Weniger oder mehr Berührung?
Die Aufgabe, der wir uns stellen sollten, ist nicht, uns sicher zu fühlen, sondern in der Lage zu sein, Unsicherheit zu tolerieren. Erich Fromm
Körperkontakt löst Unsicherheit aus. In der Trambahn entschuldigen wir uns, wenn er passiert. Er ist wenigen Lebensbereichen vorbehalten: Diagnose, Therapie, Pflege, Sexualität. Nun praktiziere und unterrichte ich eine Tanzform, die auf Körperkontakt beruht – Contact Improvisation. Die Herausforderung: Wie lade ich Menschen zu Berührung ein, ohne sie zu überrumpeln, aber auch ohne vorauseilend zu problematisieren? Heute unterrichte ich angehende Sozialpädagogen. Trotz behutsamer Hinführung wirkt eine der Studentinnen sehr angespannt. Sie spricht Deutsch mit Akzent. Womöglich ist Körperkontakt in ihrer Kultur – ich tippe auf Osteuropa – ein Tabu? All meine Alarmlampen leuchten: «Kulturschock ... zu viel … übergriffig ... », muss ich noch ausdrücklicher darauf hinweisen, dass alle jederzeit «Stopp» sagen können und nichts tun oder ertragen müssen, was ihnen unangenehm ist?
Schliesslich spreche ich die Frau an. «Ich werde in diesem Seminar immer so traurig», sagt sie. «Ich komme aus Bulgarien, da fassen wir uns alle ständig und ganz selbstverständlich an. Hier fällt mir erst auf, wie sehr ich das vermisse, wie ich es mir richtig abtrainiert habe. Und wie anstrengend das ist.»
Das war das Letzte, was ich erwartet hatte. Ich staune über die Dynamik: eine erhöhte Sensibilität für (sexuell) Übergriffiges lässt uns Gefahr lediglich in einem Zuviel an Berührung wittern. Dabei bleibt ausser Acht, dass das ständige Zuwenig genauso besorgniserregend ist. Weniger Gelegenheit für Berührung kann auch mehr Sehnsucht hervorbringen, mehr Mangel, weniger Vertrauen und weniger Übungsfeld, Grenzen zu setzen.
Indem wir versuchen, für immer mehr Sicherheit zu sorgen, kommt uns unmerklich das Leben abhanden.
Mehr zum Thema «mehr | weniger» im Zeitpunkt 148
Körperkontakt löst Unsicherheit aus. In der Trambahn entschuldigen wir uns, wenn er passiert. Er ist wenigen Lebensbereichen vorbehalten: Diagnose, Therapie, Pflege, Sexualität. Nun praktiziere und unterrichte ich eine Tanzform, die auf Körperkontakt beruht – Contact Improvisation. Die Herausforderung: Wie lade ich Menschen zu Berührung ein, ohne sie zu überrumpeln, aber auch ohne vorauseilend zu problematisieren? Heute unterrichte ich angehende Sozialpädagogen. Trotz behutsamer Hinführung wirkt eine der Studentinnen sehr angespannt. Sie spricht Deutsch mit Akzent. Womöglich ist Körperkontakt in ihrer Kultur – ich tippe auf Osteuropa – ein Tabu? All meine Alarmlampen leuchten: «Kulturschock ... zu viel … übergriffig ... », muss ich noch ausdrücklicher darauf hinweisen, dass alle jederzeit «Stopp» sagen können und nichts tun oder ertragen müssen, was ihnen unangenehm ist?
Schliesslich spreche ich die Frau an. «Ich werde in diesem Seminar immer so traurig», sagt sie. «Ich komme aus Bulgarien, da fassen wir uns alle ständig und ganz selbstverständlich an. Hier fällt mir erst auf, wie sehr ich das vermisse, wie ich es mir richtig abtrainiert habe. Und wie anstrengend das ist.»
Das war das Letzte, was ich erwartet hatte. Ich staune über die Dynamik: eine erhöhte Sensibilität für (sexuell) Übergriffiges lässt uns Gefahr lediglich in einem Zuviel an Berührung wittern. Dabei bleibt ausser Acht, dass das ständige Zuwenig genauso besorgniserregend ist. Weniger Gelegenheit für Berührung kann auch mehr Sehnsucht hervorbringen, mehr Mangel, weniger Vertrauen und weniger Übungsfeld, Grenzen zu setzen.
Indem wir versuchen, für immer mehr Sicherheit zu sorgen, kommt uns unmerklich das Leben abhanden.
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15. April 2017
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