Die Schweiz im Sonder-Fall

Liebe Leserinnen und Leser

Den schweizerischen Bundesrat mit Polemik einzudecken, ist seit einiger Zeit kein Kunststück mehr. Anlass gibt es genug, es wird auch reichlich gemacht, nützen tut es trotzdem nichts. Also verzichte ich darauf.
Es gibt aber auch ganz rationale Gründe für die Diagnose, dass sich der Bundesrat in eine gefährliches Strömung manövriert hat, die das Fundament unserer Rechtsordnung unterspült. Ein typisches Beispiel dafür ist die Reform der Unternehmensbesteuerung, nach der Einkünfte aus Beteiligungen (sprich: Dividenden) in Zukunft steuerlich bevorzugt werden sollen. Schon der Begriff der «steuerlichen Doppelbelastung», den der Bundesrat in seiner Botschaft gewählt hat, zeugt von einer ernsthaften Verwirrung. Eine Kapitalgesellschaft und die Besitzer ihrer Anteile sind nämlich getrennte juristische Einheiten. Dividenden aus den versteuerten Gewinnen einer juristischen Person, die an andere juristische oder natürliche Personen fliessen, sind ganz normales Einkommen und steuerlich auch als solches zu behandeln. Jedes Geld, das irgendwo im Land verdient wird, war einmal das Einkommen von andern und ist schon mehrmals versteuert worden. Trotzdem spricht niemand von Doppelbelastung.

Natürlich besteht eine gewisse wirtschaftliche und personelle Einheit zwischen einer Firma und ihren Eigentümern, aber auch eine klare rechtliche Trennung, das ist ja Sinn und Zweck der juristischen Person. Die Anteilsbesitzer haften nämlich für die Verluste ihrer Firma nicht mit ihrem privaten Vermögen, also sollen sie bei den Gewinnen gegenüber normalen Steuerzahlern auch nicht privilegiert werden.  Wer dies verlangt, wie der Bundesrat und wer dies sanktioniert, wie das Parlament, gefährdet unsere Rechtsordnung. Wie weit man diese Gefährdung noch treiben kann, bevor sie als Zerstörung bezeichnet werden muss, werden die künftigen Historiker zu beurteilen haben. Ich schreibe diesen Text ja für eine Zeitschrift, die überzeugt ist, dass die Zerstörung – ein gesellschaftliches Wunder vorbehalten – eine unumkehrbare Dynamik entwickelt hat.

Mein nächstes Beispiel für den bedenklichen Zustand unserer Landesregierung stammt aus dem Justizdepartement, dessen Vorsteher sich vor kurzem zur Strafnorm des Antirassismusgesetzes geäussert hat, das die Leugnung des Völkermordes unter Strafe stellt. Darüber lässt sich in der Tat trefflich streiten. Was ist überhaupt Völkermord? Sind zum Beispiel die 30 Millionen Menschen, die von Mao Tse-tungs Schergen ermordet wurden, Völkermord? Vermutlich eher «Klassenmord», denn es waren ja Landsleute, die sich im Klassenkampf gegenseitig umbrachten. Oder: Wann ist ein Völkermord juristisch als solcher festgestellt? Die Ausrottung der 17 Millionen Ureinwohner Nordamerikas durch Armee und Staatsbürger der USA sind ohne Zweifel Völkermord, aber kein legitimes Gericht hat je darüber befunden. Hier wäre eine klare juristische Norm ein eindeutiger gesetzgeberischer Fortschritt. Aber um den ging es dem Vorsteher des Justizdepartementes nicht, als er jüngst in der Türkei im Zusammenhang mit dem Genozid an den Armeniern die Revision des Antirassismusgesetzes in Aussicht stellte. Es ging ihm auch nicht um die Meinungsäusserungsfreiheit, wie er vorgab. Wäre ihm diese Freiheit nämlich so wichtig, hätte er nicht unlängst seine Frau beim Westschweizer Fernsehen gegen ein paar Karikaturen von ihm kämpfen lassen. Es ging ihm in Ankara darum, mit einer gezielten Provokation das Feld zu besetzen und Gegner zu schaffen. Der Mann lebt politisch von seinen Gegnern: Je mehr Widersacher, desto grösser sein politisches Gewicht. Die wirkungsvollste Zurechtweisung für den Justizminister liegt also darin, ihn nicht zu beachten und ihm die Gegnerschaft zu verweigern. Das ist in einer Kollegialbehörde wie dem Bundesrat allerdings leichter gesagt als getan, weshalb meine Prognose für diese Behörde mittelfristig nicht sehr optimistisch ist.

Ausserordentlich problematisch ist auch die von Innenminister Pascal Couchepin betriebene Gesundheitspolitik, die auf widerrechtliche Bevorzugung gewisser Anbieter hinausläuft. Kaum waren die fünf Komplementärmedizinischen Methoden im Sommer 2005 aus der Grundversicherung gekippt, hat sich der damals federführende Vizedirektor des Bundesamtes für Gesundheit, Hans-Heinrich Brunner, aus dem Staub gemacht. Jetzt soll die Geschäftsprüfungskommission die Angelegenheit untersuchen. Die Thurgauer SP-Nationalrätin Edith Graf-Litscher hat den Verdacht, dass sich Bundesrat Couchepin «gesetzwidrig» verhalten habe und Steuergelder verschleudert wurden. Das Bundesamt plante auch eine 300‘000 Franken teure PR-Kampagne zur Bekämpfung der Volksinitiative «Ja zur Komplementärmedizin», ein Demokratieverständnis, das nicht zu einem Spitzenbeamten passt, sondern in die Pharmaindustrie, wohin sich der betreffende Amtsvorsteher versetzen lassen sollte.

Was ich damit sagen will ist dies: Der Bundesrat gefährdet unter dem Einfluss seines mit riesigem Abstand reichsten Mitglieds in krasser Weise die Grundlagen unserer weltweit einzigartigen Demokratie. Diese basiert nämlich nicht nur darauf, dass das Volk das letzte Wort hat, sondern dass die Mitglieder der Regierung zusammen und nicht gegeneinander arbeiten. Demokratie im Sonderfall Schweiz heisst nämlich nicht wie andernorts, dass die Mehrheit über die Minderheit bestimmt, sondern dass die politischen Kräfte im Verhältnis ihrer Anteile ausbalanciert werden.
Wenn der Trend nicht rasch gewendet wird, sinken wir auf das Niveau einer hundsgewöhnlichen Scheindemokratie, wie sie überall auf der Welt von wechselnden Despoten, Schwätzern und Gschäftlimachern manipuliert werden. Aber vielleicht haben wir ja nichts Besseres verdient, als von Bushs und Berlusconis am Gängelband herumgeführt zu werden. Entschuldigung, jetzt bin ich doch noch polemisch geworden. Der Sondersturz der Schweiz ist aber auch nicht leicht zu verdauen.
Anstatt sich über das Unabänderliche aufzuregen, sollten wir uns vielleicht lieber jetzt schon auf die nächste Schweiz freuen, das wäre gesünder und produktiver.
Herzlich, Ihr Geni Hackmann
01. November 2006
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