Entrümpelt Euch!

Aufräumen in den eigenen vier Wänden soll angeblich auch der Seele guttun, das Innere des Menschen neu ordnen. Was braucht man wirklich, was ist unnötiger Luxus oder Ballast? Ist weniger wirklich mehr? Einen Selbstversuch

Pierre Joseph Proudhon schrieb einmal: «Eigentum ist Diebstahl!» Sollte der französische Ökonom aus dem 19. Jahrhundert (er wird übrigens am Ende des Artikels noch einmal auftauchen) tatsächlich recht haben, dann sind wir ausgemachte Gauner. Natürlich nicht die Menschen aus Burundi oder Togo, sondern Leute wie Sie und ich. Die wir daheim 10 000 Sachen liegen haben, im Minimum. Die wir uns seit Kindsbeinen fast alles leisten können und den Platz haben, all die Habe bis unter die Decke anzuhäufen (in der Schweiz sind das durchschnittlich 50 m2 pro Kopf, das ist rekordverdächtig). Und die wir uns unerhört darüber freuen, dass wir wer sind, weil wir was haben. Bis uns der ganze Plunder auf den Kopf fällt. Und wir uns – wer das nicht kennt, hebe jetzt die Hand – nichts dringlicher wünschen, als von diesem Ballast befreit zu werden. Um wieder richtig durchzuatmen. Und tief zu schlafen. Dann warten wir aufs neue Jahr und nehmen uns einmal mehr vor, endlich aufzuräumen. Nur, wo anfangen? Und wie?


Ich hole mir Rat von Karin Schrag, Aufräumexpertin, eine von etwa einem Dutzend in der Schweiz. Das sind im Vergleich zu anderen Ländern noch wenige. «Wir Schweizer halten uns ja von Natur aus für besonders ordentlich», sagt Schrag. «Hilfe beim Aufräumen, meinen wir, haben wir nicht nötig. Auch sind wir eher verschlossen, was Eigentum angeht.» Und doch holen sich immer mehr Menschen – zu 90 Prozent Frauen – Karin Schrag in die Wohnung. Erfahrungsgemäss zeigt sich die Unordnung erst, wenn man Schränke und Schubladen öffnet oder unters Bett schaut. Dann wird als erstes komplett ausgeräumt und alles auf einen Haufen gelegt. Anschliessend nehme man jeden Gegenstand einzeln in die Hand und frage sich: «Liebe ich dieses Ding?», und: «Brauche ich dieses Ding?». Ist die Antwort zweimal ein beherztes «Ja» (wie etwa bei meinem Canon Objektiv 24mm/f1.4), dann darf es bei mir bleiben. Lautet sie aber zweimal «Nein» (wie bei meiner pinkfarbenen elektrischen Zahnbürste, Modell Philips), sollte man sich im Minimum fragen, welche Daseinsberechtigung dieses Teil in den eigenen vier Wänden noch hat. Schwieriger wird es bei Sachen, die einem zwar gefallen, aber völlig nutzlos sind; so besitze ich einen alten Serviettenbehälter mit der Aufschrift «Have a Coke» (wie ich ihn liebe!), aber eben. Oder wenn man ein Ding zwar dringend braucht, es aber überhaupt nicht mag – den Staubsauger zum Beispiel. Dann rät die Aufräumexpertin, ich solle dem Serviettenbehälter doch eine neue Aufgabe zuweisen und den Staubsauger durch einen ersetzen, der mich glücklich macht.


Allein mit diesem Prozedere lassen sich offenbar bis zwei Drittel der Sachen entrümpeln (angeblich tragen wir im Schnitt nur zwei von zehn Kleidungsstücken regelmässig, die restlichen acht verstopfen bloss den Schrank). Was zurückbleibt, das ist mir heilig, und wird wieder eingeräumt. Dabei, so Karin Schrag, gelten zwei eiserne Regeln, die erste: «Gib jedem Ding ein Zuhause!», will heissen: bestimme einen Ort, wo es hinkommt, und bringe es regelmässig dorthin zurück. Und zweitens: «Geselle Gleiches zu Gleichem!», also: verstaue alle Bücher an einem einzigen Ort und nicht manche im Büro und andere auf der Toilette. Am Ende – so die Prophezeiung der Aufräumprofis – werde ich nur noch Dinge um mich haben, die mir positive Energien bescheren und also Glück und Erfüllung verheissen.


Marie Kondo, die Japanerin, die schon als Kind lieber aufgeräumt als herumgetollt hat und jetzt Bücher in Millionenauflage schreibt über das zauberische Aufräumen, «magic cleaning», diese Frau Kondo redet ebenfalls vom glückseligen Gefühl beim Entrümpeln – und noch von viel mehr. Für sie ist unser Durcheinander daheim bloss das Abbild eines grossen Tohuwabohu in unserer Seele. So schlicht diese Gleichung, so simpel der Umkehrschluss: Wer die Hütte ausmistet, räumt sein Inneres auf. Und gewinnt, sagt Kondo, an Selbstbewusstsein, fasst Vertrauen in die eigene Zukunft, lernt Hindernisse zu überwinden, unvorstellbare Dinge zu erfahren, sich selber anzunehmen und zu lieben. Kein Wunder, verspricht sie ihren Lesern: «Das wahre Leben beginnt nach dem Aufräumen.» Zuvor aber, so Kondo, müssen wir unsere Beziehung zu den Dingen neu aufbauen, wir sollen sie auf unser Herz legen oder daran schnuppern und sie – wie früher als Kinder – regelrecht beseelen, mit ihnen reden, sie begrüssen (Kondo zum Haus: «Hallo, ich bin wieder da!») und uns bei ihnen bedanken (Kondo zu ihrem T-Shirt: «Danke, dass du mir gezeigt hast, welche Kleidung mir steht und welche nicht»).


Dass manche mit diesem gerüttelt Mass an esoterischem Geschwurbel ihre Mühe haben, kann Karin Schrag verstehen. Sie für ihren Teil nimmt es pragmatisch, wichtig sei, auf die Wünsche der Kunden einzugehen. Aber auch sie ist überzeugt: «Zuhause aufräumen ist die einfachste und effizienteste Therapie, um Altes, Belastendes loszulassen.» Wissenschaftliche Belege gibt es dafür zwar nicht, Schrag redet aber aus Erfahrung und fordert zum Selbstversuch auf: «Entrümpeln Sie Ihre Wohnung, und Sie werden sehen: wie aussen, so innen, und wie innen, so aussen.»


Rosmarie Wyer, 52, hat es bereits vor vielen Jahren getan, und sie tut es wieder und wieder: «Wann immer ich im Leben nicht weiterwusste, unsicher war oder eine Veränderung brauchte, habe ich meine Wohnung gründlich aufgeräumt. Oder gar einen Container vors Haus gestellt. Und immer war das Gefühl danach ein befreiendes.» Für sie ist das Entrümpeln ein andauernder Prozess, bei dem es darum geht, sich der emotionalen Bindung  bewusst zu werden, die wir zu den Dingen haben. Wie viele, die das magische Aufräumen zelebrieren, sieht sich Wyer als Minimalistin, sie lebt nach dem Prinzip des «Weniger ist mehr». Was nicht heisst, dass alle Minimalisten dem Konsum gegenüber kritisch eingestellt sind oder ihm sogar entsagen (vom italienischen Modedesigner Gianni Versace stammt angeblich der Spruch: «Weniger ist nicht mehr. Weniger ist immer weniger!»). Was man nach dem Aufräumen noch besitzt oder sich neu anschafft, darf durchaus erlesen und kostbar sein. Wie viele Gegenstände am Ende übrigbleiben, hänge von vielerlei ab, sagt Wyer, doch gebe es Grenzen. «Wenn es darum geht, dich nur noch mit Dingen zu umgeben, die dir viel bedeuten, dann heisst das auch: du brauchst Zeit, Energie, vielleicht auch Geld, um sie zu pflegen. Und das kannst du nicht, wenn es beliebig viele Dinge sind.» Entrümpeln, das bedeutet für Rosmarie Wyer immer auch: Reduzieren und aufs Wesentliche fokussieren.
Für Karin Schrag ist dieses Bedürfnis geradezu natürlich in einer Welt, die immer mehr aus den Fugen gerät. Die Aufräumberaterin sieht darin denn auch den entscheidenden Grund für diesen neuen Trend. «Je chaotischer die Welt, umso grösser unsere Sehnsucht nach Ordnung.» Aufräumen soll dabei Sicherheit schaffen, es glättet die Wogen, es richtet die Dinge – und sei es bloss in den eigenen vier Wänden.


Nur eben, das Leben ist kein Schrank, und Beziehungen, soziale Konflikte oder der Klimawandel sind keine Büstenhalter, Socken und Wintermäntel, die man auf einen Haufen legt und dann nach Belieben entsorgen oder behalten oder ersetzen kann. Nein, dieses Leben ist heftig, gemein, wacklig und widerspenstig, es ist unberechenbar, masslos, schlampig, kunterbunt, bedrohlich und nebulös, es ist anmutig, unnachgiebig, rau, betörend und voller Schrecken und Schauder, und schweisstreibend ist es und sprunghaft, toll, verführerisch und ranzig. Kurz und gut: zu unserem Leben gehört das Chaos! Der Glaube, dieses wundersame, unergründliche Wirrwarr lasse sich mit einem halben Dutzend Aufräumregeln ordnen, wäre wohl zu verwegen. Und würde dem Leben seine Würze nehmen, es leer machen, dumpf, schal und – viel zu «clean». Aber muss das denn wirklich sein? Kann ein aufgeräumter Mensch nur in geordneten Verhältnissen leben? Vielleicht sind es ja gerade die Entrümpelten, die in sich Ruhenden unter uns, die am besten in dieses wilde, ungewisse, unverfügbare Leben passen. Weiss Gott.
Pierre Joseph Proudhon übrigens war einer der ersten Anarchisten. Denen haftet ja bekanntlich das Image der ewigen Chaoten an. Was die wenigsten wissen: dieser Kreis um das grosse A im anarchistischen Symbol ist eigentlich ein O und steht für: Ordnung. Sagt man jedenfalls.


Fünf Regeln des Entrümpelns:

1. Gib jedem Ding ein Zuhause.
2. Lege Gleiches zu Gleichem.
3. Behalte nur Dinge, die dich glücklich 
     achen und die du brauchen kannst.
4. Beginne bei Dingen, die zu entrüm-
  peln dir leichtfallen.
5. Je radikaler du entrümpelst, desto 
 achhaltiger die Ordnung.

Mehr Tipps und Tricks von Karin Schrag: www.freiraeumen.ch.
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06. April 2017
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