Alles wird gut

Der Wind und die Liebe

Umair Haque erreichte früh den Zenith. Er hatte in Harvard Ökonomie studiert, schrieb eine Reihe von erfolgreichen Büchern, darunter das «New Capitalist Manifesto» und bereiste die Welt als hochbezahlter Berater der disruptiven Wirtschaft. Das sind die hungrigen und blitzgescheiten Leute, denen nichts heilig ist, um zu gewinnen. Mit 35 Jahren, auf dem Höhepunkt seines Erfolgs, überfielen ihn plötzlich so schreckliche Schmerzen, dass er nur noch Kinderbrei essen konnte. Nach einem Monat ging er zum Arzt. Diagnose: Krebs im finalen Stadium, Lebenserwartung: ein Monat. Ein zweiter Arzt bestätigte die Diagnose. Als er nach einem Monat immer noch lebte, erhielt er von den Ärzten noch einmal ein paar letzte Wochen. Und so ging das tatsächlich einige Jahre lang. Immer wieder erhielt er ein letztes Stück Leben geschenkt – ständig neue letzte Tage, eine psychische Tortur  Weil er nicht mehr arbeiten konnte, hatte er reichlich Zeit, über sein Leben nachzudenken und zum ersten Mal war er ruhig, friedlich und glücklich. Die Last der Zukunft, der Karriere und des Erfolgs war verschwunden – reine Gegenwart. Und wie es so geht, wenn man glücklich und offen ist, verliebte er sich. Die Frau erkannte auch die Quelle seines Leidens: Sonnenlicht. Haque litt tatsächlich an einer sehr seltenen Krankheit, bei der das Sonnenlicht Veränderungen im Blut auslöst.

Seit einigen Monaten arbeitet er nun wieder als Coach und Berater für die «grossen Künste des Lebens», die man nicht in der Schule lernt: Kreativität, Bescheidenheit, Leidenschaft, Rebellion, Dankbarkeit, Schönheit, Wahrheit, Sinn, Empathie, Liebe. Auf seinem Blog veröffentlicht er wunderbare Texte, wie «Den Wind sehen», der so beginnt:

«Den Wind kannst du nicht sehen. Du kannst das Blatt sehen, wie es im Wind wiegt, die kräuselnden Wellen auf dem Wasser. Du kannst alles versuchen, den Wind kannst du nicht sehen. Und trotzdem ist er überall.
So ist es auch mit der Liebe. Du kannst alles versuchen, du wirst sie nicht sehen. Es gibt nichts zu sehen. Und trotzdem ist sie in allem.
Sie ist auf dem Gesicht eines Neugeborenen, zwischen den Händen eines Paares, am Bett eines alten Menschen. Wo ist sie nicht?
Das ist ist nicht unsere Art, zu sehen. Wir suchen nach Liebe. Aber wir betrachten sie nicht. Und das ist einer unserer grössten Fehler.
Verzweifelt suchen wir nach Liebe, Leidenschaft und Wärme – in Dingen, Leuten, Karrieren, Gesichtern und Orten. Wir wollen sie, begehren sie, sind hungrig nach ihr. Dann fragen wir uns: Wo gibt es Liebe in dieser grossen Welt? Dabei schauen wir gar nicht richtig. Wir versuchen, den Wind zu sehen.
Was geschieht, wenn wir erfolglos den Wind zu sehen versuchen, wenn wir nach Liebe suchen, anstatt sie zu betrachten? Ärger entsteht, Angst, Scham und Schuld. Vielleicht können wir den Wind nicht sehen, weil wir nicht gut genug sind, schlau oder intelligent genug, schön genug. Vielleicht sind wir blind oder irgendetwas stimmt nicht mit uns.
Aber alles ist in Ordnung. Wir versuchen einfach, den Wind zu sehen. Hör einfach auf. Dies ist die Wurzel des Leidens. Wir versuchen unentwegt, dieses Ding genannt Liebe zu sehen, um sie zu fangen, zu halten, abzufüllen und für uns zu behalten. Aber wir können nur ihr Kräuseln sehen, ihre Wellen und Wirkungen. Sie ist mächtiger als wir, und genau das will es uns lehren. Hör einfach auf mit dem Versuch, den Wind zu sehen. Suche nicht nach Liebe. Betrachte sie. Lass los. Und Ärger, Angst, Schuld und Scham werden gehen. Dann bist du frei, oder nicht?»

Die Fortsetzung und andere schöne Geschichten sind zu finden auf Umair Haques Website https://umairhaque.com
20. Oktober 2016
von:

Über

Christoph Pfluger

Submitted by admin on Do, 07/13/2017 - 08:33

Christoph Pfluger ist seit 1992 der Herausgeber des Zeitpunkt. "Als Herausgeber einer Zeitschrift, deren Abobeitrag von den Leserinnen und Lesern frei bestimmt wird, erfahre ich täglich die Kraft der Selbstbestimmung. Und als Journalist, der visionären Projekten und mutigen Menschen nachspürt weiss ich: Es gibt viel mehr positive Kräfte im Land als uns die Massenmedien glauben lassen".

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