Analyse zum NATO-Gipfel in Vilnius: Erdogans brillanter Schachzug

Entgegen der landläufigen Meinung herrscht zwischen Russland und der Türkei weiterhin bestes Geschäftsklima -nun auch mit Segen der USA, schreibt Vlad Georgescu bei augenauf.blog
Veröffentlicht: 13. Jul 2023 - Zuletzt Aktualisiert: 13. Jul 2023

Die Nachricht glich einer Sensation: Die Türkei wird, anders als von vielen erwartet, dem Beitritt Schwedens nicht im Wege stehen. Im Gegenzug, so die Spekulationen, soll die EU das seit Jahrzehnten andauernde EU-Beitrittsverfahren für die Türkei etwas beschleunigen. Oder überhaupt in Gang setzen. Während die Amerikaner unisono in Vilnius betonten, dass NATO-Schweden und EU-Türkei zwei vollkommen unterschiedliche Themen seien, kamen aus Moskau ganz andere Töne. Man könne Erdogan verstehen und ja, der NATO-Beitritt Schwedens sei möglich, weil die Türkei ein zuverlässiger Partner ist. Was Moskau weiß, der Westen aber nicht versteht: Es geht dem türkischen Präsidenten nicht um die EU. Und Moskau auch nicht um den NATO-Beitritt Schwedens. Denn beide Länder, Türkei und Russland, sind – entgegen der westlichen Einfallslosigkeit bei politischen Interpretationen – stärker miteinander verbunden, denn je. 

von Vlad Georgescu.

Tatsächlich sind die Indizien hierfür anhand dessen erkennbar, was die russische, staatliche Nachrichtenagentur TASS schreibt. Ein Blick auf die Orginalmeldung lohnt hierbei allemal:

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MOSKAU, 11. Juli. /TASS/. Moskau verstehe das Bekenntnis Ankaras zu seinen NATO-Verpflichtungen sehr gut, interagiere aber gleichzeitig in wichtigen Bereichen mit der Türkei, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow vor Journalisten.

Zur Entscheidung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, dem NATO-Beitritt Schwedens zuzustimmen, sagte der Kremlbeamte: „Die Türkei ist Mitglied des Nordatlantischen Bündnisses. Die Türkei hat ihre Verpflichtungen. Die Türkei hält sich an ihre Verpflichtungen. Das war nie ein Geheimnis.“ uns und wir machten uns darüber keine Illusionen“, sagte er. „So gehen wir mit [Ankaras Entscheidung] um. In dieser Hinsicht verstehen wir alles sehr gut“, bemerkte Peskow.

Allerdings wies er darauf hin, dass die Entscheidung zu Schweden und der NATO „nur ein Teil der Geschichte“ sei. „Ein weiterer Teil sind unsere Bindungen. Ja, wir haben Differenzen, und wir verstecken sie auch nicht, aber es gibt auch den Teil unserer Beziehungen, der absolut den Interessen unserer beiden Länder entspricht, etwas, das uns ausreichend wichtig und wichtig ist.“ auch für die türkische Seite“, betonte er.

Bevor er am Montag zum Nato-Gipfel in Vilnius aufbrach, sagte Erdogan, er werde dem Beitritt Schwedens zur Nato zustimmen, vorausgesetzt, die Türkei sei in der Lage, der EU beizutreten. Der türkische Präsident traf sich mit dem schwedischen Premierminister Ulf Kristersson, NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg und dem Präsidenten des Europäischen Rates Charles Michel. Das Ergebnis dieser Gespräche war, dass die Türkei zustimmte, Schwedens Beitrittsprotokoll zur NATO zu ratifizieren und ein entsprechendes Dokument vorzulegen, das der Großen Nationalversammlung der Türkei, dem Einkammerparlament, so bald wie möglich zur Abstimmung vorgelegt werden soll.

Im Gegenzug versprach Stockholm, den EU-Beitrittsprozess der Türkei zu beschleunigen und die Modernisierung der Zollunion zwischen der Türkei und der EU zu erleichtern.

ТАСС 11.07.2023, 15:29 Uhr MSK

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Die fast väterliche Zustimmung des Kreml freilich hat einen guten Grund. Durch Aufgabe der Blockade gegen den NATO-Beitritt Schwedens gerät die Türkei nicht ins Visier der US Behörden, insbesondere des Office of Foreign Assets Control. Das zum Department of the Treasury zählende OFAC ist die wohl mächtigste US-Institution, obschon unter Laien kaum bekannt: Wer auf deren Liste steht, kann international laufende Geschäfte in der US-amerikanischen Einflusssphäre vergessen.

Und zu dieser Sphäre zählt vor allem Europa.

Genau dort aber ist die Türkei, für Russland, ganz legal im großen Umfang unterwegs. Türkische Firmen exportieren problemlos jede Ware in den Westen, die als “Made in Turkey” gilt. Dabei zählt schon das Umverpacken als Herstellung in der Türkei, sofern wenigstens ein Aufkleber neu auf die Produkte gelangt. Türkische Banken erlauben es zudem ihren Firmenkunden, Cash nach Belieben einzuzahlen. Und europäische Kunden wiederum schätzen türkische Firmen, weil sie zuverlässig alles liefern, was die EU-Kommission an sich aus Russland gar nicht mehr haben will. Was aber die europäische Wirtschaft dringend braucht.

All das, und DAS ist der eigentliche geheime Deal zwischen Moskau und Washington, darf die Türkei in Zukunft guten Gewissens weiterbetreiben. Erdogan bot demnach beiden Seiten etwas an, was sie nicht abschlagen können. Die Amerikaner bekommen Schweden in die NATO, die Russen erhalten weiterhin den legalen Zugang zum europäischen Markt – über die türkischen Proxies, von denen OFAC zwar Kenntnis hat, nun aber kaum weiter registrieren wird.