Einen Gang runter schalten
Unsere Ressourcen sind nicht unerschöpflich. Aber statt immer mehr Verpflichtungen auf uns zu laden, sollten wir besser zu uns und unseren wirklichen Prioritäten schauen.
Ich wollte, aber ich kann nicht. Ich würde, aber es geht nicht. Ich täte, aber ich bin am Ende meiner Kraft. Auch wenn du einen Wonderbra trägst, bist du nicht Wonder Woman und auch wenn du in dem neuen blau-roten T-Shirt super aussiehst, bist du nicht Superman. Unser aller Energie ist begrenzt und wenn einmal Schicht im Schacht ist, hilft keine koffeinhaltige Brause mit dem Geschmack verwesender Gummibärchen, um dich wieder zu beflügeln. Dann ist einfach Ende Gelände, Ofen aus, Klappe zu, weil Affe tot.
Es geht nicht darum, irgendjemandem etwas zu beweisen – auch nicht dir selbst! Wenn du für dich sorgst, akzeptierst du, dass es Dinge gibt, mit denen du manchmal überfordert bist, oder Tage, an denen dir einfach die Puste ausgeht. Wer sich trotzdem aufrappelt und abquält, jemand anderem jetzt noch etwas Gutes zu tun, tut weder sich noch dem anderen einen Gefallen. Kann eine Person, der etwas an dir liegt, wirklich von dir wollen, dass du dich für sie völlig verausgabst? Und würdest du dich für einen Menschen verausgaben wollen, dem dein Wohlergehen völlig gleichgültig ist? Mal abgesehen von Kleinkindern, pflegebedürftigen Personen und Kunstschaffenden jeglicher Couleur.
Sagen, was Sache ist, ist zwar schlecht fürs Image, hält dich aber länger am Leben.
Vielleicht werden die Grenzen deiner Kräfte oft ignoriert, weil dein Verhalten dies nicht nur erlaubt, sondern sogar nahelegt? Werfen wir doch einmal einen Blick auf die handelsübliche «starke Frau» – die es übrigens auch in männlicher Version gibt. Sie hat enorme Kräfte und sieht sich völlig zu Recht als unabhängige, kompetente Person. Aber sie irrt, wenn sie glaubt, immer alles allein schultern und allen anderen helfen zu können. Dennoch lässt sie diesen Irrtum als Fakt in die Welt hinausströmen. Vielleicht, weil es ihr schmeichelt. Vielleicht, weil sie eine Notwendigkeit dafür sieht, oder auch nur, weil es ihr wirklich so leicht fällt. Ja, sie hat sogar genügend Kapazitäten, sich noch für dieses und jenes zu engagieren, Ehrenämter zu besetzen und undankbare Jobs zu übernehmen. So lange, bis sie dann halt nicht mehr kann.
Es kostet enorm viel Energie, ein solches Image von sich in der Welt aufrechtzuerhalten. Spätestens, wenn die starke Frau irgendwann in die Knie geht, fällt ihr auf, wie ungerecht das Ganze eigentlich ist, dass alle es für selbstverständlich halten, dass sie sich um alles kümmert, dass sie stark ist, dass sie andere unterstützt. Eben all das, was sie dadurch selbstverständlich gemacht hat, dass sie es die ganze Zeit getan hat. Dann beklagt sie sich, dass niemand auf den Gedanken kommt, sie könnte auch einmal das Ende ihrer Kräfte erreichen und Hilfe brauchen. Dabei hat sie doch selbst tatkräftig daran gearbeitet, ihren Mitmenschen solche Gedanken abzutrainieren.
Vielleicht sollte sie besser einmal beizeiten eine klare Ansage machen. Sagen, was Sache ist, statt unter der Gedankenlosigkeit ihrer Umwelt zu leiden – und ungefragt sagen, dass sie müde ist und Hilfe wünscht. Ist zwar schlecht fürs Image der Superfrau, hält sie aber länger am Leben.
Wohlgemerkt: Ich glaube daran, dass wir alle mehr draufhaben, als uns bewusst ist. Dass wir in Situationen, wo es darauf ankommt, Berge versetzen können und an den meisten Herausforderungen wachsen können. Wir trainieren ganz spezielle Muskeln, wenn wir Dinge tun, die wir uns eigentlich nicht zutrauen. Wir sollten Schwimmen lernen statt das Meer zu vermeiden und keine Aufgabe nur deshalb ablehnen, weil wir glauben, sie nicht stemmen zu können.
Wenn kein Licht am Ende des Tunnels schimmert, sitzt du vielleicht im falschen Zug.
Du musst abwägen, ob du eine Aufgabe deshalb ablehnst, weil du dich vor Versagen fürchtest, oder deshalb, weil du einfach nicht die Kapazität dafür hast. Wir alle schlagen die Hände über dem Kopf zusammen, wenn wir sehen, wie unbekümmert unsere Gesellschaft begrenzte Rohstoffe plündert, die so schnell nicht wieder nachwachsen. Viele von uns verfahren allerdings genau so mit ihren eigenen Ressourcen.
Wir haben alle berufliche und privaten Verpflichtungen, das ist klar. Aber es gibt durchaus Bereiche, wo wir mit unserer Energie haushalten und andere Prioritäten setzen könnten: überall da, wo es die Notwendigkeit überschreitet und wo wir freiwillig eine Vereinbarung eingegangen sind, deren Ausmass wir erst später überrissen haben. Es ist völlig in Ordnung, die eigene Meinung zu ändern und eine Verabredung abzusagen. Dafür brauchst du keinen «plausiblen» Grund zu erfinden, sondern kannst die ehrliche Ansage machen, dass du gerade völlig in den Seilen hängst. Du kannst auch ein Ehrenamt oder eine zusätzliche Funktion in der Firma wieder abgeben, wenn du siehst, dass es für dich nur unter grossem Aufwand oder sogar persönlichen Opfern zu bewältigen ist – oder auch wenn du merkst, dass du nicht mehr hinter der Sache stehen kannst.
Ein sinnvolles Kriterium ist das Gleichgewicht von Energie. Im besten Fall gibst du Energie und bekommst sie vielfach wieder zurück. Im Normalfall erhältst du für deine Energie einen angemessenen Ausgleich. Und wenn es wirklich blöd läuft, gibst du Energie in etwas, von wo sie in keiner Form zu dir zurückkehrt. Ob es sich um eine Arbeit, eine wie auch immer geartete Beziehung, das Erlernen des Dudelsackspiels oder die Pflege deines Schnurrbarts handelt: Wenn sich etwas über einen längeren Zeitraum hinweg immer nur als schwarzes Loch darstellt, in dem dein Energieeinsatz sang- und klanglos verpufft, könntest du dich fragen, ob eine Änderung in Sicht ist.
Vielleicht braucht es ja nicht mehr lange, bis der Groschen der Zirkularatmung bei dir fällt. Vielleicht ist die andere Person in der Beziehung gerade in einer schwierigen Situation, deren Ende absehbar ist. Vielleicht ist es nur noch eine überschaubare Durststrecke im Job, bevor dein Durchbruch kommt. Aber wenn kein Licht am Ende des Tunnels schimmert, obwohl du schon so lange unterwegs bist, dann frag dich aufrichtig, ob du im richtigen Zug sitzt.
Vielleicht gibt es ja einen guten Grund, das Ganze dennoch durchs Leben zu tragen; einen Grund, der dir im Moment wichtiger ist, als für dich selbst zu sorgen. Das ist vollkommen akzeptabel, wenn es deine freie Entscheidung ist. Wenn du stark bist und in deiner Fülle lebst, kannst du reichlich teilen, unterstützen und abgeben. Ich gebe allerdings zu bedenken: Wenn du nur einen Eimer mit Löschsand hast, dann löschst du am besten das Feuer, das den grössten Schaden anrichten kann. Wenn du nur einen Eimer mit Wasser hast, dann giesse die Blume, über deren Blühen du dich am meisten freuen wirst. Und wenn du das Wasser anderen gibst, damit sie ihre Blume damit giessen können, dann freu dich hinterher, wenn ihre Blume blüht, und beklag dich nicht darüber, dass deine eigene verwelkt.
Es ist absolut in Ordnung, um Hilfe zu bitten, wenn du allein nicht weiterkommst. Ebenso, wie es auch in Ordnung ist, Hilfe und Unterstützung zu geben, wenn du diese Kapazitäten hast. Für dich selbst zu sorgen, bedeutet nicht, dass du immer alles allein machen musst. Bei all dem spielt Aufrichtigkeit dir selbst und anderen gegenüber eine grosse Rolle. Du kannst ehrlich zugeben, wenn du deine Grenzen erreicht hast und lieber auf dem Sofa lungern möchtest, obwohl eine rauschende Ballnacht lockt. Das nennt sich JOMO (Joy of Missing out): die Freude daran, etwas zu verpassen. Sie ist die logische und notwendige Gegenbewegung zu FOMO (Fear of Missing out), der Angst davor, etwas zu versäumen. Denn die peitscht dich ungeachtet deiner Befindlichkeit in die Welt hinaus auf der Jagd nach Erlebnissen, die sich gut fotografieren und ins Netz stellen lassen. Es empfiehlt sich also, vor einem Ausbruch von blindem Aktionismus immer zu reflektieren, was dir im Moment und beim aktuellen Energielevel am meisten bringen würde. Und wenn es ein Abend auf dem Sofa ist, dann sei es so. Dann geniesse ihn und lass den Rest der Welt ganz gelassen mit Bären steppen.
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Der vorliegende Text ist ein leicht gekürzter Vorabdruck aus Martin Pahr neustem Buch «Sorg für dich selbst, sonst sorgt sich keiner – wie du dir selbst höchste Priorität im Leben einräumst». mvg-Verlag, 2019. 206 S. 17.– Euro.
von:
Über
Martina Pahr
Martina Pahr ist Magister der Literaturwissenschaft, verausgabte Fernsehredakteurin, ehemalige Reiseleiterin und leidenschaftliche Schrebergärtnerin. Nebenher veranstaltet sie diverse Lesebühnen in München (wo sich kaum jemand etwas unter diesem Begriff vorstellen kann - im Grunde «Poetry Slam» ohne Wettbewerb.) Im Sommer schreibt sie gern in Schottland, im Winter in Asien und zwischendrin im Garten - wo sie sich überlegt, warum sie nichts Anständiges gelernt hat.
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