Die Menschenrechtsideologie

Wir, die wir uns als “der Westen” verstehen, halten uns gern für die Zivilisiertheit schlechthin und werfen anderen Völkern und Kulturen gerne vor, rückständig oder barbarisch zu sein. Deswegen führen wir Kieg: für Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – und die Verwirklichung der Menschenrechte allüberall. Doch was meint das eigentlich: Menschenrechte? Woher kommen und wie entstanden Sie? Dazu sprach Jens Wernicke mit Rainer Roth, der aufdeckt, dass selbst die Sklaverei im Namen der Menschenrechte von Liberalismus und Aufklärung verteidigt wurde und deren Realisierung noch nie bedeutete, wirklich alle Menschen würden frei und gleich und brüderlich.

Herr Roth, wir verdanken Ihnen neben dem Buch „Nebensache Mensch“, in dem Sie die Ursachen der Arbeitslosigkeit und die gängigen Lösungsvorschläge analysieren, unter anderem zahlreiche Ausarbeitungen zu sozialen und ökonomischen Fragen. Und bis 2008 auch den „Leitfaden Arbeitslosengeld II/Sozialhilfe von A-Z“. Soeben erschien nun Ihr neues Buch „Sklaverei als Menschenrecht“. Wieso ein solches Buch? Die Sklaverei ist von den führenden Ländern der bürgerlichen Revolution doch abgeschafft worden.
Richtig. Die liberalen und aufgeklärten Revolutionäre dieser Länder kämpften gegen die Feudalaristokratie jedoch nicht mit dem Ziel der Abschaffung der Sklaverei, sondern mit dem Ziel ihrer Ausweitung. Das wird heute weitgehend vertuscht. England wurde nach dem Sieg der bürgerlichen Revolution im Jahre 1649 die bedeutendste Sklavenhalter- und -händlernation des 18. Jahrhunderts, die USA nach dem Sieg ihrer Revolution im Jahre 1783 die mächtigste Sklavenhalternation des 19. Jahrhunderts. England betrieb nach 1649 noch etwa 200 Jahre Sklavenhaltung, die USA nach 1783 noch mehr als achtzig Jahre. Und auch die französischen Revolutionäre dachten 1789 nicht im Traum an die Abschaffung der Sklaverei. Sie weiteten sie bis 1791 sogar aus. Erst der Sklavenaufstand in Saint-Domingue, der damals reichsten Zuckerkolonie der Welt, stoppte ab August 1791 diese Entwicklung, nicht die „Menschlichkeit“ der Bourgeoisie.
Auch Robespierre und die Jakobiner allgemein waren Befürworter der Sklaverei. Erst durch den Versuch Englands, von 1793 bis 1798 Saint-Domingue zu annektieren, sahen sie sich gezwungen, die Sklaverei abzuschaffen. Nur dadurch konnte Frankreich zusammen mit den Truppen der befreiten Sklaven England schlagen und Saint-Domingue als französische Kolonie erhalten. Doch nach dem Sturz der Jakobiner im Juli 1794 kam die Französische Revolution zu ihren Ursprüngen zurück und führte unter Napoleon die Schreckensherrschaft der Sklaverei wieder ein. In Saint-Domingue, dem späteren Haiti, gelang das allerdings dank des bewaffneten Widerstands der ehemaligen Sklaven nicht. Diese fehlgeschlagene Wiedereinführung der Sklaverei kostete 50.000 französischen Soldaten und weit über 100.000 Schwarzen das Leben.

Entschuldigen Sie bitte, aber Menschenrechte und Sklaverei – das schließt sich doch fundamental aus. Das eine geht mit dem anderen doch unmöglich überein. „Wir“, der zivilisierte Westen, stehen doch für Humanismus, Aufklärung, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit!
Dass Sklaverei ein Verstoß gegen die Menschenrechte war, unter deren Ideologie die bürgerliche Revolution antrat, ist eine massive Verfälschung der Tatsachen. Die Menschenrechte beruhen von Beginn an auf , in denen die Versklavung von Menschen und Sklavenarbeit Geschäftsinteressen waren und teilweise bis heute noch sind.
Diese Verhältnisse waren Grundlage des Rechts, nicht umgekehrt das Recht Grundlage der Wirtschaft. Wir sollten uns von juristischen Illusionen verabschieden: Sklaverei war aufgrund des bedeutenden Umfangs der barbarischen Sklavenwirtschaft untrennbarer Bestandteil der Verwirklichung der bürgerlichen Menschenrechte, ein Betätigungsfeld unternehmerischer Freiheit.
Deshalb stimmten die zahlreich in der französischen Nationalversammlung vertretenen Profiteure der Sklavenwirtschaft im Jahr 1789 auch für die Menschenrechtserklärung, denn diese garantierte ihnen als „geheiligtes“ Recht vor allem das Recht auf Eigentum. Damit waren auch das Recht auf Eigentum an Sklaven und die Freiheit der Sklavenhalterei geheiligt. Bestrebungen zur Befreiung der Sklaven galten als verfassungsfeindlich und als Verstöße gegen die Menschenrechte.
Bis Anfang 1792 wurden die Grundlinien der französischen Kolonialpolitik durch die Lameths, bedeutende Sklavenhalter in Saint-Domingue, und ihren Sprecher Antoine Barnave festgelegt, die bis Juli 1791 Jakobiner gewesen waren. Die Französische Revolution stand bis Mitte 1793 unter der Führung der Handelsbourgeoisie, die vor der Revolution vor allem durch Sklavenhandel, Sklavenplantagen und Kolonialhandel unermesslich reich geworden war und den feudalen Grundherren deshalb den Rang abgelaufen hatte.
Sklaven galten nicht als Menschen, sondern als Sachen. Nicht zuletzt die Bereicherung durch die Sklaverei machte die Bourgeoisie ökonomisch und politisch so stark, dass sie fähig wurde, die politische Macht schließlich auf revolutionäre Weise zu erobern. Ihre Ideologen, die Aufklärer wie Rousseau, Montesquieu, Voltaire, Diderot usw. waren ohne Ausnahme Befürworter der Sklaverei und konnten sich, wie Condercet, deren Befreiung allenfalls nach einem jahrzehntelangen Prozess der Zivilisierung durch die Sklavenhalter vorstellen. Dass Menschen als Gleiche geboren seien, richtete sich nur gegen die Behauptung der natürlichen Ungleichheit, mit der die Feudalaristokratie ihre Privilegien rechtfertigte.

Verstehe ich recht: Die Rede von „den Menschenrechten“, mit der heute noch jeder Krieg begründet wird, weil man angeblich „für diese kämpfen“ müsse – diese Denkfigur beinhaltet von Beginn an, dass es Menschen und Unmenschen, Herrscher und Beherrschte, ja, Berechtigte und Entrechtete gab und gibt? Das habe ich nicht gewusst.
Ja, darauf läuft es hinaus. Wie um alles in der Welt soll man etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, im Namen des „Krieges gegen den Terror“, für den man weit über eine Millionen Menschen tötet, etwas „für die Menschen“ tun? Um alle Menschen und deren wirkliche, reale, politische und soziale Freiheit ging es hier nie und geht es nach wie vor nicht. Es geht um die Freiheit, die ganze Welt privaten Profitinteressen zu unterwerfen.
Es ist daher höchste Zeit, sich insbesondere von der historischen Selbstbeweihräucherung und Verlogenheit der ehemaligen Sklavenhalternationen zu verabschieden, die sich als Verkörperung der Humanität darstellen, weil sie den Sklaven die Freiheit gebracht hätten. Die 1838 gewährte Freiheit der ehemaligen Sklaven Englands war nicht zuletzt Folge von zahlreichen Sklavenaufständen, vor allem in Jamaika. Sie war ferner Ergebnis der revolutionären Krise in England selbst, die aus dem Widerspruch zwischen dem politischen Monopol der Grundbesitzeraristokratie in England und dem Erstarken des Industriekapitalismus und der Arbeiterbewegung entsprang, die im Parlament nicht vertreten waren.
Erst als durch eine Änderung des Wahlrechts das parlamentarische Monopol der Grundbesitzer gebrochen war und Abgeordnete aus Manchester, Liverpool und anderen Industriezentren ins Parlament einziehen konnten, wurde die Sklaverei in den englischen Kolonien abgeschafft. Ihr Hauptprodukt Zucker war durch hohe Zölle vor dem Weltmarkt geschützt. Das hatte sich überholt, weil das Industriekapital nach Freihandel strebte und billigere Sklavenprodukte auf dem Weltmarkt beziehen wollte. Das englische Industriekapital strebte ferner nach der Erschließung des Weltmarkts und nach Kolonien in Afrika. Die Abschaffung der Sklaverei in den eigenen Kolonien war daher notwendig, um im Namen der Menschenrechte Kolonien in Afrika und anderswo zu erobern, und die Vorherrschaft auf dem Weltmarkt auszubauen. Der Kampf gegen Sklaverei und Sklavenhandel diente als Vorwand dazu. Der englische Industriekapitalismus war jedoch überhaupt kein grundsätzlicher Feind der alten Sklaverei. Die englische Textilindustrie beruhte vielmehr auf dem US-Sklavenprodukt Baumwolle. Deswegen unterstützte die englische Bourgeoisie im amerikanischen Bürgerkrieg auch unverdrossen die Sklavenhalter der Südstaaten.
Die Bourgeoisie trat und tritt nach wie vor im Namen des Menschen als solchem und im Namen des Volkes auf. Nicht mehr ein königlicher Despot, der sich nur Gott gegenüber verantwortlich fühlte, sondern der Mensch sollte und soll, so die Behauptung, im Mittelpunkt stehen. Nicht mehr allein die Person des Königs, sondern das Volk sollte souverän sein. Nicht mehr die Willkür eines Tyrannen, sondern von einem Parlament beschlossene Gesetze sollten die Richtschnur der Politik sein. Der revolutionäre Sturz der feudalen Despotie im Namen des Menschen und des Volkes war sehr wohl ein gewaltiger Fortschritt in der Menschheitsgeschichte. Doch mit Mensch war und ist nach wie vor nur der egoistische bürgerliche Mensch mit Besitz gemeint, nicht bedingungslos jeder Mensch. Denken Sie etwa an Brecht, der das wunderbar auf folgenden Punkt gebracht hat:
„Es gibt viele Arten zu töten. Man kann einem ein Messer in den Bauch stechen, einem das Brot entziehen, einen von einer Krankheit nicht heilen, einen in eine schlechte Wohnung stecken, einen durch Arbeit zu Tode schinden, einen zum Suizid treiben, einen in den Krieg führen usw. Nur weniges davon ist in unserem Staat verboten.“


Gut, ich vermag zu folgen. Aber historisch ist das heute doch wirklich nicht mehr wie einst. Sicher ist nicht jeder Mensch gleich „frei“ auf der Welt. Aber bürgerliche Herrschaft, eine Herrschaft der Besitzenden? Wie leben doch in einer Demokratie. Was genau hat also das Damals für Sie mit dem Heute zu tun?
Frankreich, die USA und Großbritannien, aber auch andere bürgerliche Länder sehen die geistige Grundlage ihrer Verfassungen weiterhin in den Menschenrechtserklärungen Frankreichs und der USA. Sie wollen vergessen machen, dass diese Grundlage auch das barbarische Menschenrecht auf direkte Sklaverei einschloss. Warum eigentlich? Vielleicht deshalb, weil heute die Nutzung der modernen indirekten Sklaverei der Lohnarbeit ebenfalls als Menschenrecht des Privateigentums gilt? Mit der bürgerlichen Revolution löste eine Minderheitenherrschaft die andere ab. Die Demokratie, die das Bürgertum erkämpfte, war im Kern nur Demokratie für eine Minderheit.
Die kapitalistische Sklavenwirtschaft verwandelte im Übrigen insbesondere die Karibik in ein Schlachthaus für Millionen Afrikaner. Das wird niemals der Vergessenheit anheimfallen.
Die Generalversammlung der Vereinten Nationen äußerte sich erst 2006 in einer Resolution „zutiefst betroffen“ darüber, dass die „internationale Gemeinschaft“ fast 200 Jahre gebraucht habe, um Sklaverei und Sklavenhandel, die zu den „schlimmsten Menschenrechtsverletzungen in der Geschichte der Menschheit gehören“ als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ einzustufen. Die Vereinten Nationen wollen bis heute nicht wahrhaben, dass Sklaverei ein bürgerliches Menschenrecht war und von Liberalismus und Aufklärung gerechtfertigt wurde.
Sklaverei wird als Verbrechen eingestuft, wer aber waren die Verbrecher? Napoleon, Washington, Jefferson, die britischen Monarchen usw. waren es. Wieso gibt es dann aber allerorts Denkmäler für sie? Bordeaux und Nantes benennen bis heute Straßen und Plätze nach Sklavenhändlern. Und die ehemaligen Sklavenhalterstaaten des Südens der USA strotzen von Denkmälern und Erinnerungen an die heroischen Kämpfer für die Ausdehnung der Sklaverei.
Und warum wird in Großbritannien und Frankreich bis heute daran festgehalten, dass ihre Sklavenhalter mit riesigen Summen für den Verlust ihres Sklaveneigentums entschädigt wurden, den Sklaven derlei aber nicht zusteht? Ganz einfach, weil die Entschädigung für Sklavenhalter der französischen Menschenrechtserklärung entsprach. In Artikel 17 heißt es: „Da das Eigentum ein unverletzliches und geheiligtes Recht ist, kann es niemandem genommen werden, es sei denn, dass die gesetzlich festgestellte öffentliche Notwendigkeit dies eindeutig erfordert und vorher eine gerechte Entschädigung festgelegt wird“. Sklaven hatten kein Menschenrecht, sich selbst von ihren verbrecherischen Sklavenhaltern zu befreien. Sie hatten gemäß den „Menschenrechten“ ihrer Eigentümer auch kein Menschenrecht auf Entschädigung für das an ihnen begangene Verbrechen.
Die Sklavenhalter der Südstaaten wurden mit der rechtsstaatlichen Anerkennung von Rassentrennung und umfassender Unterdrückung der ehemaligen Sklaven und ihrer Nachkommen noch über 100 Jahre lang „entschädigt“, bis der „illegale“ Widerstand der Schwarzen dem zumindest rechtlich ein Ende setzte. Und diese barbarische Vergangenheit ist nach wie vor lebendig. Der Kapitalismus, der sich durch jahrhundertelang offene Sklaverei skrupellos bereicherte, existiert in moderneren Formen weiter. Ausgerechnet die Nachfolger der größten Sklavenhalternation der Neuzeit spielen sich dabei heute als die berufenen Kämpfer für Menschenrechte in der ganzen Welt auf und verwandeln ganze Länder in Schutthaufen, wenn sie sich dem Einfluss beispielsweise der USA zu stark entziehen. Versklavung im Namen von Freiheit und Menschenrecht ist also bis heute aktuell. Der Schoß, aus dem die Sklaverei kroch, ist auch heute noch fruchtbar.

Danke für das Gespräch, Herr Roth; jetzt kann ich Ihre Gedanken zur „Ungerechtigkeit der Gerechtigkeit“ noch ein wenig besser nachvollziehen als bisher. Danke auch hierfür.

Rainer Roth, geboren 1944, war Professor für Sozialwissenschaft an der Fachhochschule Frankfurt und ist Vorsitzender von Er engagiert sich im Rhein-Main-Bündnis gegen Sozialabbau und Billiglöhne.

Dieser Text erschien zuerst auf den "NachDenkSeiten - die kritische Website". Die Verwertung durch uns erfolgt im Rahmen der Creative Commons Lizenz 2.0 Non-Commercial, unter welcher er publiziert wurde.

31. März 2016
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