Leben wir in einer narzisstischen Gesellschaft?

Emotionale Vernachlässigung oder Überbehütung von Kindern sind die Ursache
Veröffentlicht: 23. Aug 2024 - Zuletzt Aktualisiert: 23. Aug 2024

Leben wir in einer narzisstischen Gesellschaft? Vor 15 Jahren stellten die amerikanischen Psychologen Jean Twenge und Keith Campbell die gewagte These auf, wir würden von einer regelrechten «Narzissmus-Epidemie» überschwemmt werden. Heute verwenden Hobby-Psychologen kaum einen Begriff so häufig wie Narzissmus. Die Wahrheit ist: Irgendwo steckt in jedem von uns ein Narzisst, ist auf dem RPP-Portal zu lesen. Schon vor 100 Jahren attestierte Sigmund Freud jedem Menschen einen «primären Narzissmus». Der primäre Narzissmus beschreibt das Verhalten von Säuglingen. Ständig wollen sie im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Für ein Baby ist das auch völlig in Ordnung. Idealerweise wächst man mit der Zeit aus der Säuglingsphase heraus und kann sich selbst zurücknehmen und selbstlos handeln. Der Narzisst hingegen neigt dazu, sich wie ein erwachsenes Baby zu verhalten.

Narzissten brauchen ständig Bestätigung von aussen, um ihre eigene Bedeutung aufzublähen. Soziale Stellung bedeutet dem Narzissten mehr als charakterliche Grösse. Die frühkindliche Prägung spielt bei der Entstehung von Narzissmus eine entscheidende Rolle. Sowohl emotionale Vernachlässigung als auch Überbehütung und Verwöhnen begünstigen die Entstehung von Narzissmus. Dass Narzissmus als psychische Störung allgemein zunimmt, lässt sich kaum belegen. 

Der Perfektionismus unterscheidet sich zwar vom Narzissmus, aber beide Neigungen sind eng miteinander verwandt. Beide nehmen sich selbst zu wichtig. Narzissmus bedeutet Selbstaufwertung und Fremdabwertung. Der Narzisst kreist selbstverliebt nur um sich selbst. Perfektionismus hingegen beschreibt das ängstliche Kreisen um sich selbst. Ein Perfektionist fragt sich: «Wer ist besser, du oder ich? Dein Kind oder mein Kind? Deine Leistung oder meine Leistung?». Der ängstliche Vergleich mit anderen führt dazu, dass Perfektionisten eine Fassade aufbauen. Am Ende führt aber der Zwang, ständig eine Show zu spielen, zu einem enormen psychischen Druck. Zwar können Digitalisierung und Smartphones nicht als Ursache für psychische Probleme dieser Art gelten, aber sie können problematische Denk- und Verhaltensmuster verstärken. 


Lesen Sie im Zeitpunkt auch:

Wird die Welt von Psychopathen regiert?