Neoliberalismus: Unterwerfung als Freiheit
Der Neoliberalismus ist als Gesellschaftsideologie ein Phänomen. Nicht nur macht er den Armen und Arbeitslosen weis, sie selbst wären an ihrem Elend schuld. Er schafft es auch, dafür zu sorgen, dass das wahre Ausmaß der gesellschaftlichen Armut kaum je an die Öffentlichkeit dringt. Dass das Gesundheitssystem trotz immer höherer Ausgaben immer weniger den Menschen und immer mehr den Profiten einiger weniger dient. Dass die Soziale Arbeit erodiert und kaum jemand etwas hiergegen unternimmt. Dass mittels Stiftungen ein regelrechter „Refeudalisierungsboom“ im Lande tobt und Investoren inzwischen das öffentliche Schulwesen ins Visier nehmen. Über die psychologische Funktionsweise der Ideologie des Neoliberalismus sprach Jens Wernicke mit dem Gewerkschafter und Autor Patrick Schreiner, von dem unlängst ein Buch zum Thema erschien.
Herr Schreiner, vor einigen Monaten erschien Ihr aktuelles Buch „Unterwerfung als Freiheit“, in welchem Sie dem Neoliberalismus mit spitzer Feder den Spiegel vorhalten. Verstehe ich die Essenz Ihrer Kritik recht, wenn ich zusammenfasse: Die Gesellschaft, in der wir leben, wird in allen Bereichen zunehmend unfreier, gibt diese wachsende Unfreiheit jedoch erfolgreich als „Freiheit“ aus? Wo und wie tut sie das denn genau?
Es kommt darauf an, wie man Freiheit definiert. Für Neoliberale bedeutet Freiheit im Grunde nur, nicht von Staat und Gesellschaft belästigt zu werden – “belästigt” etwa durch zu hohe Besteuerung, Regulierung, Sozialleistungen, Arbeitnehmerrechte oder jegliche Form von organisierter Solidarität. Der Mensch gilt hier als frei, wenn er auf sich alleine gestellt den Marktkräften ausgesetzt ist. Entsprechend gilt es, Regulierungen von Märkten zu reduzieren und das Marktprinzip auf immer mehr Bereiche von Gesellschaft und Wirtschaft auszuweiten. Aus dieser Sicht sind in den letzten Jahrzehnten – und auch wenn Neoliberale gerne das Gegenteil behaupten – die allermeisten Gesellschaften tatsächlich „freier“ geworden: Traditionelle Solidarverbände wie Familie, Kirche oder Gewerkschaften haben an Bedeutung verloren, soziale Verlässlichkeiten wurden abgebaut, der Wohlfahrtsstaat reduziert etc. pp.
Aber das ist natürlich nicht der Freiheitsbegriff, den ich meine. Die eben beschriebenen Entwicklungen führen dazu, dass die Menschen eine Art neoliberale Moral verinnerlichen: „Sei aktiv und selbstdiszipliniert! Denke unternehmerisch! Finde Deine Defizite! Optimiere Dich! Stelle Dich in Beruf, Privatleben, Sexualität als leistungsfähig dar!“ Schon dieser Moral zu folgen, ist ein erster Schritt hin zu praktischer Unterwerfung. Weil aber niemand “perfekt” im Sinne dieser Moral sein kann, ist inzwischen eine ganze Industrie an Expertinnen und Experten entstanden, die gutes Geld damit verdient, den Menschen zu sagen, wie sie leben sollen – wie ihr Körper noch attraktiver, ihre Wohnungseinrichtung noch geschmackvoller, ihre Bildung noch arbeitsmarktkonformer werden kann und vieles mehr. Das ist dann ein zweiter Schritt der Unterwerfung. Mit Freiheit hat das nichts zu tun.
Mit dem „Ich allein bin meines Glückes Schmied!“ wird zudem die Verantwortung für ihr Leben alleine den einzelnen Menschen zugeschrieben. Wenn sie krank werden, waren nicht etwa die Arbeitsbedingungen schlecht oder das Gesundheitssystem marode – nein, da hat angeblich jeder Einzelne nicht genug für seine Fitness, seine Gesundheit, seine Ernährung getan. Bei Arbeitslosigkeit und Armut das gleiche Spiel: Das neoliberale Subjekt ist an allem selbst schuld, für alles selbst verantwortlich. Worüber wir hier also sprechen, ist auch die Ideologie der Rechtfertigung von Armut und Verelendung – denn „die Gesellschaft“ und „das Soziale“ verschwinden zunehmend aus der persönlichen wie politischen Reflexion.
Könnten Sie diese Entwicklung hin zu mehr „Unterwerfung“ in Ihrem Sinne bitte einmal anhand eines konkreten Beispiels skizzieren?
Nehmen wir den Bildungsbereich. Früher zielten Bildung im Allgemeinen bzw. das Schlagwort vom “Lebenslangen Lernen” neben der beruflichen Qualifikation auch darauf ab, Menschen zur selbstbewussten Teilhabe an Kultur sowie demokratischer Gesellschaft zu befähigen. Diese Möglichkeit zur Teilhabe wäre aus meiner Sicht ein ganz entscheidendes Element von Freiheit, ja sogar eine ihrer Voraussetzungen. Seit den 1990er Jahren wird aber bildungspolitisch zunehmend eine Vorstellung dominant, die unter Bildung lediglich noch den Erwerb arbeitsmarktkonformer Kompetenzen verstehen möchte. Wenn die Weltbank, die Bertelsmann-Stiftung oder die EU-Kommission heute über “Lebenslanges Lernen” schreiben, kommen Begriffe wie “Demokratie”, “Moral”, “Teilhabe” in der Regel gar nicht mehr vor.
Kultur- und Gesellschaftswissenschaften an den Hochschulen wurden und werden nun diesem Bild entsprechend ab- und neoliberal umgebaut, “Praxisorientierung” wird an Schulen und Hochschulen durchgesetzt etc. pp. Deshalb auch die Einführung des Bachelors als inzwischen gar nicht mehr so neuem Schmalspur-Studienabschluss. Und rund um diese Neuausrichtung von Bildung entstehen Einrichtungen und Medien, die den Menschen sagen, mit welchen Bildungsangeboten sie ihre Arbeitsmarktkonformität optimieren können: Career Center, Hochschulrankings, Ratgeberbücher, journalistische Angebote in Zeitschriften und Zeitungen, Karrierecoaches, Motivationstrainer usw.
Eine regelrechte „Anpassungsindustrie“ also?
Auch, ja, aber eine, die zugleich auf Kreativität und Autonomie setzt. Das klingt nicht nur widersprüchlich, sondern ist es auch: Die Anpassung an die Märkte besteht darin, formell autonom kreative Anpassungsstrategien zu entwickeln und anzuwenden. Denn es gilt ja, sich von anderen zu unterscheiden, die Nase vorn zu haben, besonders zu sein. Nicht zuletzt deshalb entwickeln beispielsweise die Hochschulen gerade eine enorme Erfindungsgabe, wenn es darum geht, neue eigenständige Studiengänge unter den wildesten Bezeichnungen zu entwickeln und zu bewerben.
Ein noch anschaulicheres Beispiel für dieses widersprüchliche Verhältnis von Kreativität und Anpassung sind sicherlich die zahlreichen Castingshows im Fernsehen. Die jungen Leute, die dort mitmachen, müssen sich den Vorgaben der Show und der Jury vollständig unterwerfen: gesanglich, körperlich, optisch, tänzerisch – und auch in Bezug auf Gefühle, Auftreten, Persönlichkeit. Dabei sollen sie sich aber als eigenständig präsentieren und von anderen abheben. Sie müssen sich als eine “Type” inszenieren, um wirkliche Chancen zu haben.
Und auf derlei Lebenseinstellungen und -prioritäten kommen die Menschen von allein? Oder wie vermittelt sich die neoliberale Ideologie?
Das sind zwei Fragen auf einmal: die nach dem Entstehen und die nach dem Bleiben des Neoliberalismus. Teil einer Antwort auf beide Fragen müssen sicherlich die eben genannten Begriffe der Autonomie und der Kreativität sein. Der Neoliberalismus wurde in den 1970er und 1980er Jahren, als er sich breit durchgesetzt hat, von vielen als befreiend erfahren. In einer Gesellschaft, in der Chefs ihre Mitarbeiter und Männer ihre Ehefrauen an die kurze Leine legten, wirkte das Versprechen von mehr Eigenständigkeit, mehr Freiräumen, mehr Ergebnissteuerung verständlicherweise attraktiv. Und das tut es heute offensichtlich nach wie vor. Tatsächlich dürften viele Menschen den eingangs beschriebenen Begriff von Freiheit als „Abwesenheit staatlicher Eingriffe“ als positiv empfinden.
Bei aller berechtigter Kritik an Medien und Politik: Zu glauben, der Neoliberalismus gehe vorwiegend auf deren quasi externen Einfluss zurück, greift vor diesem Hintergrund wirklich zu kurz. Menschen sind schließlich keine ferngesteuerten Roboter. Sehr viel wichtiger ist, dass der Neoliberalismus reale, wenngleich oft durch ihn selbst ganz wesentlich geprägte Bedürfnisse und Sehnsüchte der Menschen befriedigt; er schafft neben allem Elend und Leid eben auch individuelle Glücksempfindungen und persönliche Erfahrungen der Anerkennung. Die politische Linke sollte das erkennen und überlegen, wie sie mit einem anderen Modell von Gesellschaft und Wirtschaft solche Bedürfnisse und Sehnsüchte mindestens genauso gut befriedigen kann.
Das heißt, die Überwindung des Neoliberalismus setzt für Sie eine Alternative voraus, die den Menschen auch Freiheit sowie Anerkennung zuspricht – im Gegensatz zum Neoliberalismus aber ohne zunehmendes soziales Elend, ohne immer größer werdende Armut auskommt?
Ja, wobei kritisch zu hinterfragen ist, was Freiheit meint und wofür man Anerkennung erhält. Die Alternative zum Neoliberalismus muss eine solidarische und gerechte sein. Eine Rückkehr in die 1950er Jahre aber kann das nicht bedeuten. Weder können wir die Arbeitsverhältnisse von damals zurückhaben wollen, noch die gesellschaftliche und moralische Rigidität jener Zeit. Eine solche gesellschaftliche Alternative setzt daher auch Freiheit voraus, aber eben eine andere als jene, die der Neoliberalismus postuliert.
Können Sie denn spezielle Mechanismen identifizieren, mittels derer sich die neoliberalen „Denkgifte“ in den Köpfen und Herzen der Menschen festsetzen?
Die, die ich in meinem Büchlein untersucht habe, sind das Bildungswesen, die Ratgeberliteratur des so genannten “Positiven Denkens”, Esoterik, Sport und Fitness, Stars, verschiedene Fernseh-Formate, Soziale Netzwerke sowie Konsum und Lifestyle. Überall dort finden Sie Mechanismen der Vermittlung einer Ideologie, die Freiheit und Autonomie verspricht und auf Individualismus und Wettbewerb fußt. Und überall dort werden eben auch Sehnsüchte und Bedürfnisse befriedigt.
Woher kommen diese Sehnsüchte und Bedürfnisse?
Die Struktur der menschlichen Bedürfnisse und Sehnsüchte selbst ist stark gesellschaftlich geprägt. Dabei spielt Konkurrenz eine große Rolle; im Neoliberalismus wollen und müssen wir in Konkurrenz mit anderen bestehen. Lassen Sie mich das an einem Beispiel verdeutlichen. In der empirischen Konsumforschung zeigt sich immer wieder, dass der Konsum von Menschen wesentlich vom Konsum ihres unmittelbaren Umfelds geprägt wird.
Wenn ein – sagen wir – Angehöriger der oberen Mittelschicht in der Zeitung liest, dass sich irgendwelche Manager ihre Millionengehälter nochmals um Millionen erhöhen, so lässt ihn das in der Regel kalt. Wenn der eigene Nachbar aber sich ein Schwimmbad baut, wächst hingegen oft eine unbändige Sehnsucht nach einem eigenen Schwimmbad, das ja nicht zuletzt auch Symbol für einen bestimmten sozialen Status ist. Zurückfallen hinter sein Umfeld möchte man nicht. Entsprechend kann der Bau eines eigenen Schwimmbads das vermeintlich gute Gefühl auslösen, gleichgezogen zu sein. Zuvor war der Nachbar entsprechend für kurze Zeit glücklich, die Nase vorn zu haben. Hier wird, wenn man so möchte, das legitime Streben nach Anerkennung pervertiert. Es wird eine Art Anerkennung für etwas erfahren, an dem es nichts anzuerkennen gibt und das nur im Kontext einer sinnlosen und übersteigerten Konkurrenz Sinn bekommt.
Soziale Ungleichheit bildet dabei den weiteren Hintergrund. Je größer die soziale Unsicherheit in einer Gesellschaft ist, etwa durch “Selbstverantwortung”, durch den Abbau des Kündigungsschutzes, durch wachsende Arbeitslosigkeit, durch sich abschwächende soziale Bindungen oder durch einen Rückbau des Sozialstaats, desto wichtiger wird es für die Menschen, nicht nach unten zu fallen. Denn die Falltiefe nimmt ja zu, je mehr die Ungleichheit zunimmt. Die Angst vor dem Abstieg wächst, und zwar bei allen, nicht nur bei denen, die tatsächlich halbwegs ernsthaft vom Elend bedroht sind. Wenn nun beispielsweise die Arbeitsmarkt-Konformität unserer Bildung oder die optisch-körperliche Selbstdarstellung für uns immer wichtiger wird, dann auch deshalb, weil wir uns durch sie Vorteile im Kampf um eine möglichst sichere gesellschaftliche Position erhoffen. Ähnliches kann auch für das gelten, was wir konsumieren und wie wir es tun, sei es der Senf zum Würstchen, die Markenjeans oder eben das Schwimmbad im Garten.
Das bedeutet ja auch, dass wir emotional eigentlich immer „abhängiger“ vom Neoliberalismus werden, verstehe ich recht? Umso mehr soziales Gefälle und also Angst in der Gesellschaft ist, umso mehr neigen wir zur Erfüllung von Pseudobedürfnissen?
Ja, so würde ich das sehen. Der Neoliberalismus prägt nicht zuletzt unsere Gefühle und wirkt sich durch die auf das Leben der Menschen aus. Angst ist dabei allerdings nur eines, wenngleich ein wichtiges. Zu nennen wären ferner auch Glück, Stolz, Zuneigung, selbst Liebe. Und neben der zunehmenden sozialen Ungleichheit und Unsicherheit spielen noch andere Faktoren eine Rolle, etwa die schon erwähnte zwischenmenschliche Konkurrenz.
Und diese „Dialektik“ der neoliberalen Ideologie: Ist sie auch der Grund dafür, dass es gegen die gesellschaftliche Transformation gen Egoismus und sozialer Spaltung sowie Deprivation so wenig Widerstand gibt? Wo bleiben die Massendemonstrationen, wo bleibt die zivilgesellschaftliche Gegenwehr?
Es dürfte sicher eine Rolle spielen, dass wir alle diese neoliberale Moral längst stark verinnerlicht haben. Niemand zwingt uns zu bestimmten Handlungen, sondern wir machen das freiwillig und aus innerem Antrieb: Wir erwerben arbeitsmarktkonforme Bildung, machen Überstunden, informieren uns über Moden und Geschmäcker, trainieren unseren Körper. Wir versuchen, stets positiv zu denken – und so weiter. Das alles tun wir, weil wir glauben, damit unser Leben besser und schöner zu machen. Und in vielen Fällen stellen sich ja durchaus ja auch ein kleines, kurzes Glück und ein Moment der Anerkennung durch andere ein. Vor Zufriedenheit über diese vermeintliche Bestätigung unseres Handelns verlieren wir aber aus den Augen, dass wir damit uns und unsere Gesellschaften kaputtmachen. Insofern: Ja, die Verheißungen des Neoliberalismus sind sicher einer der Gründe, warum der Widerstand gegen den zunehmenden Sozialabbau und anderes so gering ausfallen.
Haben Sie denn Vorschläge, wie dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten ist? Was können Sie und ich, können wir hiergegen tun?
Es ist meine feste Überzeugung, dass das Leben im Neoliberalismus eine große Zahl an Menschen krank macht; körperlich, vor allem aber psychisch und seelisch. Er verursacht Leiden.
Der Impuls, etwas zu verändern, setzt wohl einerseits eine gewisse Erkenntnis, andererseits aber auch einen aus negativen Erfahrungen gewachsenen Veränderungswillen voraus. Zur Erkenntnis braucht es Aufklärung. Und für Veränderungswillen braucht es eigenes Leid oder Teilhabe am Leid anderer. Hinzu kommt drittens – hoffentlich – die positive Erfahrung von Solidarität. Sie scheint mir eine wesentliche Bedingung dafür zu sein, dass Menschen eine andere Gesellschaft überhaupt für möglich erachten und den Mut aufbringen, für eine solche und entsprechende Veränderungen tätig zu werden.
Dabei denke ich übrigens durchaus, dass die Frage nach möglichen Veränderungen zugleich eine Frage nach gesellschaftlichen Klassen ist. Zwar leiden unter dem Neoliberalismus selbst die Menschen, die sich auf der Gewinnerseite sehen. Also auch jene, die etwa Kapital besitzen oder gut bezahlte Managementpositionen innehaben. Ihre Motivation, etwas zu verändern, dürfte im Allgemeinen dennoch deutlich geringer sein als die der berühmten “99 Prozent”, auf die sich Occupy so medienwirksam berufen hat.
Ich bedanke mich für das Gespräch.
Patrick Schreiner, Jahrgang 1978, ist Politikwissenschaftler, Publizist und hauptamtlicher Gewerkschafter. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Finanz- und Wirtschaftspolitik sowie Politische Theorie. Sein besonderes Interesse gilt der Verknüpfung von Alltagsleben und Arbeitswelt im heutigen Kapitalismus.
Es kommt darauf an, wie man Freiheit definiert. Für Neoliberale bedeutet Freiheit im Grunde nur, nicht von Staat und Gesellschaft belästigt zu werden – “belästigt” etwa durch zu hohe Besteuerung, Regulierung, Sozialleistungen, Arbeitnehmerrechte oder jegliche Form von organisierter Solidarität. Der Mensch gilt hier als frei, wenn er auf sich alleine gestellt den Marktkräften ausgesetzt ist. Entsprechend gilt es, Regulierungen von Märkten zu reduzieren und das Marktprinzip auf immer mehr Bereiche von Gesellschaft und Wirtschaft auszuweiten. Aus dieser Sicht sind in den letzten Jahrzehnten – und auch wenn Neoliberale gerne das Gegenteil behaupten – die allermeisten Gesellschaften tatsächlich „freier“ geworden: Traditionelle Solidarverbände wie Familie, Kirche oder Gewerkschaften haben an Bedeutung verloren, soziale Verlässlichkeiten wurden abgebaut, der Wohlfahrtsstaat reduziert etc. pp.
Aber das ist natürlich nicht der Freiheitsbegriff, den ich meine. Die eben beschriebenen Entwicklungen führen dazu, dass die Menschen eine Art neoliberale Moral verinnerlichen: „Sei aktiv und selbstdiszipliniert! Denke unternehmerisch! Finde Deine Defizite! Optimiere Dich! Stelle Dich in Beruf, Privatleben, Sexualität als leistungsfähig dar!“ Schon dieser Moral zu folgen, ist ein erster Schritt hin zu praktischer Unterwerfung. Weil aber niemand “perfekt” im Sinne dieser Moral sein kann, ist inzwischen eine ganze Industrie an Expertinnen und Experten entstanden, die gutes Geld damit verdient, den Menschen zu sagen, wie sie leben sollen – wie ihr Körper noch attraktiver, ihre Wohnungseinrichtung noch geschmackvoller, ihre Bildung noch arbeitsmarktkonformer werden kann und vieles mehr. Das ist dann ein zweiter Schritt der Unterwerfung. Mit Freiheit hat das nichts zu tun.
Mit dem „Ich allein bin meines Glückes Schmied!“ wird zudem die Verantwortung für ihr Leben alleine den einzelnen Menschen zugeschrieben. Wenn sie krank werden, waren nicht etwa die Arbeitsbedingungen schlecht oder das Gesundheitssystem marode – nein, da hat angeblich jeder Einzelne nicht genug für seine Fitness, seine Gesundheit, seine Ernährung getan. Bei Arbeitslosigkeit und Armut das gleiche Spiel: Das neoliberale Subjekt ist an allem selbst schuld, für alles selbst verantwortlich. Worüber wir hier also sprechen, ist auch die Ideologie der Rechtfertigung von Armut und Verelendung – denn „die Gesellschaft“ und „das Soziale“ verschwinden zunehmend aus der persönlichen wie politischen Reflexion.
Könnten Sie diese Entwicklung hin zu mehr „Unterwerfung“ in Ihrem Sinne bitte einmal anhand eines konkreten Beispiels skizzieren?
Nehmen wir den Bildungsbereich. Früher zielten Bildung im Allgemeinen bzw. das Schlagwort vom “Lebenslangen Lernen” neben der beruflichen Qualifikation auch darauf ab, Menschen zur selbstbewussten Teilhabe an Kultur sowie demokratischer Gesellschaft zu befähigen. Diese Möglichkeit zur Teilhabe wäre aus meiner Sicht ein ganz entscheidendes Element von Freiheit, ja sogar eine ihrer Voraussetzungen. Seit den 1990er Jahren wird aber bildungspolitisch zunehmend eine Vorstellung dominant, die unter Bildung lediglich noch den Erwerb arbeitsmarktkonformer Kompetenzen verstehen möchte. Wenn die Weltbank, die Bertelsmann-Stiftung oder die EU-Kommission heute über “Lebenslanges Lernen” schreiben, kommen Begriffe wie “Demokratie”, “Moral”, “Teilhabe” in der Regel gar nicht mehr vor.
Kultur- und Gesellschaftswissenschaften an den Hochschulen wurden und werden nun diesem Bild entsprechend ab- und neoliberal umgebaut, “Praxisorientierung” wird an Schulen und Hochschulen durchgesetzt etc. pp. Deshalb auch die Einführung des Bachelors als inzwischen gar nicht mehr so neuem Schmalspur-Studienabschluss. Und rund um diese Neuausrichtung von Bildung entstehen Einrichtungen und Medien, die den Menschen sagen, mit welchen Bildungsangeboten sie ihre Arbeitsmarktkonformität optimieren können: Career Center, Hochschulrankings, Ratgeberbücher, journalistische Angebote in Zeitschriften und Zeitungen, Karrierecoaches, Motivationstrainer usw.
Eine regelrechte „Anpassungsindustrie“ also?
Auch, ja, aber eine, die zugleich auf Kreativität und Autonomie setzt. Das klingt nicht nur widersprüchlich, sondern ist es auch: Die Anpassung an die Märkte besteht darin, formell autonom kreative Anpassungsstrategien zu entwickeln und anzuwenden. Denn es gilt ja, sich von anderen zu unterscheiden, die Nase vorn zu haben, besonders zu sein. Nicht zuletzt deshalb entwickeln beispielsweise die Hochschulen gerade eine enorme Erfindungsgabe, wenn es darum geht, neue eigenständige Studiengänge unter den wildesten Bezeichnungen zu entwickeln und zu bewerben.
Ein noch anschaulicheres Beispiel für dieses widersprüchliche Verhältnis von Kreativität und Anpassung sind sicherlich die zahlreichen Castingshows im Fernsehen. Die jungen Leute, die dort mitmachen, müssen sich den Vorgaben der Show und der Jury vollständig unterwerfen: gesanglich, körperlich, optisch, tänzerisch – und auch in Bezug auf Gefühle, Auftreten, Persönlichkeit. Dabei sollen sie sich aber als eigenständig präsentieren und von anderen abheben. Sie müssen sich als eine “Type” inszenieren, um wirkliche Chancen zu haben.
Und auf derlei Lebenseinstellungen und -prioritäten kommen die Menschen von allein? Oder wie vermittelt sich die neoliberale Ideologie?
Das sind zwei Fragen auf einmal: die nach dem Entstehen und die nach dem Bleiben des Neoliberalismus. Teil einer Antwort auf beide Fragen müssen sicherlich die eben genannten Begriffe der Autonomie und der Kreativität sein. Der Neoliberalismus wurde in den 1970er und 1980er Jahren, als er sich breit durchgesetzt hat, von vielen als befreiend erfahren. In einer Gesellschaft, in der Chefs ihre Mitarbeiter und Männer ihre Ehefrauen an die kurze Leine legten, wirkte das Versprechen von mehr Eigenständigkeit, mehr Freiräumen, mehr Ergebnissteuerung verständlicherweise attraktiv. Und das tut es heute offensichtlich nach wie vor. Tatsächlich dürften viele Menschen den eingangs beschriebenen Begriff von Freiheit als „Abwesenheit staatlicher Eingriffe“ als positiv empfinden.
Bei aller berechtigter Kritik an Medien und Politik: Zu glauben, der Neoliberalismus gehe vorwiegend auf deren quasi externen Einfluss zurück, greift vor diesem Hintergrund wirklich zu kurz. Menschen sind schließlich keine ferngesteuerten Roboter. Sehr viel wichtiger ist, dass der Neoliberalismus reale, wenngleich oft durch ihn selbst ganz wesentlich geprägte Bedürfnisse und Sehnsüchte der Menschen befriedigt; er schafft neben allem Elend und Leid eben auch individuelle Glücksempfindungen und persönliche Erfahrungen der Anerkennung. Die politische Linke sollte das erkennen und überlegen, wie sie mit einem anderen Modell von Gesellschaft und Wirtschaft solche Bedürfnisse und Sehnsüchte mindestens genauso gut befriedigen kann.
Das heißt, die Überwindung des Neoliberalismus setzt für Sie eine Alternative voraus, die den Menschen auch Freiheit sowie Anerkennung zuspricht – im Gegensatz zum Neoliberalismus aber ohne zunehmendes soziales Elend, ohne immer größer werdende Armut auskommt?
Ja, wobei kritisch zu hinterfragen ist, was Freiheit meint und wofür man Anerkennung erhält. Die Alternative zum Neoliberalismus muss eine solidarische und gerechte sein. Eine Rückkehr in die 1950er Jahre aber kann das nicht bedeuten. Weder können wir die Arbeitsverhältnisse von damals zurückhaben wollen, noch die gesellschaftliche und moralische Rigidität jener Zeit. Eine solche gesellschaftliche Alternative setzt daher auch Freiheit voraus, aber eben eine andere als jene, die der Neoliberalismus postuliert.
Können Sie denn spezielle Mechanismen identifizieren, mittels derer sich die neoliberalen „Denkgifte“ in den Köpfen und Herzen der Menschen festsetzen?
Die, die ich in meinem Büchlein untersucht habe, sind das Bildungswesen, die Ratgeberliteratur des so genannten “Positiven Denkens”, Esoterik, Sport und Fitness, Stars, verschiedene Fernseh-Formate, Soziale Netzwerke sowie Konsum und Lifestyle. Überall dort finden Sie Mechanismen der Vermittlung einer Ideologie, die Freiheit und Autonomie verspricht und auf Individualismus und Wettbewerb fußt. Und überall dort werden eben auch Sehnsüchte und Bedürfnisse befriedigt.
Woher kommen diese Sehnsüchte und Bedürfnisse?
Die Struktur der menschlichen Bedürfnisse und Sehnsüchte selbst ist stark gesellschaftlich geprägt. Dabei spielt Konkurrenz eine große Rolle; im Neoliberalismus wollen und müssen wir in Konkurrenz mit anderen bestehen. Lassen Sie mich das an einem Beispiel verdeutlichen. In der empirischen Konsumforschung zeigt sich immer wieder, dass der Konsum von Menschen wesentlich vom Konsum ihres unmittelbaren Umfelds geprägt wird.
Wenn ein – sagen wir – Angehöriger der oberen Mittelschicht in der Zeitung liest, dass sich irgendwelche Manager ihre Millionengehälter nochmals um Millionen erhöhen, so lässt ihn das in der Regel kalt. Wenn der eigene Nachbar aber sich ein Schwimmbad baut, wächst hingegen oft eine unbändige Sehnsucht nach einem eigenen Schwimmbad, das ja nicht zuletzt auch Symbol für einen bestimmten sozialen Status ist. Zurückfallen hinter sein Umfeld möchte man nicht. Entsprechend kann der Bau eines eigenen Schwimmbads das vermeintlich gute Gefühl auslösen, gleichgezogen zu sein. Zuvor war der Nachbar entsprechend für kurze Zeit glücklich, die Nase vorn zu haben. Hier wird, wenn man so möchte, das legitime Streben nach Anerkennung pervertiert. Es wird eine Art Anerkennung für etwas erfahren, an dem es nichts anzuerkennen gibt und das nur im Kontext einer sinnlosen und übersteigerten Konkurrenz Sinn bekommt.
Soziale Ungleichheit bildet dabei den weiteren Hintergrund. Je größer die soziale Unsicherheit in einer Gesellschaft ist, etwa durch “Selbstverantwortung”, durch den Abbau des Kündigungsschutzes, durch wachsende Arbeitslosigkeit, durch sich abschwächende soziale Bindungen oder durch einen Rückbau des Sozialstaats, desto wichtiger wird es für die Menschen, nicht nach unten zu fallen. Denn die Falltiefe nimmt ja zu, je mehr die Ungleichheit zunimmt. Die Angst vor dem Abstieg wächst, und zwar bei allen, nicht nur bei denen, die tatsächlich halbwegs ernsthaft vom Elend bedroht sind. Wenn nun beispielsweise die Arbeitsmarkt-Konformität unserer Bildung oder die optisch-körperliche Selbstdarstellung für uns immer wichtiger wird, dann auch deshalb, weil wir uns durch sie Vorteile im Kampf um eine möglichst sichere gesellschaftliche Position erhoffen. Ähnliches kann auch für das gelten, was wir konsumieren und wie wir es tun, sei es der Senf zum Würstchen, die Markenjeans oder eben das Schwimmbad im Garten.
Das bedeutet ja auch, dass wir emotional eigentlich immer „abhängiger“ vom Neoliberalismus werden, verstehe ich recht? Umso mehr soziales Gefälle und also Angst in der Gesellschaft ist, umso mehr neigen wir zur Erfüllung von Pseudobedürfnissen?
Ja, so würde ich das sehen. Der Neoliberalismus prägt nicht zuletzt unsere Gefühle und wirkt sich durch die auf das Leben der Menschen aus. Angst ist dabei allerdings nur eines, wenngleich ein wichtiges. Zu nennen wären ferner auch Glück, Stolz, Zuneigung, selbst Liebe. Und neben der zunehmenden sozialen Ungleichheit und Unsicherheit spielen noch andere Faktoren eine Rolle, etwa die schon erwähnte zwischenmenschliche Konkurrenz.
Und diese „Dialektik“ der neoliberalen Ideologie: Ist sie auch der Grund dafür, dass es gegen die gesellschaftliche Transformation gen Egoismus und sozialer Spaltung sowie Deprivation so wenig Widerstand gibt? Wo bleiben die Massendemonstrationen, wo bleibt die zivilgesellschaftliche Gegenwehr?
Es dürfte sicher eine Rolle spielen, dass wir alle diese neoliberale Moral längst stark verinnerlicht haben. Niemand zwingt uns zu bestimmten Handlungen, sondern wir machen das freiwillig und aus innerem Antrieb: Wir erwerben arbeitsmarktkonforme Bildung, machen Überstunden, informieren uns über Moden und Geschmäcker, trainieren unseren Körper. Wir versuchen, stets positiv zu denken – und so weiter. Das alles tun wir, weil wir glauben, damit unser Leben besser und schöner zu machen. Und in vielen Fällen stellen sich ja durchaus ja auch ein kleines, kurzes Glück und ein Moment der Anerkennung durch andere ein. Vor Zufriedenheit über diese vermeintliche Bestätigung unseres Handelns verlieren wir aber aus den Augen, dass wir damit uns und unsere Gesellschaften kaputtmachen. Insofern: Ja, die Verheißungen des Neoliberalismus sind sicher einer der Gründe, warum der Widerstand gegen den zunehmenden Sozialabbau und anderes so gering ausfallen.
Haben Sie denn Vorschläge, wie dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten ist? Was können Sie und ich, können wir hiergegen tun?
Es ist meine feste Überzeugung, dass das Leben im Neoliberalismus eine große Zahl an Menschen krank macht; körperlich, vor allem aber psychisch und seelisch. Er verursacht Leiden.
Der Impuls, etwas zu verändern, setzt wohl einerseits eine gewisse Erkenntnis, andererseits aber auch einen aus negativen Erfahrungen gewachsenen Veränderungswillen voraus. Zur Erkenntnis braucht es Aufklärung. Und für Veränderungswillen braucht es eigenes Leid oder Teilhabe am Leid anderer. Hinzu kommt drittens – hoffentlich – die positive Erfahrung von Solidarität. Sie scheint mir eine wesentliche Bedingung dafür zu sein, dass Menschen eine andere Gesellschaft überhaupt für möglich erachten und den Mut aufbringen, für eine solche und entsprechende Veränderungen tätig zu werden.
Dabei denke ich übrigens durchaus, dass die Frage nach möglichen Veränderungen zugleich eine Frage nach gesellschaftlichen Klassen ist. Zwar leiden unter dem Neoliberalismus selbst die Menschen, die sich auf der Gewinnerseite sehen. Also auch jene, die etwa Kapital besitzen oder gut bezahlte Managementpositionen innehaben. Ihre Motivation, etwas zu verändern, dürfte im Allgemeinen dennoch deutlich geringer sein als die der berühmten “99 Prozent”, auf die sich Occupy so medienwirksam berufen hat.
Ich bedanke mich für das Gespräch.
Patrick Schreiner, Jahrgang 1978, ist Politikwissenschaftler, Publizist und hauptamtlicher Gewerkschafter. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Finanz- und Wirtschaftspolitik sowie Politische Theorie. Sein besonderes Interesse gilt der Verknüpfung von Alltagsleben und Arbeitswelt im heutigen Kapitalismus.
Dieser Text erschien zuerst auf den "NachDenkSeiten - die kritische Website". Die Verwertung durch uns erfolgt im Rahmen der Creative Commons Lizenz 2.0 Non-Commercial, unter welcher er publiziert wurde.
06. Dezember 2015
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