Kapitalismuskritik von innen

«Der Kaiser ist nackt!» Aber Leute – das können wir doch nicht zulassen?! Was ist dran an der «plötzlichen» Kapitalismuskritik von FAZ & Co.? Und was vergassen die Neu-Kritiker zu sagen? Ein Glosse von Volker Freystedt.

Jahrelang haben die Medien die hübschen Kleider des Kaisers gepriesen, und gelegentlich, wenn doch einmal eine Blöße nicht mehr zu ignorieren war, erklärten sie, ein Verrutschen der Gewänder wäre daran schuld. Keine der Stimmen, die immer und immer wieder beharrlich dazu aufforderten, doch endlich den eigenen Sinnen zu vertrauen und laut und offen auszusprechen, dass der Kaiser nackt sei, bekam ein Mikrofon in die Hand, durfte vor eine Kamera, erhielt redaktionellen Raum. Solchen vorlauten Kindern wurde maximal der Sandkasten der Leserbriefseiten zugewiesen.
Doch nun – auf einmal melden sich die ersten Erwachsenen zu Wort! Und nicht irgendwelche. Natürlich nicht solche aus der Riege der Schneider und Modeschöpfer. Doch durchaus solche, die dem Kaiser sehr lange sehr nahe standen. Die lange seine hübschen Kleider priesen und seine Blöße mit feinem und grobem Gewebe aus Worten verschleiern halfen.
Nun also ertönen die ersten Rufe: „Der Kaiser ist ja nackt!“
Eigentlich klingt es nicht ganz so direkt – eher zaghaft noch: „Jemand hat gesagt, ihm komme es so vor, als sei der Kaiser nackt. Und wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, dass ich einen ähnlichen Eindruck habe…“
Frank Schirrmacher, Chef der FAZ*, ist so ein Beispiel. Er versteckt sich erst hinter dem „erzkonservativen Thatcher-Biographen“ Charles Moore und dem „liberalen Katholiken“ Erwin Teufel. Denen sei aufgefallen, dass irgendwas mit dem Ornat des Kaisers nicht stimme, dass er darin ziemlich nackt dastünde. Dann legt Schirrmacher seinen eigenen inneren Kampf dar: „Schlimm ist, wenn Sätze, die falsch waren, plötzlich richtig werden.“ Und er schließt gleich an, was daran so schlimm ist – und was offenbar so stark war, dass es zur Unterdrückung der eigenen Wahrnehmung führte: „Dann beginnen die Zweifel, ob man richtig gelegen hat, ein ganzes Leben lang.“
Jetzt also das Eingeständnis, dass „Geld die Welt regiert“, dass „das politische System nur den Reichen dient“. Oder, noch knapper, fast zeit- und wortgleich im SPIEGEL wie in der ZEIT zu lesen: wir leben „im falschen System“. Aha – haben das die vorlauten Kinder nicht schon vor vielen, vielen Jahren zu verkünden versucht?
Moore, Teufel, Schirrmacher und all die anderen, die sich noch um das gleiche Horn versammeln werden, um auch noch hinein zu blasen – es hat zwar gefühlt „ein ganzes Leben“ gedauert, aber noch seid Ihr am Leben, noch könnt Ihr etwas mit der neuen Erkenntnis anfangen. Für Euch – aber erst recht für andere. Denen seid Ihr etwas schuldig. Zum Beispiel denjenigen, die schon immer ihrer eigenen Wahrnehmung mehr trauten als den „Experten“, auf die Ihr Euch berieft oder für die Ihr Euch hieltet, und die erleben mussten, dass man (auch Ihr!) sie auf die Kinderspielplätze scheuchte, wenn sie mal wieder „Der Kaiser ist ja nackt!“ riefen.
Vor allem aber geht es jetzt doch darum, den nackten Kaiser nicht bloßgestellt stehen zu lassen! Was für ein erbärmliches Volk, das zulässt, dass sein Kaiser von Scharlatanen und Betrügern zum Hanswurst gemacht wird! Wie soll anders herum ein solcher Kaiser seinem Volk nützen? Ein Kaiser muss von seinem Volk so eingekleidet werden, dass es ihn selbst ernst nehmen kann.
Nun haben wir uns aber dafür entschieden, den Kaiser gegen die Demokratie zu tauschen. Und das bedeutet: das Volk herrscht selbst über sich! Sind wir uns darüber klar, was dies bedeutet? Es bedeutet, dass wir alle nackt da stehen, wenn die Kleidung der Regierung aus Lügengespinnsten und fadenscheinigen Motiven besteht.
Wir brauchen ein politisches System – aber die Demokratie ist eines, in dem alle mitmachen, das allen dient, und das deshalb von allen respektiert wird; und dazu brauchen wir zuvörderst ein Geldsystem, das dient und nicht regiert, eines, das die natürlichen Wachstumsgrenzen respektiert.
Das Eingeständnis, dass der Kaiser nur vorgegaukelte Gewänder trug, kann doch nur der erste Schritt gewesen sein! Was jetzt zu folgen hat, weiß eigentlich jedes Kind… aber offenbar geraten wir jetzt wieder in die altbekannte Situation, dass wieder auf die Vorschläge der „Experten“ gewartet wird, die aber erst sondieren müssen, welcher Rat ihnen selbst am meisten nützt…
Hat nicht mal jemand gesagt, man könne die Probleme nicht mit den Denkmustern lösen, durch die sie entstanden sind? Das gilt dann ja wohl auch für die Köpfe, in denen diese Denkmuster vorliegen.
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* „Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat“, FAZ 15.08.2011
von Volker Freystedt
(2. Vorsitzender EQUILIBRISMUS e.V.; Autor u. a. von „Equilibrismus – Neue Konzepte statt Reformen für eine Welt im Gleichgewicht“; Signum Verlag 2005)
31. August 2011
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