Türkei/Syrien: Feldzug ohne Pause

Drei Tage nach der Erdbeben-Katastrophe bereits wieder türkischer Artilleriebeschuss in den kurdischen Rebellengebieten, schreibt Claudia Wangerin
Veröffentlicht: 9. Feb 2023 - Zuletzt Aktualisiert: 9. Feb 2023

In Syrien sind nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Sana und der Hilfsorganisation Weisshelme mindestens 3.162 Menschen ums Leben gekommen. Diese Zahlen werden sich wohl im Zuge der Bergungsarbeiten weiter erhöhen. Die Not in den betroffenen Gebieten Nordsyriens hält aber den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und dessen Militär nicht von weiteren Angriffen ab.

Bereits in der Nacht zum Dienstag begann die türkische Armee, die vom Erdbeben betroffene Stadt Tel Rifat in Nordsyrien und ihre Umgebung mit Artillerie zu beschiessen, berichtete die kurdische Nachrichtenagentur ANF. Hintergrund ist, dass die Regierung Erdogan das selbstverwaltete Gebiet als Operationsbasis der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) betrachtet und für sich in Anspruch nimmt, diese grenzübergreifend zu bekämpfen – Naturkatastrophen hin oder her.

Khaled Davrisch, Repräsentant der Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens (AANES) in Deutschland, verurteilte dieses Vorgehen aufs Schärfste: Die türkischen Angriffe kämen «in einer Situation, wo viele Menschen bereits alles durch das Erdbeben verloren haben. In dieser Zeit sollten die Menschen sich helfen und keine Kriege führen», erklärte Davrisch.

Im Umland von Tel Rifat befinde sich ein grosses Flüchtlingslager für Menschen, die vor dem Krieg geflohen seien – das Agieren Erdogans sei «unmenschlich und verbrecherisch», erklärte am Mittwoch die Vorsitzende der Partei Die Linke, Janine Wissler, die in Diyarbakir auf einer Reise zu Gesprächen mit Menschenrechtsorganisationen von dem Beben überrascht worden war. «Syrien und die Türkei müssen die Grenze öffnen, um grenzüberschreitende Hilfe zu ermöglichen.»

Dass Erdogan für zehn Provinzen der Türkei einen dreimonatigen Ausnahmezustand angekündigt hat, sehen Wissler und viele andere mit Besorgnis – nicht nur, weil die für den 14. Mai geplante Wahl verschoben werden könnte. Den Ausnahmezustand im Katastrophenfall regelt in der türkischen Verfassung derselbe Paragraph wie das Kriegsrecht – und das dürfte mehr Repression gegen Organisationen bedeuten, die momentan eine wichtige Rolle bei der Koordinierung der Freiwilligenarbeit spielen.

So hat zum Beispiel die linke Oppositionspartei HDP (Demokratische Partei der Völker) aufgrund der Katastrophe alle klassischen Parteiaktivitäten eingestellt – «damit wir unsere ganze Energie auf die Rettungs- und Überlebensarbeit verwenden können», wie deren Abgeordnete Feleknas Uca und Hişyar Özsoy am Mittwoch erklärten.

«Wir haben einen zentralen Koordinierungsausschuss eingerichtet, um unsere Arbeit zu erleichtern, und unsere regionalen Wahlkoordinierungszentren wurden zu Krisenkoordinierungszentren umfunktioniert», gaben die HDP-Abgeordneten bekannt. An die internationale Öffentlichkeit sendeten sie einen eindringlichen Appell:

Wir rufen daher alle internationalen Institutionen, Regierungen, Organisationen und Einzelpersonen auf, uns bei der Bewältigung dieses unglaublichen Schmerzes zu unterstützen und die zerstörten Leben und Gemeinschaften wieder aufzubauen. Bitte mobilisieren Sie dringend alle Arten von Unterstützung, Solidaritätsnetzwerken und Ressourcen, die Ihnen zur Verfügung stehen. Feleknas Uca und Hişyar Özsoy, Demokratische Partei der Völker (HDP)
Für Erdogans Regierungskoalition aus AKP und MHP ist nicht nur die HDP ein rotes Tuch, sondern jede Form der Selbstorganisierung in den überwiegend von Kurdinnen und Kurden bewohnten Gebieten suspekt. Seit Jahren versucht der türkische Staat, die Etablierung von Volksräten in diesen Gebieten zu verhindern. Mehrfach wurden bereits Bürgermeisterinnen und Bürgermeister mit HDP-Parteibuch abgesetzt.