Berlin und der «ukrainische Holocaust»

Der Deutsche Bundestag will die Hungersnot in der Ukraine 1932/33 zum Genozid erklären und übernimmt damit eine politisch motivierte Einstufung aus dem Milieu der ukrainischen Ex-NS-Kollaboration, schreibt German Foreign Policy
Veröffentlicht: 28. Nov 2022 - Zuletzt Aktualisiert: 28. Nov 2022

Gemäss Untersuchungen von Historikern ist die Behauptung, bei der Hungersnot handle es sich um einen willentlich herbeigeführten «ukrainischen Holocaust», im ukrainischen Exil in Kanada entstanden, in dem einstige NS-Kollaborateure den Ton angaben.

Ende der 1980er Jahre wurde die Behauptung in dem neu geschaffenen Wort «Holodomor» gebündelt. Historiker weisen sie in der überwiegenden Mehrheit zurück, nicht zuletzt, weil die Hungersnot die Bevölkerung in agrarischen Regionen in der gesamten Sowjetunion traf.

Der Bundestag will seine Resolution zum «Holodomor» schon an diesem Mittwoch verabschieden. Dies droht auch gravierende innenpolitische Folgen hervorzurufen: Am Freitag hat der Bundesrat die jüngste Verschärfung des §130 StGB abgenickt, nach der «das öffentliche Billigen, Leugnen oder gröbliche Verharmlosen» von Kriegsverbrechen sowie darüber hinaus von Völkermord unter Strafe gestellt wird.

Gegenstand der Bundestagsinitiative ist die verheerende Hungersnot, die die Sowjetunion in den Jahren 1932 und 1933 erfasste. Sie hatte verschiedene Ursachen. Im Jahr 1931 hatten erst eine Dürre, dann weitere widrige Wetterbedingungen die Ernte ernsthaft geschädigt.

Dies geschah, als die 1929 eingeleitete Kollektivierung der Landwirtschaft zu Spannungen führte und zugleich so viel Getreide zur Versorgung der Industriearbeiter wie zur Sicherung des Exports zwangsweise aus den Anbaugebieten abtransportiert wurde, dass dort gravierender Mangel auftrat.

Dies war in allen wichtigen Getreideanbaugebieten der Sowjetunion der Fall – neben dem bedeutendsten Anbaugebiet, der Ukraine, etwa auch in Teilen Russlands oder in Kasachstan. Die Hungersnot forderte in der Sowjetunion insgesamt mutmaßlich zwischen sechs und sieben Millionen Todesopfer, davon wohl rund 3,5 Millionen im grössten Getreideanbaugebiet – der Ukraine –, weitere 1,5 Millionen in Kasachstan; es kamen zahllose Opfer in Russland und anderen Gebieten der Sowjetunion hinzu.

Gemessen an der Grösse der Bevölkerung hatte während der gesamten Hungersnot nicht die Ukraine, sondern vielmehr Kasachstan die höchste Zahl an Todesopfern zu beklagen. Fachhistoriker beurteilen die Verantwortung der sowjetischen Regierung unterschiedlich; von einem gezielten Genozid geht jedoch nur eine kleine, in der Regel weit rechts stehende Minderheit aus.

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