Paradox: Der Mensch und die Technik
Fortschrittgeschichten von Marcel Hänggi
«Die Wissenschaft entdeckt, das Genie erfindet, die Industrie wendet an, und der Mensch passt sich den neuen Dingen an oder wird von ihnen geformt», lautete das Motto der Chicagoer Weltausstellung von 1933/34: Fortschritt als Abfolge von Entdeckungen, Erfindungen, Anwendungen.
Schaut man genauer hin, widerspricht wohl jedes Beispiel aus der Technikgeschichte diesem linearen Modell. Technische Anwendungen können der wissenschaftlichen Erkenntnis vorausgehen und gesellschaftliche Entwicklungen der technischen Innovation. Die Abfolge von Alt und Neu kann sich zwischen den Kulturen unterscheiden. Neue Techniken können eine Gesellschaft ärmer statt reicher machen. Das Alte existiert häufiger neben dem Neuen weiter, als dass es von diesem verdrängt würde (weshalb ich den Glauben, man werde fossile Energieträger und Atomenergie los, wenn man nur genug Windräder und Solaranlagen aufstelle, nicht teilen kann). Das Chicagoer Motto ist merkwürdig paradox:
Als «Genie» ist der Mensch aktiv und erfindet, als «Mensch» passt er sich an oder «wird geformt». Diese Kombination – «der Mensch beherrscht die Technik», «die Technik beherrscht den Menschen» – ist in techno-optimistischen Positionen häufig. Denn letztlich läuft beides auf eine Abwehr von Kritik hinaus: Wenn der Mensch die Technik beherrscht, gibt es keinen Grund, sie zu fürchten. Und wenn die Technik den Menschen beherrscht, dann hat es keinen Sinn, dagegen zu sein: Fortschritt lässt sich nicht aufhalten!
Aber weder beherrscht der Mensch die Technik, noch sie ihn. Menschen (Individuen wie Gesellschaften) können entscheiden, welche Techniken sie wie nutzen, und sie können Techniken wieder aufgeben. Verschiedene Kulturen haben auf gleiche Herausforderungen unterschiedliche Antworten gefunden. Die Freiheit ist jedoch nicht unbegrenzt: Bis zu einem gewissen Grad zwingt ein Hammer seinen Besitzer, ein Problem als Nagel wahrzunehmen. Mit dem Technikphilosophen Bruno Latour gesprochen: Es gibt zwischen «Mensch» und «Technik» keine scharfe Grenze, der Mensch ist ein Mischwesen zwischen Natur und Kultur.
--------------------------------------------
Diese aufschlussreiche Betrachtung haben wir im neuen Buch von Marcel Hänggi gefunden, in dem der Autor anhand von zwölf konkreten Beispielen – «Fortschrittsgeschichten» vom Buchdruck über die Waschmaschine bis zur Genomik – untersucht, wie sich technischer Wandel in der Gesellschaft vollzieht und unter welchen Voraussetzungen daraus etwas entsteht, was man als «Fortschritt» bezeichnen könnte. Intelligent, macht Mut! Um zu einem zukunftstauglichen Umgang mit Technik zu gelangen, braucht es eine realistische Technikwahrnehmung jenseits von Technikeuphorie wie auch von Technikfeindschaft. Red.
Marcel Hänggi: Fortschrittsgeschichten – Für einen guten Umgang mit Technik. Hrsg.v. Harald Welzer und Klaus Wiegandt. S. Fischer, 2015. 300 S. Fr. 19.50/€ 13.–.
Mehr zum Thema finden Sie im Heft 136 Berichte aus der Tabuzone
Schaut man genauer hin, widerspricht wohl jedes Beispiel aus der Technikgeschichte diesem linearen Modell. Technische Anwendungen können der wissenschaftlichen Erkenntnis vorausgehen und gesellschaftliche Entwicklungen der technischen Innovation. Die Abfolge von Alt und Neu kann sich zwischen den Kulturen unterscheiden. Neue Techniken können eine Gesellschaft ärmer statt reicher machen. Das Alte existiert häufiger neben dem Neuen weiter, als dass es von diesem verdrängt würde (weshalb ich den Glauben, man werde fossile Energieträger und Atomenergie los, wenn man nur genug Windräder und Solaranlagen aufstelle, nicht teilen kann). Das Chicagoer Motto ist merkwürdig paradox:
Als «Genie» ist der Mensch aktiv und erfindet, als «Mensch» passt er sich an oder «wird geformt». Diese Kombination – «der Mensch beherrscht die Technik», «die Technik beherrscht den Menschen» – ist in techno-optimistischen Positionen häufig. Denn letztlich läuft beides auf eine Abwehr von Kritik hinaus: Wenn der Mensch die Technik beherrscht, gibt es keinen Grund, sie zu fürchten. Und wenn die Technik den Menschen beherrscht, dann hat es keinen Sinn, dagegen zu sein: Fortschritt lässt sich nicht aufhalten!
Aber weder beherrscht der Mensch die Technik, noch sie ihn. Menschen (Individuen wie Gesellschaften) können entscheiden, welche Techniken sie wie nutzen, und sie können Techniken wieder aufgeben. Verschiedene Kulturen haben auf gleiche Herausforderungen unterschiedliche Antworten gefunden. Die Freiheit ist jedoch nicht unbegrenzt: Bis zu einem gewissen Grad zwingt ein Hammer seinen Besitzer, ein Problem als Nagel wahrzunehmen. Mit dem Technikphilosophen Bruno Latour gesprochen: Es gibt zwischen «Mensch» und «Technik» keine scharfe Grenze, der Mensch ist ein Mischwesen zwischen Natur und Kultur.
--------------------------------------------
Diese aufschlussreiche Betrachtung haben wir im neuen Buch von Marcel Hänggi gefunden, in dem der Autor anhand von zwölf konkreten Beispielen – «Fortschrittsgeschichten» vom Buchdruck über die Waschmaschine bis zur Genomik – untersucht, wie sich technischer Wandel in der Gesellschaft vollzieht und unter welchen Voraussetzungen daraus etwas entsteht, was man als «Fortschritt» bezeichnen könnte. Intelligent, macht Mut! Um zu einem zukunftstauglichen Umgang mit Technik zu gelangen, braucht es eine realistische Technikwahrnehmung jenseits von Technikeuphorie wie auch von Technikfeindschaft. Red.
Marcel Hänggi: Fortschrittsgeschichten – Für einen guten Umgang mit Technik. Hrsg.v. Harald Welzer und Klaus Wiegandt. S. Fischer, 2015. 300 S. Fr. 19.50/€ 13.–.
Mehr zum Thema finden Sie im Heft 136 Berichte aus der Tabuzone
24. April 2015
von:
von:
- Anmelden oder Registieren um Kommentare verfassen zu können