Wer will was im Dorf

Ein Dorf mit Charme, Zukunft und Lebensqualität. So wirbt die Oberaargauer Gemeinde Melchnau selbstbewusst für sich selbst. So will sie sein. Was aber verstehen die Melchnauerinnen und Melchnauer selbst unter diesem Slogan, alles nur Worthülsen oder gelebte Wirklichkeit? Der Gemeinderat will es in Zusammenarbeit mit dem Team für nachhaltige Nachbarschaftsentwicklung der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW jetzt wissen.

Anna Leuenberger ist in Busswil, einem Nachbardorf, aufgewachsen. Seit über 40 Jahren aber wohnt sie schon in Melchnau. Seit bald 16 Jahren sitzt sie im Gemeinderat, zuerst als Präsidentin der Schulkommission, seit sieben Jahren als Gemeindepräsidentin. Ende 2014 setzt die Amtszeitbeschränkung diesem Engagement ein Ende. Das sei gut so, sagt sie. Genauso gut, anstrengend und nicht selten durchzogen sind die Jahre im Amt gewesen. Leuenberger, gelernte Lehrerin und mit Stolz eidg. diplomierte Bäuerin, hat bis 2005 mit ihrem Mann auf dem eigenen Hof gebauert, Lehrtöchter ausgebildet, aber auch in der Schule Melchnau viele Stellvertretungen übernommen. Sie dirigiert zudem seit Jahren den gemischten Chor Melchnau/Busswil. Und hütet die Enkelkinder. Früher hat sie auch noch an der landwirtschaftlichen Schule Waldhof in Langenthal Deutsch unterrichtet.

Willi Krafft ist Anna Leuenberger rasch einmal aufgefallen. Der Mann aus der Agglomeration Baden-Zürich wohnt mit seiner Frau seit bald drei Jahren im Dorf. Die beiden haben hier nach langer Suche kreuz und quer durch die Schweiz ein Haus mit kleinem Umschwung gekauft. Kraffts setzen seither ihren Traum von einer Permakultur-Anlage zur biologisch-dynamischen Selbstversorgung um. Der Willi sei ab und zu an der Gemeindeversammlung aufgestanden, sagt Anna Leuenberger und lächelt verschmitzt. Er habe sich dann zu diesem und jenem geäussert. Der Willi war es dann auch, wen wundert’s, den die vife Gemeindepräsidentin zu einem Gespräch mit dem ganzen Gemeinderat einlud. Der neugewählte Rat hatte sich zu Beginn der neuen Legislatur in einer Klausurtagung zum Schwerpunkt-Thema Imagepflege und Standortmarketing beraten. «Willi Krafft sollte uns als Neuzuzüger den Spiegel vorhalten. Das hat er offen, ehrlich und sehr engagiert getan», erinnert sich Anna Leuenberger: «Vieles leuchtete mir ein, nur als er vorschlug, den Kirchplatz mit Kies und Grün zu renaturieren, mochte ich ihm nicht mehr ganz folgen.»

Eingeleuchtet aber hat Leuenberger und ihren Ratskollegen Kraffts Suggestivfrage, was denn wohl die Melchnauerinnen und Melchnauer unter den Slogans an der Hauptstrasse bei den drei Zufahrten ins Dorf verstehen würden. Melchnau mit Dorfcharme, Lebensqualität und Zukunft. Und ob man das nicht in einer Umfrage erkunden wolle. Warum nicht, meinte dazu auch der Gemeindeschreiber. Er erinnerte sich sogar noch an eine Umfrage, die in den frühen 70er-Jahren gemacht wurde. So gab ein Wort das andere. Willi Krafft bot an, bei der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW anzuklopfen, ob eine Befragung in der Dorfgemeinschaft nicht ein gutes Lernfeld für Studierende wäre. Er kam mit positivem Entscheid zurück.

Das Traktandum wurde in seiner Abwesenheit vom Gemeinderat nochmals offiziell behandelt und für gut befunden. Zumal es vor allem darum ging, guten Willen zu zeigen und wohl auch ein bisschen die Neugierde zu stillen. Finanzielle Mittel hätte man dafür kaum sprechen können. Anna Leuenberger nickt: «Wir müssen zum Geld schauen und nicht selten jeden Franken umdrehen.» Melchnau hatte Ende Dezember 2012 1590 Einwohnerinnen und Einwohner, 197 davon ausländische Staatsangehörige. Das ergibt 722 Haushaltungen. Die Gemeinde ist 10 km2 gross, 1,5 km2 davon sind Wald. Es gibt noch 34 Landwirtschaftsbetriebe, 22 Vereine, 2 Altersheime, 71 Gewerbe- und Dienstleistungsbetriebe im Dorf. Zudem eine Teppichfabrik, die Produktionsstätte der Lantal Textiles Langenthal.

Seit ein paar Wochen ist ein kleines Team der Fachhochschule in Melchnau an der Arbeit. Der Leitungsausschuss mit Leuten aus der Gemeinde ist bestellt. Die junge Agronomin und Bäuerin Franziska Schärer, Landi-Chef Peter Stalder, Vizegemeindpräsidentin Christine Blum-Schär, Willi Krafft und Gemeindepräsidentin Anna Leuenberger werden sich bald zu einer konstituierenden Sitzung treffen. Lars von Riedmatten und Giorgio Eberwein, beide Mitarbeiter des Beschäftigungsprojekts «FAU – Fokus Arbeit Umfeld» planen erste Orientierungsgespräche mit 10 bis 12 handverlesenen Frauen und Männern im Dorf. Daraus soll sich bald einmal ein Fragenraster für die Umfrage an alle Bürgerinnen und Bürger ab 12 Jahren ergeben. Den will der Gemeinderat noch 2013 unter die Leute bringen.

Die Auswertungen sollen voraussichtlich im Februar 2014 an einem grossen Dorfanlass gemeinsam präsentiert, besprochen und gefeiert werden. Ethik-Dozent Thomas Gröbly, der das Projekt im Auftrag der FHNW leitet, hofft dort auf die nötige Kraft und Zustimmung der Dorfgemeinschaft, ausgewählte Themen in kleinen Arbeitsgruppen weiterzuverfolgen: «In diesen Arbeitsgruppen könnten dann konkrete Projekte definiert, vertieft und vom Leitungsausschuss in den Gemeinderat getragen werden. Für die Studierenden der FHNW ist es wichtig, solche Lernfelder in der Praxis bearbeiten zu können.
Dieses Angebot ist ein festes Element unserer Ausbildung. Der Melchnauer Gemeinderat kann seine Projektwünsche zweimal pro Jahr FHNW-Studiengängen anbieten – und im Prinzip mit unserer Unterstützung rechnen.» Ein Prozedere, das für Gemeindepräsidentin Anna Leuenberger auch weit über ihre eigene Amtszeit hinaus Sinn macht.

Ein konkretes Resultat hat Anna Leuenberger übrigens schon auf dem Tisch. Als unabhängiges Zusatzangebot hat FAU-Projektcoach Franz Duss mit einem Mitarbeitenden für die Gemeinde Melchnau einen Energie- und Nachhaltigkeitscheck gemacht und dazu den Entwurf zu einem ausführlichen Bericht abgeliefert. FAU ist seit 1995 erfolgreich in der Betreuung und Weiterbildung von qualifizierten Erwerbslosen tätig. «Ich gehe zwar davon aus, dass wir in Melchnau sehr energiebewusst und nachhaltig unterwegs sind», sagt die Gemeindepräsidentin dazu, «trotzdem wollte ich natürlich wissen, ob es noch Lücken gibt, die wir eventuell schliessen sollten.»

Anna Leuenberger führt Willi Krafft und das Zeitpunkt-Team zum Fotografieren ganz bewusst zum alten Dorfschulhaus. Und später auf den Platz vor der Dorfkäserei: «Wir haben zum Glück noch beides im Dorf. Unsere Kinder müssen nicht nach Langenthal zur Grund- und Sekundarschule, die Milch der Bauern wird noch in der eigenen Käserei verarbeitet. Der Bus fährt im Halbstundentakt nach Langenthal und zurück. Das ist alles sehr wichtig für unser Dorf. Dazu müssen wir gemeinsam Sorge tragen.» Genauso wie zur Bäckerei, zur Metzgerei, zur «Landi» mit grossem Verkaufsladen und Tankstelle, zum Gewerbe und seinen Arbeitsplätzen. Wobei das Halten nicht immer gelingt: «Kürzlich schloss unsere Drogerie. Das schmerzt. Wir konnten es nicht verhindern, auch wenn uns das im Dorf da und dort noch nachgetragen wird.» Leuenberger sagt bestimmt, Melchnau könne als Gemeinde politisch durchaus unabhängig bleiben. Es sei auch mitnichten eine Agglomerationsgemeinde der nahen Stadt Langenthal: «Wir liegen knapp ausserhalb des Gebiets, das Langenthal einst als Agglomeration offiziell definiert hat. Zuerst hat uns das beunruhigt. Heute wissen wir, dass wir für uns selbst sorgen und schauen müssen.» Mit bäuerlichem Charme und Charisma, ländlicher Lebensqualität, was sich in einem bemerkenswert regen Vereinsleben manifestiert – und einer Zukunft, die gemeinsam gestaltet werden will. Fortsetzung folgt.


Mehr über das Dorf und die Gemeinde Melchnau erfahren Sie hier: www.melchnau.ch
20. April 2013
von: