«Ich übernehme die volle Verantwortung»

Politiker haben es bei der Übernahme von Verantwortung für Desaster in ihren Dossiers zu grosser Meisterschaft gebracht. Ohne jegliche Folgen – weder für die Politiker noch für die Betroffenen. Das geht seit Jahrhunderten so – mindestens seit dem 9. Juli 1386, um genau zu sein.

«Ich übernehme die volle Verantwortung», bekräftigte die ehemalige US-Aussenministerin Clinton vor dem Auswärtigen Ausschuss ihre Rolle beim Anschlag auf das amerikanische Konsulat in Libyen.
Tönt gut und macht die Welt a better place. Da ist jemand, der sich nicht versteckt – auch dann nicht, wenn etwas schiefgelaufen ist. Mutig! Solche Politikerinnen und Politiker sollte es mehr geben!
Seien Sie beruhigt: Es gibt sehr viele davon! Mehr, als uns lieb ist. Ja, Sie haben richtig gelesen.


Verantwortung – so will es das abendländische Wertesystem – bezeichnet die Zuschreibung einer Pflicht zu einer handelnden Person gegenüber einer anderen Person oder Personengruppe. Aus dieser Übertragung resultiert ein Anspruch, der eingefordert werden kann beziehungsweise für den es sich zu rechtfertigen gilt. In dieser so allgemeinen wie vagen Umschreibung kann die Übernahme der Verantwortung, wie das Hillary Clinton getan hat, durchaus mustergültig sein. Frau Clinton hat den Anspruch des amerikanischen Volkes an seine politischen Eliten, nämlich amerikanische Institutionen und Staatsbürger nach bestem Wissen und Gewissen zu schützen, akzeptiert und sich für das Scheitern desselben (tote Angehörige der US-Botschaft in Libyen) zur Rechenschaft ziehen lassen. So weit, so gut.
Wenn der Anspruch an die Verantwortung von Politikern und anderen Funktionsträgern in Wirtschaft und Politik damit erschöpft wäre, dann hätte beispielsweise auch Wolfgang Wowereit seinen Job als Aufsichtsratsvorsitzender der Flughafen Berlin AG mit periodischen «Ich übernehme die Verantwortung für das Milliardengrab» problemlos noch jahrelang, vielleicht sogar bis zur Eröffnung des kostbaren Flugfeldes, behalten können.
Ob Wowereit im August dieses Jahres bei seinem Abgang nur gesagt hat, «ich gehe, und das ist gut so», oder ob er dabei auch gleich «die volle Verantwortung» für das eine oder andere Missgeschick beim Bau des Hauptstadt-Flughafens übernommen hat, ist nicht überliefert. Es hätte auch nicht viel geändert, denn mittlerweile ist es schon fast zum Ritual geworden, mit dem Hut jeweils auch die volle Verantwortung zu nehmen. Und das gemeine Volk lässt die Politiker damit ungeschoren davonkommen.


Wahrscheinlich haben die Politiker (und wir) vergessen – auch das postuliert die oben zitierte Definition von Verantwortung – , dass «Handlungen und ihre Folgen je nach Wertesystem für den Verantwortlichen zu Konsequenzen wie Lob und Tadel, Belohnung, Bestrafung oder Forderungen nach Ersatzleistungen führen.» Dafür muss man nicht mal die «volle Verantwortung» übernehmen, ein Teil davon würde reichen. Der 1992 verstorbene britische «legal philosopher» und Oxford-Professor H.L.A. Hart unterschied in seinem Standardwerk «The Concept Of Law» vier Arten der Verantwortung:
1. Kausale Verantwortung in Hinblick auf die Verursachung
2. Rollenverantwortung in Hinblick auf die Aufgabe
3. Fähigkeitenverantwortung in Hinblick auf die Erfüllbarkeit
4. Haftungsverantwortung, die von der Verursachung abweichen kann.
Für die Beurteilung der «vollen Verantwortungsübernahme» durch Politikerinnen und Politiker ist eine Fokussierung auf die Punkte 2 und 3 zulässig und sinnvoll; für die Verantwortung der ersten Art sind politische Eliten in der Regel zu kurz im Amt, als dass sie bei der Verursachung der Desaster schon eine entscheidende Rolle gespielt haben könnten (Wowereit), oder die Wurzeln eines Misserfolges sind historischer Natur, wie die Feindschaft zwischen den Akteuren des arabischen Frühlings und den Exponenten der alten Imperialisten in den USA (Clinton).
Die Frage der Haftungsverantwortung anderseits zielt wohl in erster Linie auf wirtschaftliche Entscheidungsträger und dürfte in den meisten Fällen Futter für Versicherungsjuristen sein.
Bleibt die Frage nach der Rollenverantwortung mit Blick auf die Aufgabe und nach der Fähigkeitsverantwortung im Bezug auf die Erfüllbarkeit.


Es wäre neu, wenn politische Eliten sich je mit der Frage ihrer Fähigkeit in Bezug auf die Aufgaben kritisch auseinandergesetzt hätten. Zudem gewichtet unser Wahlsystem Interessenvertretung höher als Kompetenz; das Resultat dürfen wir nicht beklagen. Aber, auch das muss gesagt sein: Selbst wenn die heutige Politik ein Augiasstall ist, darf man von den Akteuren nicht automatisch herkulische Kräfte erwarten.
Damit richtet sich der Fokus auf die Rollenverantwortung im Hinblick auf Aufgaben, für die sich  politische Würdenträger für eine bestimmte Zeit haben wählen lassen. Für Missstände, Fehlleistungen, verlorene Abstimmungen und andere «Crimes & Misdemeanors» während ihrer Amtszeit reden sich Politikerinnen und Politiker gerne heraus, indem sie auf Sachzwänge und mangelnde Alternativen zu ihrem Tun und Handeln hinweisen. Dabei geht es keinesfalls darum, von Politikern innert nützlicher Frist in verschiedenen Dossiers Fachkompetenz zu verlangen, die sie befähigt, adäquat und verantwortungsvoll zu entscheiden. Klar ist aber auch, dass sie in diesem Fall geeignete organisatorische Vorkehrungen treffen müssen, damit die gestellten Aufgaben erfüllt werden. Andernfalls trifft sie das, was Juristen ein Organisationsverschulden nennen.
Die Wahrnehmung der vollen Rollenverantwortung eines Politikers wird allerdings in der Tat strukturell behindert.


Verantwortung setzt Handlungsfreiheit voraus. Das heisst implizit: Der Politiker kann zur Erfüllung seiner Aufgaben auch die adäquaten Mittel einsetzen. Das ist, wie wir wissen, in der Politik sozusagen nie der Fall. Die Hindernisse sind zahlreich: Gesetze, politische Gegner, ein träger Beamtenapparat, sich wandelnde äussere Umstände und einiges mehr. «Damit befindet sich jeder Politiker mitten in der «Willensfreiheitsdebatte»: Braucht er totale Handlungsfreiheit, um Verantwortung für sein Tun übernehmen zu können, oder ist der Weg seiner Entscheidung  sowieso durch «Sachzwänge» determiniert?  «Kompatibilismus» nennt man die wahrscheinlich realistische Sichtweise,  wonach die Willensfreiheit und der Determinismus durchaus vereinbar sind.    
Der Wegweiser, um zwischen diesen beiden Polen in den Irrungen und Wirrungen der Tagespolitik weder die Orientierung zu verlieren noch zerrieben zu werden, heisst Gewissen.
Es komme vor, gab Helmut Schmidt in seiner Christian-Wolff-Vorlesung 2007 zu bedenken, dass Politiker zu spontanen Entscheidungen genötigt seien; dabei sei die Gefahr von Fehlern und Fehlschlägen naturgemäss besonders gross. Aber in jedem Fall treffe den Politiker die Verantwortung für die Folgen seines Handels. Wenn er aus den zahlreichen Entscheidungssituationen seiner Regierung ein Fazit ziehen müsse, dann sei es «immer wieder das eigene Gewissen des handelnden Politikers, das letztlich entschieden hat; aber der Gewissensentscheidung ist immer die durchdringende Anstrengung der eigenen Vernunft vorausgegangen.» Ohne die vorangegangene Anstrengung der eigenen Vernunft könne der Politiker sein Handeln und die Folgen seines Handelns nicht verantworten. «Eine gute Absicht allein oder eine lautere Gesinnung, sie allein können ihn von seiner Verantwortung nicht entlasten. Deshalb habe ich übrigens Max Webers Wort von der Notwendigkeit der Verantwortungsethik im Gegensatz zur Gesinnungsethik immer als gültig empfunden.»


Den ethischen Aspekt der Verantwortung betont auch der deutsche Philosoph, Theologe und Pädagoge Georg Picht. Wer Verantwortung trägt, kann sich nach seiner Meinung nicht alleine auf formale Vorschriften berufen, er muss auch den Geist der Aufgabe erfassen und erfüllen. In diesem Sinn – schreibt er in seinem Aufsatz über «Wahrheit, Vernunft, Verantwortung» – erstreckt sich Verantwortung auch auf Haltungen und Einstellungen. Moralische Verantwortung könne nicht lediglich als ein Verantwortungstyp unter vielen verstanden werden. Ihr komme vielmehr der Stellenwert einer universalgültigen Metaverantwortung zu, die alle anderen Verantwortungsformen zugleich begrenze und begründe. «Denn in moralischer Perspektive suchen wir nach Antwort auf die Frage, wie wir überhaupt – unter Berücksichtigung aller bedingten Verpflichtungen – handeln sollen.»
Auch unser Verteidigungsminister Maurer (über dessen Karriere als notorischer Organisationsverschuldner wir den Mantel des Schweigens legen möchten) machte sich in der Vergangenheit einmal Gedanken zum Thema Verantwortung. Sie waren eher bodenständig, um nicht zu sagen schlichter Natur, wie das Herrn Maurers Naturell entspricht. Er suchte die Antworten vertrauensvoll dort, wo ein Mann seiner Provenienz Probleme der komplexen Art normalerweise ortet. Europa sei in einem «schlechten Zustand», weil dort «die Verantwortung nach oben» abgegeben werde, bis «am Schluss niemand mehr verantwortlich» sei. Das führe seiner Meinung nach dazu, dass politische Eliten zuweilen unverantwortlich handeln, weil sie keine Verantwortung übernehmen wollen für eine Politik, die sie nicht zu verantworten haben und die ihnen aufgenötigt wurde. Damit teilt Maurer implizit die Ansicht, dass die Instanz, vor der sich Politiker letztlich rechtfertigen müssen, das Volk oder deren gewählte Vertreter seien. Weil unklar sei, wer denn im Europa der Nationen wen vertrete, sei keine Instanz mehr da, von der Politiker zur Rechenschaft gezogen werden könnten. So drohe der Politik in Europa ein Verantwortungsdefizit.
Helmut Schmidt rückt das von Maurer und seiner Partei hartnäckig, unreflektiert und dogmatisch gehuldigte  Primat des Volkswillens mit der Gelassenheit des elderly statesman in das realistische Licht des Opportunismus: «Für Max Weber» – führte Schmidt an der zitierten Vorlesung weiter aus, «war neben Leidenschaft und Augenmass das Verantwortungsbewusstsein die dritte kennzeichnende Eigenschaft des Politiker. Für mich allerdings ist nicht das wählende Volk die letzte Instanz, der sich ein Politiker zu verantworten hat. Denn die Wähler … entscheiden oft nach Gefühl und Wellenschlag…. Für mich bleibt das eigene Gewissen die oberste Instanz.» Das Volk sei dafür viel zu launisch: «Wenn ein Politiker Erfolg hat, dann gibt man ihm recht und bestätigt sein Handeln. Im Falle eines Misserfolges zählen jedoch weder seine guten Absichten noch seine Anstrengungen.»


Das mag auf der ganzen Welt so sein, doch hierzulande brauchen sich Politiker für schiefgelaufene Übernahmen von Verantwortung keineswegs zu schämen. Im Gegenteil: Seit dem 9. Juli 1386 taugen auch bei tragisch-missratenem Kopfhinhalten die guten Absichten für eine nachträgliche Heroisierung.
Da soll ein Schweizer mehreren Ohrenzeugen zufolge angesichts der schieren Menge der unangenehm nahen österreichischen Speere gemault haben: «Was für än Löli schupft dahinä?», und erst als er sich der Ausweglosigkeit seiner Lage bewusst wurde, machte er das Beste aus der Situation und deklamierte seinen vielzitierten Satz: «Sorget für mein Weib und Kind.»
Ob das die Übernahme von Verantwortung für den weiteren Gang der Schweizer Geschichte war oder umgekehrt die Delegation derselben für das Durchfüttern seiner Familie an die überlebenden Mitkämpfer, ist eine andere Geschichte.                        


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Helmut Schmidt et al: Die Verantwortung des Politikers. München, 2008 ISBN 978-3-7705-4592-6
de.wikipedia.org/wiki/Arnold_Winkelried

27. November 2014
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