Deutsche Wähler bleiben ratlos

Nach der Wahl im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen lavieren die deutschen Wähler zwischen Westerwelle-Überdruss und halbherziger SPD-Renaissance. Das ist nicht der Stoff, aus dem Zukunftsalternativen entstehen können.

CDU-Ministerpräsident Rüttgers «abgestürzt», FDP «abgestraft», SPD im «Aufwind». Kandidatin Hannelore Kraft im «Ypsilanti-Dilemma», zerrissen zwischen Grosser Koalition und linkem Tabubruch. Die Presse musste heute schon alle ihre Künste rhetorischen Aufbauschens aktivieren, um aus der blassen NRW-Wahl ein epochales Ereignis zu stricken. Deutschland (bald auch wieder «Fussball-Deutschland») fiebert lieber mit Grand-Prix-Schätzchen Lena Meyer-Landruth als sich um Politik zu kümmern. Hier in der Kürze einige Bemerkungen zur Wahl von «Deutschland-Korrespondent» Roland Rottenfußer.



1. Die Deutschen mögen den FDP-Vorsitzenden, Aussenminister Guido Westerwellen nicht (mehr), stellen aber die neoliberalen Grundlagen seines Weltbilds nicht in Frage. Auch seine Ausfälle gegen Hartz-IV-Empfänger machen ihn bei der Mehrheit nicht unbedingt unbeliebt. Die nun „erfolgreiche“ nordrhein-westfälische SPD-Kandidatin Hannelore Kraft blies nämlich im Wahlkampf ins gleiche Horn: Zwangsarbeit für Leistungsabhängige für einen «symbolischen» Lohn, also de facto 0-Euro-Jobs. Die Parallele Westerwelle/Kraft zeigt wie unter einem Brennglas, dass es sich bei deutschen Wahlen fast immer um Scheinalternativen handelt. Wer sich, vor schwarz-gelber Sozialignoranz fröstelnd, bei Hannelore Kraft emotional aufwärmen möchte, dürfte Erfrierungen zweiten Grades erleiden.



2. Der bisherige CDU-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers wurde von der Presse als «Arbeiterführer» aufgebaut – ein Manöver, das die Merkel-Regierung zum Schein vom Image sozialer Kälte befreien sollte. Die Manipulationsstrategie der Medien: Sie bezeichnen einfach einen Teil des innerparteilichen Spektrums als «links», ohne dass diese Etikettierung wirklich sachlich begründet wäre. Scheinlinke wie Rüttgers oder Nahles (SPD) sollen Wähler aus dem Arbeitermilieu binden. In Wahrheit würde jeder Vogel abstürzen, dessen «Flügel» so nahe beieinander liegen, wie dies innerhalb der CDU oder auch der SPD der Fall ist.



3. Die meisten Deutschen hegen in ihrer Mehrheit eine panische Furcht vor jedem Experiment, jedem Abweichen von der behaglichen Mitte in die Regionen des «Extremen». Sie verstehen nicht, wie extrem das «Normale» heute geworden ist. Die Altparteien der Bonner Republik treiben das Land und Europa gerade mit ihrem «Weiter so» in eine epochale Krise. Politischer Kreativität ist nicht einmal im Ansatz zu erkennen bzw. wird vom Wähler nicht goutiert. Trotz ihrer anerkennenswerten Haltung zum Afghanistan-Krieg und Finanzmärkten bleibt die Linke im 6-Prozent-Ghetto. Es herrscht eine diffuse Angst vor dem DDR-Totalitarismus, die der uninformierte Bürger immer noch bei der Linkspartei verortet. Die Speerspitze des autoritären Überwachungsstaats, die CDU, hat dagegen weiterhin in fast allen Wahlen die Nase vorn. Kleine Parteien bleiben machtlos. Trotz der erfrischenden Piratenpartei bleibt es schwierig für Parteien, sich als sechste Kraft zu etablieren. Jeder Ansatz von Kreativität prallt gegen die undurchdringliche Wand der 5-Prozent-Hürde.



4. Viele Wähler sehnen sich unterschwellig nach einem Aufbruch, stellen die Weichen jedoch konkret auf Zusammenbruch. Die politische Landschaft gleicht einem tanzenden Paar, das sich an Bord der Titanic um sich selbst dreht. Mal sieht der Betrachter die (rot-grüne) Dame im Vordergrund, mal den (schwarz-gelben) Herrn. Da sich die Drehung langsam vollzieht, hat man das Gefühl, einer Kette epochaler Umbrüche beizuwohnen. Mal ist der CDU-Block obenauf, mal der SPD-Block. Die Illusion dient als wirksamer Schutz gegen echte Veränderungen. Sie lenkt ausserdem den Blick vom nahenden Eisberg ab.



5. Fazit: Dem Namen der mutmasslichen nächsten Ministerpräsidentin zum Trotz, ist die Entscheidung der nordrhein-westfälischen Bevölkerung kraftlos. Versuche der Kandidatin, mit der Linken zu koalieren, dürften von der Mainstream-Presse niedergeschrieen werden. Wahrscheinlicher ist ein braver Schwenk zur Grossen Koalition. Denn Aufgabe der SPD in der neoliberalen Ära ist es nicht, eine echte Alternative zur CDU zu entwickeln und damit zu gewinnen. Vielmehr bleibt die SPD mehr oder minder freiwillig ewiger Zweiter, blasse Scheinalternative. Der persönliche Ehrgeiz ihrer Protagonist/innen hält sich in Grenzen, da man die «gerechte» (neoliberale) Sache auch bei der CDU in guten Händen weiss.



Parallelen zu den Zuständen in anderen europäischen Ländern wären rein zufällig und lägen selbstverständlich nicht in der Absicht des Verfassers.



Postskriptum: Die Wahlbeteiligung lag bei 52 Prozent. Das bei den Nichtwählern vorhandene Widerspruchspotenzial vermag sich aber weiterhin nicht zu organisieren und politisch wirksam zu werden. Regierungen repräsentieren heute vielfach nur noch rund ein Viertel der Bevölkerung. Die anderen drei Viertel sind Opposition oder haben resigniert. Demokratie heisst de facto heute Minderheitsherrschaft.



10. Mai 2010
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