Etikettenschwindel in der «nachhaltigen» Fischerei?

Auf den Weltmeeren fischten alle, wie es ihnen gerade passte. Bestände der kommerziell genutzten Fischarten sind in den letzten sechzig Jahren massiv dezimiert worden: auf ein Zehntel der einstigen Grösse. Dann traten Labels für nachhaltige Fischerei auf den Plan. Doch das ist noch nicht die Rettung.

Vor zwanzig Jahren gründeten die weltgrösste Umweltorganisationen (WWF) und der damals weltgrösste Tiefkühlfischhändler (Unilever) das Label MSC, es steht für Marine Stewardship Council – Rat zur verantwortlichen Verwaltung der Meere. Ziel war es, Fischereien zu zertifizieren, die sich auf ein wissenschaftlich fundiertes Fischereimanagement verpflichten, um die Fischbestände zwar weiter zu nutzen, aber gleichzeitig zu schonen.
Ein anspruchsvolles, langwieriges und teures Zertifizierungsprogramm wurde auf die Beine gestellt. Es sieht im Prinzip vor, dass alle interessierten Kreise (Neudeutsch «stakeholder») in das Zertifizierungsverfahren einbezogen werden. Wenn also etwa die westaustralischen Langusten (Spiny lobster) das MSC-Label erhalten sollen, dann müssen nicht nur alle darauf spezialisierten Fischereien an Bord sein, sondern auch alle Regierungsstellen, Wissenschaftler, Umweltverbände, Tierschutzorganisationen et cetera, die sich in Westaustralien mit den Auswirkungen dieser Fischerei befassen. Dieses umfassende Verfahren soll sicherstellen, dass das Label MSC nur auf Produkten aus verantwortlichem Fang prangt. Soweit, so gut.

Einsprachen beim Start des Labels
Das Beispiel ist nicht zufällig gewählt. Die westaustralische Languste war eines der allerersten Produkte in der MSC-Pipeline. Die Zertifizierung war im Jahr 2000 abgeschlossen, das Produkt bei Migros und Coop bereits gelistet; die beiden Grossen hatten sich damals einen veritablen Endspurt darum geliefert, wer als erster Schweizer Detailhändler MSC-Produkte im Angebot haben werde. Da erhielt ich als Initiant des Vereins fair-fish einen verzweifelten Hilferuf von einer lokalen australischen Umweltorganisation, die entgegen der MSC-Richtlinien im Zertifizierungsverfahren nicht angehört worden war und Vorbehalte anmeldete. Wir alarmierten befreundete Schweizer Organisationen, der WWF äusserte Besorgnis und Migros wie Coop verzichteten vorübergehend auf die Langusten, bis die Einsprache geklärt sei. Noch war MSC neu auf dem Markt, noch ging man vorsichtig damit um.
Im November 2005 war ich nach Hamburg eingeladen, zu einem Kongress über die «Ökozertifizierung von Fisch zum Schutz mariner Systeme», ausgerichtet vom damals grün regierten Bundesumweltamt zusammen mit der deutschen Fischbranche. Mir fiel vor allem eines auf: Keines der anwesenden Unternehmen hatte nicht wenigstens ein, zwei Fischprodukte mit dem ovalen blauen Logo im Angebot. Noblesse oblige: nur fünf Jahre nach dem ersten Markauftritt war MSC offenbar für alle schon das Mass des guten Rufes. Meinen Begleiter Paolo Bray aus Milano liess das unbeeindruckt: «Da ist noch genügend Platz für uns», meinte er mit Blick auf sein eben erst gegründetes Label Friend of the Sea (FOS), mit dem er der Branche eine rasche und günstigere Zertifizierung ermöglichen wollte, ohne Abstriche am Ziel der Nachhaltigkeit.

Eingeschworene Anbieter
Als ich Bray zwei Jahre später wieder traf, war der Siegeszug von MSC auf dem deutschen Markt auch für ihn nicht mehr zu übersehen. Er bat mich, FOS gegenüber der Branche im deutschsprachigen Europa zu vertreten, und das hab ich bis vor einem Jahr nebenher gemacht (so viel zu meiner Interessenbindung). Keine leichte Aufgabe; denn inzwischen hatte eine starke Kampagne von WWF, Politik und Branchenführern kaum mehr eine Nische für Alternativen gelassen. Dabei hätte es für den Fischhandel durchaus Anlass gegeben, sich Alternativen offenzuhalten. In Gesprächen mit Händlern in den vergangenen Jahren spürte ich immer wieder ein Unwohlsein darüber, dem MSC und dem WWF sozusagen ausgeliefert zu sein. «Was, wenn die mal fünf gerade sein lassen, und es kommt dann raus? Dann hätten wir in ein Programm investiert, das auf einen Schlag nichts mehr wert wäre.» FOS als zweites Bein, das hat manchem eingeleuchtet; doch das Marketing der ganz Grossen war auf MSC fixiert, da ging kein anderer Fischkopf dazwischen. Denn solange nichts passiert, läuft das Geschäft problemlos: Wenn der mitgliederstarke und in den Medien gut verankerte WWF etwas als gut bezeichnet, ist das schon das halbe Marketing.
So konnte das FOS-Label, das in anderen Ländern gut vom Fleck kam, im deutschen Markt nur ausnahmsweise Fuss fassen; das gilt ähnlich für den von deutschen Anbietern dominierten österreichischen Markt. Anders in der Schweiz, wo sich Manor, der drittgrösste Fischdetailhändler, dezidiert für FOS und gegen WWF und MSC entschieden hatte. Die Mehrheit des Marktes gehört aber auch hier dem MSC, massiv unterstützt von der WWF Seafood Group, der wegen der publizistischen Macht des WWF binnen kurzer Zeit fast die ganze Branche angehörte. Die Mitglieder dieser Gruppe mussten nicht nur erhebliche Jahresbeiträge abliefern, sondern sich verpflichten, nur Fisch mit einem ausreichenden WWF-Rating einzukaufen. Das Rating-Verfahren selbst war nicht transparent; Ware mit MSC-Label passierte problemlos, während FOS-zertifizierte Ware vorzugsweise ungenügende Noten erhielt.

Kritik von Wissenschaftlern
Fischereibiologen, die das ambitiöse MSC-Programm zu Beginn begrüsst und unterstützt hatten, gingen zusehends auf Distanz. In Artikeln in wissenschaftlichen Zeitschriften legten sie mehr als einmal dar, dass die hohen Ziele in der Praxis verwässert würden. Der MSC wurde den einmal geäusserten Verdacht nicht mehr los, es würden in der Praxis der Zertifizierung Kompromisse gemacht, um die rasch gestiegene Nachfrage nach zertifizierten Fischen zu decken – und um die vielen Angestellten von MSC und beauftragten Auditfirmen zu bezahlen. War der MSC zu Beginn von Stiftungen mit mehreren Millionen Euro pro Jahr unterstützt worden, haben mittlerweile Einnahmen aus Lizenzen das Übergewicht.
Ein wesentlicher Teil der Kritik bezieht sich auf den Umstand, dass MSC auch Fischereien zertifiziert, die bereits überfischte Bestände ausbeuten. Der MSC macht zwar das Prinzip «Schützen beim Nutzen» geltend, es fehlen aber bis jetzt Belege, dass Bestände sich dank einer MSC-Zertifizierung erholt hätten. Die als Beispiel gern genannten, einst massiv überfischten Bestände des Seehechts (Hoki) in Neuseeland haben sich zwar tatsächlich wenige Jahre nach der Zertifizierung (2001) erholt, aber nach übereinstimmender Aussage von Fachleuten nicht dank MSC, sondern wegen der autonom von den nationalen Fischereibehörden durchgesetzten Senkungen der Fangquoten.
Sicherer wäre es jedenfalls, überfischte Bestände in Ruhe zu lassen, bis sie sich wieder erholt haben. Das wäre nicht nur ökologisch, sondern auch ökonomisch sinnvoller. Nach ein paar Jahren Fangpause, während der man die Fischer mit Krediten über Wasser hält, würden nämlich höhere Erträge bei geringerem Fangaufwand winken, so dass die Fischer die Kredite problemlos zurückzahlen könnten – ganz im Gegensatz zu den milliardenschweren Subventionen, die Jahr für Jahr verloren gingen für die Aufrüstung der überdimensionierten industriellen Fangflotte.

Labels konkurrieren
Im Gegensatz zum MSC zertifiziert das Label FOS prinzipiell keine überfischten Bestände und keine Fischerei mit zerstörerischen Grundschleppnetzen. Dafür kritisieren WWF und MSC, dass FOS einzelne Fischereien zertifiziert, ohne zu kontrollieren, wie sich benachbarte Fischereien im selben Meeresgebiet verhalten. Das trifft zu und ist einer der Hauptgründe dafür, weshalb eine FOS-Zertifizierung nur einen Viertel bis einen Achtel so lange dauert wie beim MSC und mindestens zwanzigmal weniger kostet. FOS argumentiert, das pragmatischere Vorgehen bringe eine Fischerei rascher in die grüne Zone; benachbarte Fischereien würden dem Beispiel dann von selber folgen, wenn sie die wirtschaftlichen Vorteile sähen. Mit diesem Ansatz ist FOS vor allem in Fischereien stark, die unter der industrialisierten Konkurrenz leiden, bei handwerklichen Fischereien, vor allem auch im Weltsüden, wo der MSC trotz jahrelanger Bemühungen und viel Geld mit seinem akademischen Ansatz kaum etwas auf die Reihe gebracht hat.
Das wesentlich billigere Verfahren bescherte FOS anfänglich den Vorwurf, ein nicht so seriöses Billiglabel zu sein. Inzwischen sind diese Stimmen verstummt. Benchmarking-Studien von WWF-unabhängigen Autoren zeigten wiederholt, dass FOS in seiner Nachhaltigkeitsleistung mit dem MSC mindestens gleichauf liegt. Die zertifizierten Mengen beider Label sind zudem ähnlich gross.
Ein Wettbewerb zwischen zwei verschiedenen Wegen zum gleichen Ziel ist eigentlich zu begrüssen: das gegenseitige Messen zwingt beide Seiten, sich zu verbessern. Es bleibt allerdings ein Rennen an der Spitze; MSC und FOS zusammen zertifizieren nur etwa einen Fünftel der weltweiten Fangmenge von jährlich 80 Millionen Tonnen.
Labels werden die Welt nicht retten. Im besten Fall weisen sie dem grossen Rest den nachzuahmenden Weg zur Rettung, im schlechteren Fall führen sie zu Enttäuschungen.

WWF behindert Alternativen
Während MSC-Mitbegründer Unilever vor gut zehn Jahren aus dem Fischgeschäft ausgestiegen ist, unterstützt der WWF sein einstiges Kind bis heute mit massiver Werbung, die den MSC in den Vordergrund schiebt – zum Beispiel mit Einkaufsratgebern, Lobbying bei Behörden wie in Deutschland oder mit Einkäuferdiktat wie in der Schweiz. Bei Kritik stellte sich der WWF bisher immer bedenkenlos vor «seinen» MSC. Bis vor Kurzem jedenfalls.
Im letzten November legte Alfred Schumm, Chef des WWF-Weltfischereiprogramms, einen schonungslosen internen Bericht über das Gebaren des MSC vor und warnte den WWF vor einem Glaubwürdigkeitsproblem. Schumm hatte eine Zertifizierung der Thunfischerei im Indischen Ozean unter die Lupe genommen. Er kam zum Schluss, «das MSC-Schema war kein akkurates Mittel zur Beurteilung der Nachhaltigkeit». Es sei daher, so Schumm, «zweifelhaft, ob das MSC-Schema für die Anwender einen widerspruchsfreien und transparenten Mechanismus bereitstellt, um die Art von Veränderung zu bewirken, die der WWF im Sinn hat». Die Untersuchung habe «einige beunruhigende systematische Schwachstellen des MSC-Schemas aufgedeckt, welche das Vertrauen des WWF in die Allgemeingültigkeit des MSC als Hebel für die Verbesserung der Nachhaltigkeit in der Fischerei unterminieren». Es sei daher klar, «dass diese Art von grossem Engagement des WWF für das MSC-Label in einem schlechten ‹Preis-Leistungs-Verhältnis› zur Naturschutzwirkung steht».

Leck im System
Zum Glück ist dieser Bericht an die Öffentlichkeit durchgesickert. Jetzt muss der WWF handeln. Der Kieler Fischereibiologe und langjährige MSC-Kritiker Rainer Froese sagt es so: «Der Bericht passt zu meinen eigenen Erfahrungen, die ich bei wohl einem Dutzend Einwänden gegen MSC-Zertifizierungen gemacht habe, wegen fortgesetzten Überfischens, Beständen ausserhalb sicherer biologischer Grenzen oder fehlender Beurteilung des Fischereimanagements. Keiner meiner Einwände hat eine Zertifizierung gestoppt. Hoffen wir nun, dass dieser Druck seitens des WWF den MSC endlich dazu bringe, seine Regeln, seine Verfahren und seinen organisatorischen Aufbau zu ändern.»
Kommt der Druck jetzt tatsächlich vom WWF, und stellt sich die Organisation wirklich hinter Schumms Kritik? Die Zeichen sind noch widersprüchlich. Zwei Wochen nachdem der Bericht durchgesickert war, verkündete der WWF Schweiz die frohe Weihnachtsbotschaft, dass Migros und Coop es geschafft hätten, «nur noch Fisch aus nachhaltigen Quellen» anzubieten. Die Beurteilung stammt – von der WWF Seafood Group. Kein Wort des Zweifels, the show must go on.
Noch im vergangenen Sommer hatte ein Teamkollege von Schumm mir gegenüber die bessere WWF-Note für MSC damit gerechtfertigt, dass der FOS-Standard verschiedene für den WWF wichtige Punkte nicht abdecke. Über die beste Auswahl und Gewichtung von Kriterien kann man trefflich streiten, solang sie dann auch erfüllt werden. Jetzt aber geht es darum, für Ordnung zu sorgen – nicht nur zum Schutz von MSC und WWF, sondern im Interesse aller, die sich für eine schonende Fischerei engagieren. Der WWF ist verantwortlich dafür, ob sich in der Branche und bei den Konsumenten der Eindruck festsetzt, bei Labels werde sowieso nur Stroh gedroschen. Das wäre fatal.

Guter Rat ist gar nicht teuer
Und was sollen die besorgten Kunden nun tun? Das, was fair-fish schon lange empfiehlt: maximal einmal Fisch im Monat. Das lässt sich erstens viel leichter beurteilen als Labels, Fischratgeber und dergleichen. Und zweitens wirkt es sehr direkt im Meer. Nach Schätzungen unabhängiger Fischereibiologen muss der Fischereidruck für wenigstens ein paar Jahre um mindestens 50 Prozent gesenkt werden. Ein Fischereimanagement, das die Fangmengen nicht um die Hälfte reduziert, bis sich die Bestände voll erholt haben, wird nie zum Ziel führen können. Das heisst für uns als Konsumenten: ein paar Jahre lang nur noch einmal im Monat Fisch essen.    
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Billo Heinzpeter Studer ist Mitgründer und Präsident von «fair-fish international» und Co-Präsident von fair-fish Schweiz.