Bildung heisst: sich zur Wehr setzen

Kein europäischer Staat geht so hart gegen Homeschooling vor wie Deutschland. Erst vor kurzem hat ein Gericht in Hessen eine Familie zu Geldstrafen verurteilt, die ihre Kinder zu Hause unterrichten, weil sie die öffentliche Schule für «eine zweifelhafte Umgebung» halten. Die Staatsanwaltschaft hatte für die religiös motivierten «Täter» Gefängnisstrafen beantragt. Die Eltern wollen weitermachen. In ganz Deutschland gibt es schätzungsweise rund 500 Kinder, die ausserhalb der Schule lernen, Tendenz sinkend. Die harte Haltung des Staates und das «Reichsschulpflichtgesetz» von 1938, das Strafen bis zum Entzug des Sorgerechts und zur Einweisung der Kinder in ein Heim vorsieht, haben die Eltern mürbe gemacht.

Ende der 80er Jahre gab es allein in Bayern rund 4000 Fälle von Schulverweigerung. Aus dieser Zeit stammt auch der bisher einzige Freispruch überhaupt. Die bemerkenswerte Geschichte von Tilmann Holsten und seinen Eltern ist jetzt in einer Neubearbeitung erschienen, zwanzig Jahre nach der ersten Veröffentlichung. Der sensible Tilmann, zweites Kind eines Musikerpaars litt in der 3. Klasse einer bayrischen Dorfschule derart unter dem rauhen Klima auf und neben dem Schulhof, dass er unter zunehmenden Kopf- und Magenschmerzen litt und schliesslich die Schule verweigerte. Die Eltern schickten ihn in eine Lerngruppe und nahmen den Kampf mit der Schulbürokratie und den Behörden auf. Den Eltern wurde u.a. beschieden, es sei wichtig, dass Tilmann lerne, «Ungerechtigkeiten zu ertragen». Das muss man zwei Mal lesen, um die Tragweite zu verstehen: Da erzwingt der Staat die Schulpflicht – offenbar als unabdingbare Grundausbildung zum Staatsbürger –, damit das Kind lernt, die kleinen Ungerechtigkeiten zu ertragen, um sich dann später gegen die grossen Ungerechtigkeiten nicht zu wehren.

Was das Kind lernt, wenn es nicht zur Schule geht, das war den bayrischen Behörden im Fall Tilmann egal – so steht es jedenfalls gut begründet in dem Buch. Es war auch dem hessischen Gericht bei seinem kürzlichen Entscheid egal. «Der Erfolg der Eltern sei angesichts der Leistungen der älteren Kinder zwar unzweifelhaft», zitiert das Nachrichtenmagazin «Spiegel» das Gericht. «Es sei allerdings fraglich, ob die Kinder bei ihren guten Noten nicht auch Abitur hätten machen können.» Wie bitte? Ein Bussgeld, weil die Kinder nicht aufs Gymnasium gingen?

Während sich Tilmans Eltern zunächst wenig erfolgreich mit den Schulbehörden stritten und Geldstrafen ins Haus flatterten, kam Tilmann in einer Lerngruppe wieder zu Kräften und schaffte schliesslich die Aufnahmeprüfung ans Gymnasium. Auf die Bussen (die nicht bezahlt wurden), folgten die zwangsweise Zuführung zur Schule (die misslang), die gerichtliche Verhandlung über das Sorgerecht (die gewonnen wurde) und als Krönung der Freispruch von den Bussgeldern. Die Lehrerin hatte vor Gericht gelogen und der Bericht der beauftragten Ärztin war offensichtlich ein Gefälligkeitsgutachten. Zudem besuchte Tilmann in der Zwischenzeit ja wieder eine ordentliche Schule. Der Karriere des Richters soll das Urteil allerdings nicht zuträglich gewesen sein, schreibt Johannes Heimrath, der Autor von «Tilmann geht nicht zur Schule». Dieser ist nach herkömmlichen Kriterien etwas befangen. Nicht nur war er der Partner von Tilmanns Mutter, sondern auch der Freund von Tilmanns Vater, der mit der Patchwork-Familie im selben Haus wohnte. Er vertrat ihn sogar vor Gericht als Verteidiger.


Das Buch über zivilen Ungehorsam und für Bildungsfreiheit will Mut machen, und der ist dringend nötig. Die letzten Kämpfer für Homeschooling in Deutschland stammen vor allem aus religiösen Kreisen. Das ist der Sache nicht dienlich. Denn Bildung hat weniger mit Gott zu tun als vielmehr mit der Begeisterung der Kinder, die nur in einer freiheitlichen Atmosphäre entstehen kann. Oder wie es Peter Paulig, emeritierte Professor für Schulpädagogik im Dokumentarfilm «Der Schüler Tilmann» (als Beigabe zum Buch) formuliert: «Kinder sind keine Fässer, die gefüllt, sondern Feuer, die entzündet werden wollen.»


Johannes Heimrath: Tilmann geht nicht zur Schule – eine erfolgreiche Schulverweigerung. Überarbeitete Neuauflage von 1993. Drachen-Verlag, 2013. 200 S. Mit DVD mit dem Dokumentarfilm «Der Schüler Tilmann« von Claus Striegel und Bertram Verhaag. Fr. 59.–/€ 38.–

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http://www.drachenverlag.de/buch/Tilmann_geht_nicht_zur_Schule.html
22. August 2013
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