„Das waren mehr als Zufälle beim NSU“

Die Aussage von Beate Zschäpe hat sie selbst und alle Ungereimtheiten und Absurditäten der offiziellen Version zu bestätigen versucht. Irgendetwas stimmt hier ganz und gar nicht. Und hat offenbar noch nie gestimmt. Etwas ist faul am „NSU“. Die Hypothese etwa, die beiden anderen Neofaschisten des vermeintlichen Trios hätten einfach Selbstmord begangen, ist längst grundlegend ins Wanken geraten. Gemutmaßt wird zudem, dass der Verfassungsschutz für das Wirken und Morden dieses Untergrundnetzwerkes deutlich mehr Verantwortung trage als bisher bekannt geworden ist, ja, dass Zschäpe mit diesem womöglich sogar unter einer Decke steckt. Über die nach wie vor vorhandenen offenen Fragen und Ungereimtheiten zum Thema sprach Jens Wernicke mit Clemens Binninger, CDU-Bundestagsabgeordneter und Vorsitzender des 3. Untersuchungsausschusses zur Casa „NSU“.

Herr Binninger, Sie machen sich als Vorsitzender des inzwischen 2. Untersuchungsausschusses zum Thema für eine weitere Aufklärung des NSU-Komplexes stark. Warum ist das wichtig? Warum tut Aufklärung not?
In der vergangenen Legislaturperiode fehlte uns die Zeit, um alle offenen Fragen abzuarbeiten. Deshalb hatten wir zu Beginn dieser Legislaturperiode eine Berichterstatterrunde im Innenausschuss gebildet, in der wir neue Erkenntnisse besprochen und bewertet haben. Aber auch hier sind viele Fragen unbeantwortet geblieben, weshalb wir jetzt fraktionsübergreifend einen neuen Untersuchungsausschuss eingesetzt haben.
Wir sind nicht die besseren Ermittler, aber wir gehen jetzt der Frage nach, ob alles getan wurde, um die Hintergründe aufzuklären. Wir wollen nicht, dass es uns bei der NSU-Mordserie so geht wie beim Oktoberfestattentat, wo man noch 30 Jahre später darüber spekuliert und jetzt mühsam versucht, noch offene Fragen zu beantworten.

Was genau sind denn die Dinge, die offensichtlich unstimmig sind, für Sie? Und was irritiert Sie wie andere hieran?
Während sich der erste NSU-Untersuchungsausschuss schwerpunktmäßig auf die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden konzentriert hat, geht es jetzt nicht darum, nochmal das x-te Behördenversagen aufzudecken. Dieses Mal steht die Arbeit im Untersuchungsausschuss unter der Leitfrage: „War es wirklich nur ein Trio?“. Da habe ich nämlich Zweifel.
Wir wollen uns auch mit ganz konkreten Ereignissen beschäftigen. Besonders mit den Vorfällen am und um den 4. November 2011, das betrifft den Tod von Böhnhardt und Mundlos in Eisenach und die Explosion in dem Wohnhaus des Trios in Zwickau. Abgesehen davon werfen für mich insbesondere auch die Mordfälle in Kassel und Heilbronn oder die Rolle der V-Leute immer noch Fragen auf.

Könnten Sie eine dieser Unstimmigkeiten bitte etwas genauer ausführen? Was genau wird behauptet – und warum kann dem höchstwahrscheinlich nicht so sein?
Nehmen Sie den Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn. Der Generalbundesanwalt geht von Mundlos und Böhnhardt als Tätern aus. Zeugen haben aber unabhängig voneinander mehrere blutverschmierte Personen unmittelbar nach der Tat gesehen. Daraufhin wurden Phantombilder erstellt und keines dieser Phantombilder sieht Mundlos oder Böhnhardt ähnlich. Auch der stark frequentierte Tatort, die Opferauswahl, fehlende DNA und Fingerabdrücke von Mundlos und Böhnhardt sind starke Indizien dafür, dass diese Tat nicht nur von zwei Personen begangen worden sein kann.

Beim Bombenanschlag in Köln 2004 wurde eine Nagelbombe verwendet und eine Videokamera hielt womöglich die beiden Täter fest. Wenn man den Bombentyp in der Tatmitteldatei finden und Neonazis zuordnen kann und wenn die zwei Gefilmten ebenfalls als Neonazis identifizierbar sind – dann ist man doch wohl sowohl dem politischen Motiv als auch den möglichen Täter dicht auf der Spur? Was meinen Sie?
Die Verbrechen des NSU waren für die Ermittler aufgrund der geringen Spurenlage schwer aufzuklären, das muss man fairerweise auch deutlich sagen, aber den Fall in Köln hätte man aufklären können.
Wären die Begriffe „männlich“ – was ja offenkundig war –, „fremdenfeindlich“ – naheliegend aufgrund der Tatort- und der Opferauswahl – sowie „Koffer“ – die Bombe wurde in einem Koffer transportiert – in die Sprengstoffdatei des BKA eingegeben worden, dann wären unter anderem auch die Namen von Böhnhardt und Mundlos aufgetaucht. Es war fatal, dass man diese Ermittlungsansätze nicht genutzt hat.

Im Mordfall in Kassel 2006 gibt es keine Beweise, Zeugen oder Spuren, die auf eine direkte Täterschaft der beiden NSU-Mitglieder schließen lassen. Ganz im Gegensatz dazu führen Indizien, Spuren und Zeugenaussagen zu einem Verfassungsschutzmitarbeiter, der sich zur Tatzeit in einem Internetcafé aufgehalten haben soll. Was macht ein Polizist bei einer solchen Beweislage unter Beachtung der Ermittlungsgrundsätze und bei Anwendung einer Wahrscheinlichkeitsprognose, die eine Täterschaft begründet?
Herr T. stand unter Mordverdacht und die Kollegen aus Hessen haben damals völlig zu Recht sehr intensiv ermittelt. Allerdings ließ sich der Tatverdacht nicht erhärten. Ungeachtet dessen bleiben bis heute Zweifel an seinen Aussagen, verstärkt durch abgehörte Telefongespräche oder eine E-Mail von der Vorgesetzten des Herrn T., die erst vor einigen Monaten bekannt geworden sind. Deswegen sehe ich auch noch so viele Unklarheiten hinsichtlich des Mordes an Halit Yozgat in Kassel.

Haben Sie eine Erklärung, wie es zu derlei unwahrscheinlichen Erklärungen kommen konnte? Ich meine: Diese ganzen Unstimmigkeiten – sind die nur eine Reihe von Zufällen? Was mutmaßen Sie?
Zufälle kann es immer geben, aber dass es so viele sein sollen, halte auch ich für unwahrscheinlich. Ich warne aber vor zu viel Spekulation. Mutmaßungen und Behauptungen, wie es war, bringen die Aufklärung sicher nicht weiter. Letztlich geht es darum, die Punkte, die noch so viele Fragen aufwerfen, genauer zu untersuchen, um überprüf- und belegbare Antworten zu erhalten.

Was täte für eine umfassende Aufklärung des NSU und seiner Morde aktuell denn not? Was bräuchten der Ausschuss und seine Mitglieder?
Wichtig wird vor allen Dingen sein, dass auch dieser Ausschuss parteipolitische Interessen beiseitelässt und fraktionsübergreifend zusammenarbeitet, denn das hat den letzten Untersuchungsausschuss so stark gemacht. Dann kann man viel schaffen. Ich bezweifle auch nicht, dass das gelingt, denn der Aufklärungswille ist bei allen Fraktionen da.

Und wie kann oder könnte diese Aufklärung gelingen – bei all den Steinen, die den Aufklärern hier offenbar in den Weg gelegt werden?
Sicherlich wird der Erfolg der Ausschussarbeit auch von der Qualität der Zeugenaussagen abhängen. Im letzten Untersuchungsausschuss war das teilweise gezeigte angebliche Unwissen über die rechte Szene nur schwer nachvollziehbar. Nach anfänglichen Startschwierigkeiten haben wir am Ende aber doch vieles bekommen und vieles erfahren. Ich bin daher zuversichtlich, dass wir auch dieses Mal mit den Behörden zu einem guten Klima gelangen, in dem alle zur Aufklärung beitragen.

Ich bedanke mich für das Gespräch und wünsche viel Erfolg in Bezug auf den Untersuchungsausschuss. Und auch in Bezug auf die diesbezüglich gute fraktionsübergreifende Zusammenarbeit.

Clemens Binninger ist Polizeioberrat a.D. und war 20 Jahre lang im aktiven Polizeidienst. Anschließend wechselte er für drei Jahre als Referent ins Innen- und später ins Staatsministerium Baden-Württemberg. Seit 2002 ist er Mitglied des Deutschen Bundestages und vertritt als direkt gewählter Abgeordneter den Wahlkreis Böblingen. In dieser Legislaturperiode ist er Mitglied im Innenausschuss, Vorsitzender des 3. Untersuchungsausschusses – „Terrorgruppe NSU II“ – sowie Vorsitzender des Parlamentarischen Kontrollgremiums.

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18. Januar 2016
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