«Glücklich wie die Sonne»

Die Ferne wird es richten, dachte sie mit Überzeugung an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Nach drei Jahrzehnten des Ferngehens zieht sie Bilanz und findet zurück nach Hause.

Mit neun Jahren fuhren wir mit unserem Mitsubishi Kombi quer durch die Sahara. An der Grenze hielt mich der algerische Zöllner fest und wollte mich meinem Vater abkaufen. Man könnte meinen, der Vorfall hätte meine Globetrotter-Gene ausgelöscht, im Gegenteil. Meine Sehnsucht nach dem Anderen wuchs. Fern bedeutete, dass sich meine Eltern weniger stritten, dass wir als Familie Zeit miteinander verbrachten und Abenteuer erlebten. Das Programm sass: Fern war gut, nah war schwierig.

Mit 22 war ich startbereit. Ich packte meinen Rucksack und reiste planlos nach Thailand. Die Reise hatte ihre Tücken – es ist eine Illusion zu glauben, unsere Probleme blieben zuhause –, doch für mich stand fest, dass es kein Zurück mehr gab. Die Ferne bot mir die Fluchtmöglichkeit, nach der ich so lange gesucht hatte. In der Flucht liegt Weisheit, hatte ich einmal gelesen, gleichzeitig wurde ich gewarnt. Verlassen wir bei einem Konflikt den Raum, müssen wir irgendwann unweigerlich die Türe zurück wieder öffnen. Die Ferne versprach mir Luft, die Enge zu sprengen, Perspektive, um alles anders zu sehen und Energie, um die Nähe neu zu begreifen.

Ich war 25, als ich in Indien meinen britischen Mann kennenlernte. Als er mir nach wenigen Stunden einen Heiratsantrag machte, sagte mein Verstand Nein, mein Herz sprach ein klares Ja. Bereut habe ich es nie. Nach weiteren sechs Monaten in Asien liessen wir uns in England nieder. Doch die Ferne rief wieder. 1998 landeten wir in Delhi. Wir hatten weder einen Plan noch viel Ahnung. Zwei Jahre später, hochschwanger, machten wir die Schweiz zu unserer Heimat. Im Hinterkopf formte sich bereits die nächste Reise. Wollen nicht alle Eltern ihren Kindern das zeigen, was sie am liebsten tun?

Mit unseren zwei Jungs, reiseerprobt, landeten wir 2005 in Istanbul. In der Schweiz hatten wir die Zelte abgebrochen, alles gekündigt, verschenkt, verlassen. Glücklich mit der Nähe und mit Vorfreude auf die Ferne. Die Tage nahmen wir, wie sie kamen und entschieden spontan, in welche Richtung wir weiterzogen. Als nach einem Jahr das Geld ausging, nahm ich eine Stelle als Englischlehrerin in China an. Kurz darauf zahlte ein Reisemagazin eine schöne Summe für meine Berichte und schon war ein weiteres Jahr finanziert. Auf dem Karakoram Highway gelangten wir nach Pakistan. Einmal mehr wurden wir mit offenen Armen, positiver Neugier und Hilfsbereitschaft empfangen. Als unser Jüngster verkündete, so glücklich wie die Sonne zu sein, platzte ich fast vor Liebe. Die Ferne sah anders aus als in den Medien. Sie war roh, authentisch, lebendig und randvoll gefüllt mit lieben Gesten und Menschen mit breitem Lächeln. Wer den Schritt vor die Haustüre wagt, wird belohnt.

Früher war meine Wahrnehmung um mich zentriert gewesen. Je ferner ich reiste, je näher ich mir selber kam, desto vielschichtiger wurde meine Umwelt. Die Ferne veränderte mich auf eine Art, die die Nähe niemals fertig gebracht hätte. Sie beschenkte mich mit Empathie, Optimismus und Vertrauen.
Nach wenigen Monaten in der Schweiz erhielten wir das Angebot, im ländlichen China ein Hotel zu leiten. Die Entscheidung zu gehen, brauchte keine zwei Sekunden. Meine tolle Familie war gleich Feuer und Flamme. Trotz einer starken Zufriedenheit schlummerte die Sehnsucht nach der Ferne weiter.

Zweieinhalb Jahre führten wir das Hotel, unsere Kinder unterrichtete ich selbst. Es war eine der intensivsten, jedoch schwierigsten Zeiten unserer Leben. Die Ferne und die Nähe vermischten sich schleichend, tauschten ihre Plätze und irgendwann fragten wir uns, wo wir nun fremd und wo dazugehörig waren.

Aufgewühlt kauften wir einen alten Camper in den USA und suchten Ruhe in der Einsamkeit der Weite. Als ich in Mexiko eine Grauwalmutter streichelte, lösten sich meine letzten Zweifel. Alles war gut. Die Zeit zur Heimreise war gekommen. War die Welt rund, damit wir unweigerlich irgendwann wieder zuhause ankamen?
Das Ferngehen beschränkt sich heute auf die Schulferien, unsere Kinder sind bald erwachsen. Es kommt sogar vor, dass ich Heimweh verspüre. Die Ferne hat mich die Nähe schätzen gelernt. Die zu meiner Heimat und die zu mir selbst.

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Nadine Hudson ist 45 Jahre alt und Mutter von zwei bald erwachsenen Söhnen. Sie wohnt mit ihrer Familie in Steinen/SZ, arbeitet als Autorin, Bloggerin und Webpublisherin und absolviert eine Ausbildung zur Primarlehrerin. Ihre Geschichten und Texte sind zu finden auf www.gfreut.ch.

Nadine Hudson tritt am nächsten Zeitpunkt-Apéro vom 18. August in Solothurn auf (www.zeitpunkt.ch/apero)



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