gleichzeitig der „Wirtschaftsstandort gefördert“, Arbeitsplätze gesichert“ werden sollen ─ oder wie die immergleichen Totschlag-Argumente gerade heißen: wenn Betreiber und Aufsicht aus dem gleichen Stall kommen, die gleiche Ausbildung mitbringen müssen: dann liegt es nahe, dass die Kritik keine grundsätzliche wird. Natürlich gibt es immer wieder mal Ausnahmen wie den Fall Traube ─ doch Ausnahmen bestätigen die Regel.

Auf Ihrer Jahrestagung in diesem Jahr ging es ja unmittelbar darum, „Wie Konzernmacht die Demokratie unterminiert“. Welche Entwicklungen beobachten Sie hier aktuell? Und inwiefern sind diese eine Bedrohung für welche Demokratie?
Auf der Tagung wurde sehr schön die Abstufung von gemeinschaftsschädlichem, aber noch legalem Verhalten bis hin zu dezidiert illegalem Verhalten aufgezeigt. Ein ganz wichtiges Thema waren natürlich die Steuern, Steuervermeidung und Steuerhinterziehung. Man kann nicht oft genug betonen, dass das keine Kavaliersdelikte sind. Sondern dadurch entstehen Schäden in Milliardenhöhe; Schäden, die die durch Bankraube bei weitem übertreffen.
En détail wurden die Aktivitäten der Deutschen Bank und des Bayer-Konzerns beleuchtet: Die eine macht Rückstellungen in Milliardenhöhe für ihre „vielen tausend Rechtsstreitigkeiten“, wie Wolfgang Hetzer auf der Tagung ausführte. Der andere vermarktet Antibabypillen und andere Medikamente aggressiv, die heftige Nebenwirkungen zeitigen und zu Todesfällen führen können. In „“ sowie auf der Webseite der „Coordination gegen BAYER-Gefahren“ finden Sie Details zu solchen Geschäftspraktiken, die zugleich hochprofitabel und gesundheitsgefährdend sind.
Was aus den Beispielen deutlich wird, sind die konkreten Gefahren für eine demokratische Gesellschaft:
Zunächst mal sind es die jährlich allein aus gerade noch legaler Steuervermeidung, die den EU-Staaten fehlen. Die illegale Steuerhinterziehung ist da noch nicht eingerechnet. Doch einfach, um die Größenordnung zu verdeutlichen: das reicht fast an die 93 Milliarden heran, die allein im deutschen Bundeshaushalt für Rente und Grundsicherung im Alter ausgegeben werden müssen. Oder das Geld, das fehlt, um die gerade auch von Unternehmen gewünschte und benötigte „Infrastruktur“ ─ von Bildung bis Verkehr ─ zu schaffen bzw. aufrechtzuerhalten.
Wichtiger ist der Einfluss auf politische Entscheidungen: gar mancher Gesetzesentwurf wird inzwischen von Lobbyisten mitgetextet. Manche Regierung will das als erfolgreiche Variante von PPP, also Public-Private-Partnership verkaufen ─ tatsächlich steht dann aber zu befürchten, dass die Gesetze privaten Profit zu Lasten vieler Bürger ermöglichen. Wo verläuft die Grenze zu Korruption und Bestechung? Wenn ein Unternehmensvertreter das Köfferli mit den Banknötli öffnet, ist das offensichtlich Bestechung ─ die wir in allen möglichen sogenannten „Bananenrepubliken“ anprangern. Wie groß ist aber der Unterschied zum Wechsel von Politikern in die Vorstandsetagen genau der Konzerne, die sie zuvor beaufsichtigt, deren Geschäftsfelder sie zuvor „reguliert“ hatten? Zu wessen Nutzen wird die „Regulierung“ da ausgefallen sein?
Die öffentliche Meinung spielt in freien Gesellschaften schon eine Rolle ─ weshalb sie von einer ganzen Branche ─ den PR-Agenturen ─ massiv beeinflusst wird. Wer kann sich die Dienste einer PR-Agentur leisten? Was ist davon zu halten, wenn die Konditionierung auf Marken und Unternehmensinteresse schon in Schulen beginnt? Die öffentlichen Etats sind knapp ─ womit wir wieder beim anderen Thema sind: Steuervermeidung. Da freut sich jede Schule über graphisch schön gestaltetes Unterrichtsmaterial, das ihnen von Unternehmen kostenlos zur Verfügung gestellt wird. Scheinbar kostenlos ─ denn selbstverständlich sind die Kosten für solche Werbeaktionen, über die das Unternehmenslogo schon bei Kindern früh verankert wird, als Betriebsausgabe absetzbar: mindern den Gewinn, damit die Steuern ─ die der Staat einnehmen könnte, um sein Lehrmaterial selbst und nach pädagogischen Aspekten statt Marketingstrategien zu gestalten.
Erste Lichtblicke gibt es: Australien kündigt nicht nur an, gegen die Praxis steuersparender Gewinnverlagerung – dort vor allem nach Singapur – vorzugehen, sondern hat, wie die Frankfurter Rundschau Anfang Mai berichtete, jetzt ein entsprechendes Gesetz verabschiedet.
Daneben stehen aber weiter große Gefahren wie zum Beispiel das geplante „Freihandelsabkommen“ TTIP: Nach dem gerade geleakten Stand der Verhandlungen droht immer noch, dass die demokratische Selbstbestimmung eines Landes durch „regulatorische Zusammenarbeit“ und internationale Schiedsgerichte ausgehebelt wird. Wie solch‘ „Schutz von Investitionen“ aussieht, konnten wir gut bei der Fußball-WM in Brasilien beobachten: auch da gibt es Hooligans, und auch in Brasilien steigt die Gewaltbereitschaft mit steigendem Alkoholpegel. Ein guter Grund, Alkohol in den Fußballstadien zu verbieten ─ was Brasilien 2008 getan hatte. Doch da hatte das Land die Rechnung ohne den Wirt ─ pardon: das Gesetz ohne den Fifa-Sponsor gemacht. Der Braukonzern Anheuser-Busch beklagte sich bei der Fifa. Sorry, den Namen „Inbev“ kennt kaum jemand ─ wohl aber die Marken des belgisch-amerikanischen Braukonzerns: „Budweiser“, „Becks“, „Franziskaner“, um nur einige zu nennen.
Der Fifa jedenfalls war ihr Sponsor wichtiger als die Entscheidungen und Gesetze des brasilianischen Parlaments. Also setzte der ─ private! ─ Verein „Fifa“ den Staat Brasilien unter Druck, damit der Sponsor Budweiser sein Bier doch in den Stadien verkaufen durfte. Was ist wichtiger: ein Gesetz, das schützt? Oder die Interessen des Sponsors, sein Gebräu gerade in ausverkauften Stadien zu verkaufen? Brasilien knickte ein, erlaubte den Bierverkauf zur WM per Sondergesetz. Anschließend zeigte sich der Fifa-Generalsekretär überrascht von den vielen Betrunkenen, die sich „gar nicht gut benommen“ hätten. Ja, wer hätte das ahnen können? Etwa der Budweiser-Controller, der den Zusatzgewinn im Verhältnis zu den Sponsoring-Kosten berechnet hat?
An genau das Fußball-Ereignis sollten wir uns erinnern, wenn jetzt TTIP diskutiert wird: Schließlich geht es da ja bloß darum, Investoren vor ungerechtfertigten Staatseingriffen zu schützen ─ wie es Brasilien mit seinem Alkoholverbot in Fußballstadien versucht hat.
Je höher der zu erwartende Gewinn, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass jede Vernunft ausgeblendet wird. Marktgeschehen mag vieles sein ─ sicher nicht jedoch das Ergebnis von Einsicht und Vernunft. Der kriminellen Spielart Einhalt zu gebieten: dazu ist Business Crime Control angetreten. Schauen Sie doch mal auf unsere BIG Business Crime!

Ich bedanke mich für das Gespräch.

Peter Menne, Jahrgang 1964, M.A., studierte Germanistik und Soziologie. Er arbeitet als Unternehmensberater, entwickelte für die Personalberatung eine . Als Photograph stellte er zu verschiedensten Themen aus, darunter „Immer dichter wohnen?“ oder „Maghreb – Reise ins Landesinnere“. Er engagiert sich seit langem in Initiativen für Bürgerrechte und säkularen Humanismus, wurde 2015 in den Vorstand von Business Crime Control gewählt. Er ist Träger der Hessischen Medaille für Zivilcourage und gemeinsam mit Reiner Diederich Herausgeber von „Der Müll, die Stadt und der Skandal. Fassbinder und der Antisemitismus heute“.

Dieser Text erschien zuerst auf den "NachDenkSeiten - die kritische Website". Die Verwertung durch uns erfolgt im Rahmen der Creative Commons Lizenz 2.0 Non-Commercial, unter welcher er publiziert wurde.

12. Juni 2016
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