Kinder brauchen Freiraum

Es war wunderbar. Ich hatte das Glück, in einem 600-Seelen-Dorf gross zu werden. Abends spielte ich mit Freunden draussen, wir badeten im Dorfbrunnen und waren am Wochenende im Wald unterwegs. Über Feldwege lief ich zum Kindergarten, ass auf dem Heimweg meinen heiss geliebten Schnittlauch – zur Belustigung meiner Mutter, die meine Vorliebe nie ganz nachvollziehen konnte. Die Wiese roch abwechselnd frisch nach Gras oder stank nach Jauche, es spriessten wilde Blumen oder es lag Schnee darauf. Im Dorf lebten ein paar Bauern, die Milch holten wir mit dem Milchkesseli vom Milchladen. Der Duft frischer Milch war mir deshalb ebenso vertraut wie der Anblick von Pferden, Kühen und Hühnern.

Enteignung des öffentlichen Raums
Heute lebe ich in der Stadt, und weder sehe ich Kinder, die alleine am spielen sind, noch solche, die die Natur entdecken. Gemäss der Pädagogischen Hochschule Zürich dürfen in der Schweiz 25 bis 30 Prozent der bis Fünfjährigen die Wohnung nicht ohne Begleitung verlassen – zu viel Verkehr. Die Kinder verbringen immer mehr Zeit in Gebäuden. Zwischen drei und dreizehn sehen sie im Durchschnitt täglich hundert Minuten fern und lernen so die Welt nur aus zweiter Hand kennen. Es fehlt ihnen an Freiraum für Abenteuer und Entdeckungen. Fragt man Kinder heute, woher die Milch kommt, hört man immer wieder die Antwort: «Aus dem Supermarkt!».

Was zuerst ganz lustig anmutet, ist eigentlich ein Armutszeugnis unserer Gesellschaft. Vor lauter Angst um unsere Kinder bringen wir sie um wertvolle Erfahrungen und entfremden sie mehr und mehr der Natur. Der Raum wird generell knapper, der Verkehr nimmt immer mehr zu. Natürliche Spielräume werden durch Spielplätze ersetzt, wobei in den USA inzwischen Spielgerät wieder abmontiert wird – zu gross die Verletzungsgefahr, zu hoch die Versicherungsansprüche. Die Enteignung des öffentlichen Raumes wird scheinbar widerstandslos hingenommen, die Kinder werden von den Wegen und Plätzen verwiesen, die ihnen ebenso gehören wie den motorisierten Erwachsenen. Die Enteignung des öffentlichen Raumes wird scheinbar widerstandslos hingenommen, die Kinder werden von den Wegen und Plätzen verwiesen, die ihnen ebenso gehören wie den motorisierten Erwachsenen.

Auf Bäume klettern verboten
Sobald die Kinder in der Schule sind, verstärkt sich dieser Trend. Der natürliche Bewegungsdrang wird eingedämmt, die Schüler sind gezwungen, stundenlang auf ihren Stühlen zu sitzen statt sich frei bewegen zu können oder auch mal auf dem Boden zu basteln. Die Schule sollte Raum geben für Kreativität, für Erfahrungen und die natürliche Lern- und Entdeckungslust fördern. Stattdessen kommen viele Kinder unter Leistungsdruck, haben Angst, ausgelacht zu werden und verlieren Freude und Selbstbewusstsein. Kein Wunder, wird da für viele die Schule zum Frust. Und wenn dann endlich Zeit zum Spielen wäre, warten Eltern draussen in ihren Autos, um die Schützlinge zum Sport oder Musik-Unterricht zu fahren. Freizeit? Wozu?

1971 durften zwei Drittel der englischen Kinder ab sieben Jahren mit einem Fahrrad dieses auch auf der Strasse benutzen. Gut 20 Jahre später erlaubten Eltern dies nur noch einem Viertel. Eine deutsche Studie zeigt auf: Noch 1990 bewegten sich fast drei Viertel der Sechs- bis Dreizehnjährigen täglich im Freien – 2003 waren es weniger als die Hälfte. In Grossbritannien gaben von 1000 Befragten mehr als 50 Prozent der Sieben- bis Zwölfjährigen an, es sei ihnen verboten, ohne Aufsicht auf einen Baum zu klettern oder im Park um die Ecke zu spielen.

Natur spendet Lebenslust
Haben wir denn alle unsere schönen Kindheitsmomente vergessen? Als wir uns frei bewegen konnten und erst der Einbruch der Dunkelheit das Zeichen gab, dass es Zeit war, nach Hause zu gehen? Natürlich haben wir heute mehr Verkehr, mehr Menschen, weniger Raum. Aber für die Entwicklung der Kinder ist es wichtig, dass sie mit all ihren Sinnen Erfahrungen sammeln. Das zeigt sich schon ganz früh. Hat zum Beispiel ein Säugling die Wahl zwischen einem echten Kaninchen und einer Holzfigur, schaut er länger und häufiger auf das echte Tier.

Kinder suchen und brauchen Freiräume, müssen Fehler machen können, um daraus zu lernen. Verweigere ich einem Kind das Sammeln eigener Erfahrungen, wird ihm Selbsteinschätzung Mühe bereiten. Auch wenn es für Eltern schwer zu akzeptieren ist: Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren (Benjamin Franklin).


Entdeckungsräume schaffen: Fachstelle SpielRaum in Bern
Kinder lernen spielend. Dafür brauchen sie Raum. Der Verein «SpielRaum» setzt sich seit 1992 für kindergerechten Spiel- und Lebensraum im Kanton Bern ein. Er betreibt die Fachstelle SpielRaum, die aus der Spiel- bus-Bewegung der 80er Jahre entstand und heute für öffentliche und private Institutionen arbeitet. Ziel ist die Entstehung lebendiger Räume: Strassen, Zwischenräume und Wohnhöfe, Schulhausplätze und Gemeindezentren werden zu Spiel- und Begegnungsräumen. Vorreiter der Fachstelle war der «Berner SpielBus», der Kinderspielplätze und Pausenplätze in kindergerechte Abenteuer- und Erlebniswelten verwandelte. Der Spielbus ist auch heute noch ein wichtiges Arbeits- und Impulsinstrument der Fachstelle. Daneben bietet sie Unterstützung bei der Entwicklung kindergerechter Aussenraumgestaltung, koordiniert den Aufbau von Kinderprojekten und verfügt über Angebote im Bildungsbereich.

Vielfältige Bewegung, Kreativität bzw. Veränderbarkeit (z.B. das Laub im Herbst einige Wochen liegen zu lassen oder einen Steinhaufen zu bauen statt unzähliger Spielgeräte) sowie Rückzugsmöglichkeit wie Nischen und Ecken seien die wichtigsten Kriterien für die Spielbedürfnisse von Kindern, sagt Anne Wegmüller, Mitarbeiterin der Fachstelle. «Am besten fragt man sich selbst, wo man als Kind gerne gespielt hat. In der Regel sind es nicht monotone Norm- Spielplätze, sondern irgendwelche Zwischenräume, die Raum für Entdeckungen bieten.»    

Fachstelle SpielRaum, Bern, Tel. 031 382 05 95, www.spielraum.ch


Weitere scharfsinnige Aufsätze und Anregungen, in der Vergangenheit, auf dem Dachboden und in der Welt draussen aufzuräumen, finden Sie im neusten Zeitpunkt 119 «freiräumen!»
03. Mai 2012
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