Wissenschaftlicher Fundamentalismus

Sie sehen vor lauter Ästen den Baum nicht mehr: Übereifrige Wissenschaftler reduzieren den Menschen soweit, bis er zum Spiegelbild ihrer Perspektive wird – bald erscheint er als Ansammlung von Genen, bald als Funktion seines Gehirns. Wissenschaft wird zum dogmatischen Religionsersatz, wenn sie ihre Grenzen nicht eingesteht – und verliert damit den eigenen Status.

Nur die Strassenlaterne spendet noch Licht. Darunter kniet ein Betrunkener und nimmt Zentimeter für Zentimeter unter die Lupe. Ein Passant fragt, was er suche.
«Meinen Schlüssel.»
«Wo haben Sie ihn denn verloren?»
Der Betrunkene erklärt, er sei ihm zwanzig Meter vor der Laterne aus der Hand gerutscht.
«Und wieso suchen Sie dann nicht dort?»
«Weil ich dort nichts sehen kann.»
Diese indische Geschichte erklärt bildhaft die Grenzen der Wissenschaft: Erforscht wird nur, was sich mit den vorhandenen Geräten und Begriffen messen oder zumindest fassen lässt. «Wissenschaft beruht auf Begründbarkeit», erklärt Jürgen Mittelstraß, Philosoph und renommierter Wissenschaftstheoretiker. «Was sich derzeit nicht begründen lässt, ist nicht wissenschaftlich.» Der Mensch als Ganzes bleibt ein Geheimnis. Jede Disziplin, die sich mit ihm befasst, kreiert ihr eigenes Menschenbild. Immer wieder gehen daraus Fundamentalisten hervor, die das Geheimnis Mensch mit verkürzten Modellen entschlüsselt zu haben glauben.

Gerade junge Disziplinen sparen nicht mit grossen Versprechen. 1990 startete das internationale Humangenomprojekt mit dem Ziel, das menschliche Erbgut vollkommen zu entschlüsseln, um Krankheiten mit Leichtigkeit voraussagen und behandeln zu können. Man erwartete, mindestens 120 000 Gene, fand aber lediglich 25 000 – bloss 1500 mehr als als der primitive Fadenwurm mit seinen 969 Zellen. Da musste selbst der renommierte Genetiker und Nobelpreisträger David Baltimore eingestehen: «Falls im menschlichen Erbgut nicht noch viele Gene vorhanden sind, die unsere Computer nicht erkennen können, dann müssen wir zugeben, dass wir Menschen unsere grössere Komplexität nicht durch ein Mehr an Genen gewonnen haben.»
Die einst bejubelte Gentherapie wartet auch zwanzig Jahre nach Beginn des Humangenomprojekts auf Erfolge. Fazit des renommierten österreichischen Genetikers Markus Hengstschläger in seinem Buch ‹Die Macht der Gene›: Die Gentherapie «ist heute noch äusserst schwierig und funktioniert daher zurzeit auch noch äusserst schlecht». Das ist nichts im Vergleich zum Anspruch der Gentherapie und den von ihr vershlungenen Forschungsmitteln.

Trotzdem schreitet die ‹Genetisierung der Gesellschaft› voran. Sie befürchten, dass bald Gentests entscheiden, mit wem wir Kinder haben und welchen Job wir kriegen. Die Soziologie ist darauf spezialisiert, Ideologien aufzudecken, noch bevor sie in der Öffentlichkeit als solche wahrgenommen werden. Doch auch sie ist nicht gefeit von einseitigen Menschenbildern. Als Wissenschaft der Gesellschaft ist sie bestrebt, das menschliche Verhalten mit gesellschaftlichen Strukturen zu erklären. Tatsächlich sind wir meistens stärker von unserer Umgebung geprägt, als wir meinen, aber wohl bei weitem nicht so stark, wie manche Soziologen es behaupten: Was bleibt übrig, wenn wir alle gesellschaftlichen Rollen wie ‹Beruf›, ‹Mutter› oder ‹Freundin› ablegen? Nichts, vermutete der Amerikaner Erving Goffman – kein Kern, keine Seele, kein gar nichts. Der 1982 verstorbene Soziologie galt als Mensch mit Sinn für Skurriles und Untertreibung – aber in seinem Menschenbild überzeichnete er den soziologischen Ansatz. Der heute verbreitete ‹Dekonstruktivismus› fährt damit fort.

Kein Fundamentalismus ohne Streit: Klassische und neoklassische Ökonomen halten dem vergesellschafteten Wesen den durch und durch eigennützigen, zwecksvernünftigen homo oeconomicus entgegen – und erfüllen damit die Wünsche der neoliberalen Wirtschaft. Psychologen hingegen mögen es nicht, wenn individuelles Verhalten einzig auf die Gesellschaft statt auf die individuelle Psyche zurückgeführt wird. Man würde vermuten, die Psychologie wäre eine ganzheitliche Wissenschaft, da sie ihr Augenmerk nicht nur aufs Äussere, sondern auch aufs Innere legt. Freilich erfährt auch sie eine Verengung unter dem Diktat der (vermeintlichen) Objektivität. Alles muss messbar sein; Labor und Experiment verdrängen Sofa und Gespräch. Die Psychologie schaut heute zwar über den eigenen Tellerrand, gerät dabei aber immer tiefer in die nächste trübe Suppe: das Gehirn als einzigen Ort der Erkenntnis.
«Wie das Gehirn die Seele macht», hiess ein Vortrag des populären Hirnforschers Gerhard Roth an den Lindauer Psychotherapiewochen 2001, der die Stossrichtung der aktuellen Forschung auf den Punkt bringt: Das Ich – was immer man darunter verstehen mag – ist «nicht der Steuermann», sondern ein «virtueller Akteur» in einer vom Gehirn konstruierten Welt. Hirnforscher wie Gerhard Roth oder Wolf Singer sprechen dem Menschen jegliche Freiheit ab – unser Verhalten sei eine Funktion des Gehirns. Der Mensch selbst ist Gehirn.
«Philosophen reden über eine andere Freiheit als Gerhard Roth» sagt Gerald Hüther, Sachbuchautor und Leiter der neurobiologischen Präventionsforschung der Universitäten Göttingen und Mannheim. «Freiheit ist ein weiter Begriff.» Hüther geht nicht davon aus, den gesamten Menschen aus dem Gehirn heraus erklären zu können. «Zu jedem Gehirn gehört ein Körper, der nicht abtrennbar ist. Das Gehirn wird gerade auch vom Körper und seiner Umwelt geformt. Es ist bis ins hohe Alter veränderbar – solange jemand den Willen und die Begeisterung aufzubringen vermag.» Hüther ist trotz der Selbstbeschränkung ein leidenschaftlicher Forscher. «Hirnforschung ist nicht per se gut oder schlecht – es kommt auf den Menschen an, der sie betreibt.»

Das Modell eines Menschen ist kein Mensch; Nachtsichtgeräte bringen keine Erleuchtung. Die Wissenschaft wird zum Religionsersatz, wenn sie Wahrheit monopolisiert. «Kopernikus’ Entdeckungen waren der Anfang der modernen wissenschaftlichen Revolution, denn sie rüttelten an der Unfehlbarkeit der Kirche», schreibt der Biologe Bruce Lipton in seinem Buch ‹Intelligente Zelle› und vergleicht dabei die dogmatische Kirche mit dogmatischen Genforschern. «Schliesslich übernahm die Wissenschaft selbst die ehemalige Rolle der Kirche und diente den modernen westlichen Menschen als oberster Wissensquell.» Gerade im 19. Jahrhundert hegte die Wissenschaft den Anspruch, allwissend zu sein.
Jürgen Mittelstraß, der Wissenschaftstheoretiker, liest aus der Geschichte, dass der Wissenschaft keine theoretischen Grenzen auferlegt sind, sehr wohl aber praktische: «Grenzen der Wissenschaft sind zum Beispiel Irrtumsgrenzen – der wissenschaftliche Verstand wird Opfer seiner selbstverschuldeten Unzulänglichkeiten.» Die Wissenschaft muss sich nicht für Übersinnliches öffnen, um ihrem ehemaligen Anspruch auf Allwissenheit gerecht zu werden. «Sobald die Wissenschaft ihre Grenzen überschreitet, d.h die Begründbarkeit verlässt, verzichtet sie auf ihren Status.» Sie muss ihren Anspruch mindern. Das ist Mittelstraß zufolge bereits geschehen, aber bisher nicht bis in die Öffentlichkeit durchgesickert. Studien gelten immer noch als unantastbar wie früher die Bibel. «Die Wissenschaft soll sagen, was sie weiss, aber auch, bei welchen Themen sie keine Antworten finden kann.»

Literatur:
Peter Walde und Franta Kraus (Hrsg.): An den Grenzen des Wissens. Vdf-Verlag 2008, 279 S., Fr. 45.90/Euro 32,00 (Mit Beiträgen von Jürgen Mittelstraß)
Bruce Lipton: Intelligente Zellen – Wie Erfahrungen unsere Gene steuern. Koha Verlag 2010, 264 S., Fr. 23.50/Euro 14,95
Markus Hengstschläger: Die Macht der Gene – Schön wie Monroe, schlau wie Einstein. Piper & Co. 2008, 170 S., Fr. 15.90/Euro 8,95
Weblink: www.gerald-huether.de
30. November 2010
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