Alle wollen steuern, niemand rudern

Ressourcenklau im Bildungswesen: Während bei den Lehrkräften und im Unterricht eisern gespart wird, schiesst die Bildungsbürokratie ins Kraut – mit fraglichem pädagogischem Mehrwert. Doch es regt sich Widerstand.

Die Fakten sind für die bernische Lehrerschaft niederschmetternd: Seit den Sparpaketen in den späten 90-er Jahren verschlechterte sich ihre Lohnentwicklung, ihre Kaufkraft und ihre Arbeitsbedingungen markant, bei stetig steigenden Belastungen.
Erinnern wir uns: Der Kanton halbierte das Wahlfachangebot, schloss weit über 200 Klassen, schaffte die Familienzulagen ab, führte Kursgelder für die Lehrkräfte ein, kürzte die Stipendien, strich mehrere Jahre den Teuerungsausgleich, verkürzte die Gymnasialzeit um ein Jahr, kürzte die fünfjährlichen Treueprämien und strich die Überbrückungsrente für vorzeitige Pensionierungen.
Er erhöhte die Arbeitszeit der Lehrkräfte um eine Lektion, beteiligte die Lehrerschaft an der Sanierung ihrer Pensionskasse mit happigen Beitragserhöhungen, strich den alljährlich gesicherten Erfahrungsanstieg und senkte die Lektionenzahl der Primarstufe um zwei Einheiten.


Die Summe der durch diese Massnahmen erzielten Einsparungen betrug mehrere Milliarden Franken. Nach all diesen einschneidenden Sparmassnahmen schreibt der Kanton 2013 wieder ein Defizit von 200 Millionen Franken und sagt auf Jahre hinaus ein strukturelles Defizit von 400 Millionen Franken voraus.
Neue Sparmassnahmen im Bildungsbereich waren die Folge. Ende Oktober schockierte der Kanton Luzern mit Sparplänen für die Schule. Er will Gymnasien und Berufsschulen eine Woche Zwangsferien verordnen, um das Budget um acht Millionen zu entlasten. Zuvor hatte bereits St. Gallen die Bildungskosten mit Zwangsferien an der Berufsschule gesenkt.
Der Autor dieses Artikels, ein Reallehrer mit Nachdiplomstudium, verdient nach 34 Dienstjahren rund 9200 Fr. netto pro Monat. Diesen Lohn werden seine 20 Jahre jüngeren Kolleginnen Nicole M. und Carlo S. – im gleichen Schulhaus tätig – nie erreichen. Nicole M. verdient nach 10 Dienstjahren 6200 Fr. netto, und das mit einer gymnasialen Ausbildung gefolgt von einem vierjährigen Studium an der pädagogischen Hochschule. Noch schlimmer trifft es die Lehrkräfte zwischen 40 und 50 Jahren. Sie traf die gesamte Wucht der Sparmassnahmen und sie gingen bei allen Kompensations- und Wiedergutmachungsentscheiden der letzten Jahre leer aus. Sie werden am Ende ihres Lehrerdaseins rund eine Million Franken weniger verdienen, als der bald 60-jährige Klassenlehrer auf der Sekundarstufe 1.


Manch älterer Lehrer wird sich die Augen reiben und sich fragen, wohin denn all die Milliarden geflossen sind, die in mühsamen Sparpaketen aus der Praxis herausgepresst wurden. Diese Fragen werden drängend, wenn man sich die Studie von Stefan Wolter, Professor für Bildungsökonomie an der Universität Bern vom vergangenen Dezember zu Gemüte führt.Wolter zufolge kann von Sparmassnahmen gar nicht die Rede sein. Die Bildungsausgaben wachsen, ja sie explodieren förmlich. Wolter schreibt: «Gesamtschweizerisch belief sich die Zunahme 1990 und 2010 auf 92,5 Prozent, im Kanton Zürich auf 95,1 und im Kanton Bern auf 55,1 Prozent.» Rund die Hälfte der Zunahme dürfte auf die Teuerung zurückzuführen sein. Aber: In der Volksschule stieg die Schülerzahl zwischen 1990 und 2010 um gut 6 Prozent auf 905'000, während die Kosten um knapp 29 Prozent zunahmen. Ein Teil dieser Ausgabensteigerung ist natürlich auch auf das Wachstum der Fachhochschulen zurückzuführen. Aber auch diese Mehrausgaben erklären nicht die eklatante Lücke zwischen den eingesparten Geldern und dem realen Ausgabenwachstum.
Der Ökonom Beat Kappeler weist in der NZZ am Sonntag (29.12.13) auf eine Erklärung hin. Im Sozialbereich, im Gesundheitswesen und vor allem in der Bildung wurden in den letzten Jahren über 200'000 Stellen geschaffen. «Von Volksschule bis Fachhochschule und Universität laufen unendliche Reformrunden für Pensen, Bewertungen, Evaluationen, Mediationen, für Förderung und Einebnung gleichzeitig. Dies bringt abgehobene Schulleitungen, die Sitzungsorgien auferlegen und Rapporte von den wenigen, die noch lehren, schreiben lassen.»


In all den Jahren ist unverkennbar eine Bildungsbürokratie entstanden, deren Akteure mit immer neuen Impulsen ihr eigenes Überleben zu sichern versuchen. Auf der einen Seite stossen sie Fachhochschulen und Universitäten massenweise gut ausgebildete Bildungsmanager, Entwicklungspsychologen oder Kommunikationsspezialisten aus. Auf der anderen Seite sorgen die anhaltend schlechter werdenden Arbeitsbedingungen an der Volksschule für einen ungebrochenen Ansturm auf die Stellen in der Bildungsbürokratie. Sie alle wollen steuern und nicht rudern.
Dieses Stellenwachstum ist auf allen Ebenen festzustellen. In meiner Wohnortsgemeinde Biel schuf der sozialdemokratische Bildungsdirektor für die sechs Schulsozialarbeiter (alle mit einer 50 Prozent-Stelle) zum Entsetzen der Bieler Schulleiter eine Leitungsfunktion von 40 Prozent (das sind zwei Tage Arbeit pro Woche!). Eine Kindergärtnerin wurde Integrationsfachfrau für die Unterstufe, eine Lehrerin Integrationsfachfrau für die Oberstufe, die Hauswarte erhielten einen Chefabwart. Dazu gesellte sich eine eingehende Konzeptionitis: Kommunikationskonzept, Integrationskonzept, Früherziehungskonzept, Peacekonzept, Bildungsstrategie – der gute Sozialdemokrat kniete sich dermassen in Steuerungsfragen, dass er darob die Schulraumplanung völlig  vergass. Die Folge: In einer Feuerwehrübung mussten Container aufgestellt und Notbauten errichtet werden.


In Wirklichkeit schafft sich ein Heer von Case Managern, Psychotherapeuten, Beraterinnen, Präventionisten, Sozialarbeitern immer neue Fälle. Viele Kinder werden pathologisiert, weil es an den Schulen an Wissen fehlt. So werden bereits Kindergärtler zu einer Abklärung angemeldet, weil sie nicht eine Dreiviertelstunde ruhig im Kreis sitzen können. Mit dem Integrationsgesetz wurden die Schulen ungefragt mit einer Lawine von Betreuungsangeboten überschüttet. Wenn ein Kind nicht rechnen kann, muss es in der Regel mehr üben. Damit das nicht so banal klingt, braucht es eine Sozialpädagogin, die das Kind betreut, eine Schulpsychologin, die sich dem Grundproblem widmet, und eine Heilpädagogin, welche die Förderempfehlungen in Förderpläne umsetzt. Das Ganze nennt man dann Förderdiagnostik.
Die Erziehungsdirektorenkonferenz, die Lehrplan21-Macher (170 Leute eines Geheimbundes), regionale (und städtische) Bildungsverwaltungen, die pädagogischen Hochschulen, die Schulkommissionen, die Institute für Weiterbildung, die Schulinspektoren – sie alle wollen steuern. Die Folge: Das Bildungswesen ist schweizweit übersteuert. Übersteuerung führt zu Machtkämpfen, Konfusionen und Pfründen, kurz, zu einem gigantischen Ressourcenklau.


Gleichzeitig schloss man die Lehrkräfte weitgehend aus den Diskussionen der Schulentwicklung aus. Man schätzt sie als Erfüllungsgehilfen, weil man weiss, dass es ohne sie nicht geht. Gleichzeitig spricht man ihnen aber je länger je mehr jede Kompetenz ab, sich zu schulpolitischen Fragen oder zur Schulentwicklung generell zu äussern.
Im Gegenteil, kritische Lehrkräfte, die gegen Fehlentwicklungen aufbegehren und sich öffentlich äussern, werden neuerdings von der Bildungsbürokratie «gedeckelt».Die Player im Bildungssystem sind zurzeit andere. Es sind nicht die Praktiker, es sind die Steuerzentralen in den Bildungsdirektionen, die von Leuten bedient werden, welche die Herausforderungen des Unterrichts nur aus der Distanz kennen.


Die Konsequenzen sind vor allem bei der Unterrichtsqualität deutlich spürbar. Schulen sind auf ein Mindestmass an Kontinuität im Lehrkörper angewiesen, auf den Theatermacher, die innovative Bibliothekarin, den Troubleshooter, der auch schwierigste Situationen beruhigt, den Festorganisator, der mit Leib und Seele die Abschlussfeiern in die Hände nimmt, kurz die herausragenden Mitarbeiter, für die Beruf und Schule mehr als nur ein Job sind. Der Klassenlehrer ist ein eminent wichtiger Akteur in diesem System, der Garant funktionierender sozialer Beziehungen zwischen Lehrkraft und Schüler. Er, der stolz ist, Lehrer zu sein, der sich mit seiner Schule identifiziert, der die Nähe zu den Schülern sucht, der optimistisch, leidenschaftlich und belastbar mit seiner Klasse ein verschworenes Team bildet. Diese dringend benötigten Lehrkräfte wurden einer eisigen Kundenmentaltität geopfert und sind heute seltener als der Apollofalter auf unseren Wiesen.
Als ich 2010 meine Stelle in Biel kündigte, meldete sich bei der ersten Ausschreibung niemand, der meinen Job an einer Bieler Realschule weiterführen wollte. Auf die vorher ausgeschriebene Stelle eines Casemanagers der Berufsberatung in Biel gingen 50 Bewerbungen ein, viele von Lehrkräften.


Umso erstaunlicher, was sich im Dezember 2013 ereignete: Mit der Aktion 550gegen550 haben sich 1000 Lehrkräfte eindrücklich in der pädagogische Diskussion zurückgemeldet. Das im Dezember lancierte Memorandum wollte ursprünglich 550 Lehrkräfte gewinnen, welche den 550-Seiten langen Lehrplan 21, den neusten bildungsbürokratischen Erguss, scharf kritisierten und zurückweisen. Es sind im Handumdrehen mehr als Tausend geworden. Sie haben begriffen: Die Schule hat Kämpfer nötig, heute mehr denn je. Es ist besser, all diese Reformruinen, die uns eine ausser Rand und Band geratene Bildungsbürokratie in die Gegend stellt, gar nicht erst entstehen zu lassen, als hinterher an ihnen zu weinen. Mut ist in dieser Anpassungsgesellschaft eine Tugend von grosser Sprengkraft geworden.


Alain Pichard, Lehrer und für die Grünliberalen Mitglied des Bieler Stadtparlaments, ist Mit-Initiant der Aktion «550gegen550».




Mehr zum Thema Bürokratie im Schwerpunktheft «Formularkrieg»

Dazu auch die Tagung «Zur Sache – die Fesseln der Bürokratie sprengen» vom 25. Oktober 2014 in Zürich
27. August 2014
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